Kundenrezension aus Deutschland 🇩🇪 am 27. Februar 2013
"Von der SED und ihrem wichtigsten Machtinstrument, der Staatssicherheit, wird man vielleicht schon bald nicht mehr so viel sprechen, aber das, was beide in den Seelen der Menschen angerichtet haben, wird noch lange fortwirken."
Wir leben im Jahr 23 nach dem Fall der Mauer und nach dem Kollabieren des menschenverachtenden Systems, daß sich zynisch als Friedensstaat ausgab, daß Stacheldraht und Selbstschussanlagen, totale Überwachung, Strafandrohung und stringent vorgegebene Meinungen und hetzerische Verachtung aller Andersdenkender und sinnsuchend, pluralistisch Denkender brauchte, um seine Bewohner zum Bleiben in diesem Paradies aller bisher gekannten Staatsformen zu motivieren.
23 Jahre sind eine lange Zeit, 22 Jahre ist es her, daß Joachim Gauck dieses Buch veröffentlichte, aus dem das eingangs zitierte Wort stammt. Seine Prognose war richtig. Es wirkt noch fort und auch wenn ich mich hier nun nicht zur Prophetie aufschwingen und ein Ende des Fortwirkens dessen, was dieses Verbrecher-System in den Seelen angerichtet und im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert und an Narben hinterlassen hat, datieren will, besteht einstweilen kein Grund zur Annahme, daß dieses Ende schon sehr bald in Sichtweite tritt. Wahrscheinlich hatten jene ganz recht, die bereits 1990 bemerkten, daß die gesellschaftlichen Folgewirkungen über einen längeren Zeitraum andauern werden, als die DDR überhaupt existiert hat.
Worum geht es in diesem Buch, was war die Motivation es zu schreiben?
Gauck war mit Wirkung zum 03.10.1990, also dem Tag der deutschen Einheit, zum >Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR< ernannt worden und leitete somit eine Großbehörde, deren Name noch um einiges weniger merkbar war, als der Titel ihres Leiters, so daß die Behörde umgangssprachlich sehr rasch zur Gauck-Behörde ernannt wurde. Um der Öffentlichkeit ein erstes Bild des Ausmaßes der archivierten Akten zu liefern und auch um für gesetzliche Notwendigkeiten zu werben, die damals dringend umgesetzt werden mussten, damit die Behörde sinnvoll und effizient arbeiten konnte und um etwaigen Verjährungen entgegen zu wirken, fasste er hier alles wesentliche in drei Kapiteln zusammen. 1) Die Opfer 2) Die Täter 3) Die Erben.
Zur grundsätzlichen Qualität dieses Essays, will ich aus dem Rezensions-Artikel vom 30.08.2010 von Dr. Reinhart Clemens zitieren: "Das Buch ist äußerst lesenswert wegen der skizzierten, sachlich und gut geordneten sowie sprachlich schön und präzise dargebotenen Inhalte." Das trifft es absolut auf den Punkt, das muss ich nicht neu formulieren.
Detailliert wird das Ausmaß aufgezeigt, die das Ministerium für Staatssicherheit (so der offizielle Name dieses unwürdigen Vereins) zum Zeitpunkt der Implosion angenommen hatte: über 100.000 aktive Mitarbeiter (die meisten davon inoffiziell, also verdeckt und geheim) auf gerade mal 16 Mio. Einwohner (das waren notabene mehr Mitarbeiter, als die vergleichbare Gestapo unter Adolf dem Wahnsinnigen auf damals 60 Mio. Einwohner in ganz Deutschland angesetzt hatte!), über 180 Kilometer gesammelte Akten (ein Meter entspricht etwa 10.000 Seiten)! Dieses System war nicht nur unmenschlich krank und mit unerträglicher Arroganz von der Überzeugung seiner eigenen Heilsbringung durchtränkt, es war zudem vollkommen paranoid und voller Argwohn gegen das eigene Volk. Anders ist dieser monströse Überwachungsapparat von einschüchternder deutscher Gründlichkeit nicht erklärbar. Es gab innerhalb des Bespitzelungsapparates sogar etwa 5000 Elite-Spitzel, die zur Aufgabe hatten, punktuell die eigenen Leute zu überwachen! Ein Spitzel bespitzelt also einen Spitzel, ob der auch richtig spitzelt. Grotesk! Eigentlich wäre es einfach nur lächerlich, wenn es nicht so viele Opfer dieses vertrackten Wahnsinns gegeben hätte.
Gauck klagt nicht an, er erklärt. Es geht um Aufklärung, um das Recht der Opfer zu erfahren, wer was warum gegen sie unternahm, und es geht um Vergangenheitsbewältigung - nicht um blindwütige Schuldzuweisung, schon gar nicht um Rache, aber um das Einfordern von Verantwortung! Und nicht zuletzt, um das Recht eines jeden selbst zu entscheiden, ob er seinen Peinigern verzeiht oder im rechtsstaatlichen Rahmen Anklage erhebt. All das wurde aber nur möglich, weil der gesetzliche Rahmen geschaffen wurde, der es der Behörde erlaubte, die Archive aufzuarbeiten und den Opfern Einblick zu gewähren. Dies war zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches keineswegs gesichert. Insofern war dieses Buch ein beherzter Fürsprech, eine durchweg schlüssige Argumentation dafür die Akten nicht ungeöffnet im Bundesarchiv verschwinden zu lassen, um sie später oder gar nicht, oder wenn nur unter komplettem Ausschluss der Betroffenen zu sichten.
Bei aller Wut und Empörung und in gewisser weise auch einer Form von physisch empfundenem Ekel, über dieses Regime der totalen Menschenverachtung, was sicher auch ganz klar zwischen meinen Zeilen hier lesbar ist, erschien mir dennoch als besonderer Wert des Buches, daß Joachim Gauck gezielt darauf hinwies und erläuterte, daß es in nicht wenigen Fällen (wenn auch gewiss nicht der Mehrzahl!) zur Vermischung von Täter- und Opfer-Rolle kam. Weil die Unmenschlichkeits-Maschinerie mit perfidesten Methoden durchaus auch Menschen zur Mit- und Zuarbeit zwang oder auch verführte. Er mahnt unmissverständlich, auch mit dem Wissen aus den Akten, nicht allzu leichtfertig mit Vorwürfen und absoluten Schuldzuweisungen zu sein.
Das Buch wird auch in nochmal 22 Jahren lesenswert sein, allein schon aus historischen Gründen, stellt es doch eine Momentaufnahme aus der Zeit der Ereignisse, des Bewusstwerdens, des Aufarbeitens dar. Über die Stasi und ihre scheußlichen Methoden, ihr unfassbares Ausmaß wurde (und wird) im Nachhinein noch viel geschrieben (werden), vieles wohl auch weitreichender und tiefschürfender und noch faktenreicher. Aber in jede später angefertigte Schrift, mischt sich auch das Wissen, was erst später erlangt wurde. Es ist immer auch Rückschau und Beurteilung aus einer späteren Perspektive. Gerade deshalb sind solche Dokumentationen aus der Ist-Situation heraus von bleibendem Wert.