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Zweiter Weltkrieg Waldheim-Affäre

„Überproportional viele KZ-Kommandanten kamen aus Österreich“

Trotz seiner NS-Verstrickungen wurde Kurt Waldheim 1986 Bundespräsident von Österreich. Der Fall beendete den Mythos des Landes, „erstes Opfer Hitlers“ und ohne Mitschuld gewesen zu sein.
Kurt Waldheim (2. v. l.) mit Offizieren während des Zweiten Weltkriegs – Szene aus „Waldheims Walzer“ Kurt Waldheim (2. v. l.) mit Offizieren während des Zweiten Weltkriegs – Szene aus „Waldheims Walzer“
Kurt Waldheim (2. v. l.) mit Offizieren während des Zweiten Weltkriegs – Szene aus der Arte-Dokumentation "Waldheims Walzer"
Quelle: picture alliance / Everett Colle

Die Stimme von Kurt Waldheim reist noch immer durchs All – gespeichert auf den Golden Records, den Datenplatten für die intergalaktische Mission der Voyager-Raumsonden. „Im Namen der Völker“ entsandte der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen 1977 seine universelle Grußbotschaft „auf der Suche nur nach Frieden und Freundschaft“.

Zehn Jahre später, während die Audio-Nachricht unterwegs in die Unendlichkeit war, verengte sich Waldheims Radius auf der Erde beträchtlich. Gebrandmarkt als „mutmaßlicher Kriegsverbrecher“, wurde der inzwischen zum österreichischen Bundespräsidenten gewählte Politiker 1987 von den USA faktisch mit einem Einreiseverbot belegt. Auch viele andere Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, mieden ihn fortan konsequent.

Inaugurational ceremony for Dr. Kurt Waldheim, who was sworn in today as new federal President of Austria. Picture: Dr. Waldheim at the formal oath-taking in front of the assembly of both houses of parliament in Vienna on 08.07.1986. - 19860708_PD0032 |
Kurt Waldheim (1918-2007) bei seiner Vereidigung zum österreichischen Bundespräsidenten im Juli 1986
Quelle: picture alliance / Robert Jäger

Es war ein beispielloser Vorgang zwischen westlichen Demokratien und ein Sockelsturz ins Bodenlose. Auslöser für den politischen Skandal und den internationalen Bann gegen Kurt Waldheim waren Berichte über seine Rolle in der NS-Diktatur sowie als Wehrmachtsoffizier im Zweiten Weltkrieg im Vorfeld der österreichischen Präsidentschaftswahlen 1986.

Zunächst hatte die österreichische Zeitschrift „Profil“ Dokumente veröffentlicht, aus denen hervorging, dass Waldheim nach Hitlers „Anschluss“ Österreichs ans Dritte Reich im März 1938 Mitglied in NS-Organisationen war. Kurz darauf präsentierte der Jüdische Weltkongress in New York Belege dafür, dass Waldheim mindestens nähere Kenntnisse von Partisanen-Exekutionen im damaligen Jugoslawien sowie von Juden-Deportationen in Griechenland 1943 gehabt haben musste.

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Waldheim selbst bestritt jegliche Mitwisser- und Mittäterschaft. Bei der Wehrmacht habe er lediglich „seine Pflicht erfüllt, so wie Hunderttausende andere Österreicher auch“. Und irgendwelche Mitgliedschaften seien im Zweifel von Verwandten ohne sein Wissen eingetragen worden. Als Soldat sei er früh verwundet worden und habe sich während der weiteren Kriegsjahre seinem Jurastudium in Wien gewidmet. Immer neue Enthüllungen tat Waldheim als „Verleumdungskampagnen“ ab.

Angesichts der Verschleierungstaktik des Präsidentschaftskandidaten der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ätzte der damalige Bundeskanzler der Alpenrepublik, Fred Sinowatz (SPÖ), im ORF-Fernsehen: „Wir nehmen also zur Kenntnis, dass er nicht bei der SA war, sondern nur sein Pferd bei der SA gewesen ist.“

Konsequent trat Sinowatz am Tag nach Waldheims Wahl zum Staatsoberhaupt zurück. Mit der Parole „Jetzt erst recht!“ und einer Wagenburgmentalität hatte der ÖVP-Mann gesiegt – gegen die Proteste vor allem Jüngerer. Auf deren Vorwürfe der österreichischen Mitschuld an NS-Verbrechen reagierten Waldheims Anhänger mit Diffamierungen und unverhohlenem Antisemitismus. Bis heute gilt die „Waldheim-Affäre“ als Zäsur im Land.

Als „Vulkanausbruch“ bezeichnete die Schriftstellerin und Journalistin Eva Menasse die Ereignisse von 1986. Durch sie seien die Nazi-Verstrickungen des Landes „erst richtig hochgekommen. Die Alten wurden noch mal damit konfrontiert und die Jungen waren fassungslos über all das, was unter den Teppich gekehrt worden war“.

27.09.2019, Berlin: Eva Menasse, österreichische Autorin und Journalistin, hält bei der Verleihung des August-Bebel-Preis im Willy-Brandt-Haus die Laudatio auf die Preisträgerin Malu Dreyer, kommissarische SPD-Vorsitzende und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Die August-Bebel-Stiftung wurde 2010 von Günter Grass gegründet und ehrt Menschen, die sich wie August Bebel um die soziale Bewegung in Deutschland verdient gemacht haben. Foto: Christoph Soeder/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ | Verwendung weltweit
"Wie war es möglich": Eva Menasse (Jg. 1970), österreichische Autorin
Quelle: picture alliance/dpa

Für die Autorin, die die Affäre literarisch im Familienroman „Vienna“ (2005) verarbeitete, markiert die Zeit „das Einsetzen meines politischen Bewusstseins“. Damals habe sie es gehasst, rückblickend aber sei die gewonnene Wahl wichtig gewesen, „sonst hätte es diese kathartische Wirkung nicht gegeben“. Die Haltung der Gesellschaft und der offiziellen Politik habe sich danach radikal gewandelt. Die Österreicher hätten die Überzeugung abgelegt, „erstes Opfer Hitlers“ gewesen zu sein.

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„Es gibt heute niemanden mehr aus der gesellschaftlichen Mitte, der bestreiten würde, dass Österreicher Täter waren“, sagte Eva Menasse dem „Arte-Magazin“. Sie seien sogar überproportional im NS-System – etwa unter KZ-Kommandanten – vertreten gewesen. Mit Blick auf Kurt Waldheim stellt sich Eva Menasse eine ganz andere Frage: „Wie ist es möglich, dass dieser Mann zehn Jahre lang UN-Generalsekretär war?“

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Arte Magazin
Aus dem aktuellen "Arte Magazin"
Quelle: Arte Magazin

Dieser Artikel wurde erstmals im Juni 2020 veröffentlicht.

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