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Film „Licorice Pizza“

Eine ultimative Hommage an Südkalifornien

Chefkorrespondent Feuilleton
Reifeprüfung: Alana Haim und Cooper Hoffman in „Licorice Pizza“ Reifeprüfung: Alana Haim und Cooper Hoffman in „Licorice Pizza“
Reifeprüfung: Alana Haim und Cooper Hoffman in „Licorice Pizza“
Quelle: © 2021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved
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Nach „Boogie Nights“ und „Magnolia“ kehrt Regisseur Paul Thomas Anderson ins San Fernando Valley zurück. Mit „Licorice Pizza“ erweist er sich endgültig als postmoderner Heimatfilmer. Eine Frage stellt sich allerdings: Wie um Himmels Willen schmeckt Lakritzpizza?

Die Geschichte um die Entstehung des Films ist leicht creepy: Paarundfünfzigjähriger Regisseur ruft nachts junge Frau an, um sie zu fragen, ob sie nicht in seinem Film mitspielen will. Das Script hat er ihr gerade geschickt. Die weibliche Hauptfigur im Film trägt den Namen der jungen Frau, Alana. Die beiden kennen sich, seit der Regisseur die Musik, die Alana mit ihren beiden Schwestern macht, nicht mehr aus dem Kopf kriegte, dann feststellte, dass sie in derselben Gegend lebten, dem San Fernando Valley am Rande von Los Angeles, und der Band seine Dienste anbot; er könne ja das nächste Musikvideo filmen, auch ohne Budget, obwohl er längst weltberühmt war.

Daraus wurden dann viele Musikvideos, die jungen Frauen und der Regisseur freundeten sich an. Er lernte auch ihre Eltern kennen und fand heraus, dass die Mutter früher seine Grundschullehrerin im Kunstunterricht war, eine in seiner Erinnerung wunderschöne Frau mit wallendem Haar, die unablässig sang und in die er schwer verliebt war.

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In dem Film, für den er mittels des nächtlichen Telefonanrufs die junge Alana gewinnen will, geht es um die unwahrscheinliche Liebe zwischen der Mittzwanzigerin Alana und dem fünfzehnjährigen Gary, der mit Nachnamen so heißt wie der kitschige Feiertag der Liebe: Valentine. Immerhin ist der kleine Gary kein werdender Regisseur, sondern nur ein drittklassiger Kinderstar und bald windiger Unternehmer im Wasserbetten- und Flippermaschinen-Business, aber so richtig beruhigend klingt das nicht.

Paul Thomas Anderson am Set von „Punch Drunk Love“ (2002)
Paul Thomas Anderson am Set von „Punch Drunk Love“ (2002)
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Pi/Ronald Grant Archive / Mary Evan

Wenn man zudem verrät, dass der Regisseur Paul Thomas Anderson heißt und die Sängerin, die noch nie geschauspielert hat, Alana Haim – aus der gleichnamigen Band –, hat man dann die Zutaten für den ersten großen MeToo-Skandal des Jahres 2022? Die Antwort lautet: eher nicht, bitte weitergehen.

„Licorice Pizza“, so der Titel des Films, steht auf charmanteste Weise quer zu unserer verklemmten Ära vorschneller sexueller Verdächtigungen. Die Handlung spielt in den frühen Siebzigerjahren genau dort, wo Paul und Alana aufwuchsen, wenn auch 25 Jahre voneinander getrennt – eben im Valley, jenem suburbanen Talkessel zwischen den Bergen von San Gabriel und Santa Monica, bekannt vor allem aus „Chinatown“, wo es um eine Verschwörung geht, dem Tal das Wasser abzugraben.

Anderson ist zwar längst einer der großen Kino-Autoren der Gegenwart, mit zum Teil sperrigen und auf faszinierende Weise schwergängigen Meisterwerken wie „The Master“ oder „There Will Be Blood“, in denen zerquälte Method Actors wie Philip Seymour Hoffman und Daniel Day-Lewis ihre Psychospielchen treiben. Angefangen aber hat seine Karriere dort, wo er aufgewachsen ist, im San Fernando Valley. Und er ist immer wieder dorthin zurückgekehrt, gewissermaßen als postmoderner Heimatfilmer.

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In „Magnolia“ ließ er 1999 Frösche regnen. Inmitten des Amphibiensturms: ein zerknirschter Tom Cruise. Zwei Jahre zuvor hatte Anderson im längst zum Klassiker gereiften „Boogie Nights“ Aufstieg und Fall eines Pornodarstellers während des sogenannten Golden Age of Porn Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger porträtiert. Im unvergessenen Cast: Mark Wahlberg als Dirk Diggler, daneben Burt Reynolds, Julianne Moore und Willam H. Macy. Und die von Thomas Pynchon inspirierte Stoner-Komödie „Inherent Vice“ von 2014 mit Joaquin Phoenix, Josh Brolin und Owen Wilson spielt nur ein paar Kilometer weiter, am Manhattan Beach von Los Angeles (auch wenn der im Film Gordita Beach heißt).

Dann kam 2017 „Der seidene Faden“, wieder mit Daniel Day-Lewis und der Deutschen Vicky Krieps. Die Dreharbeiten fanden in London statt. In Interviews hat Anderson betont, wie groß sein Heimweh nach Los Angeles und vor allem dem Valley, so die Kurzform fürs San Fernando Valley, gewesen sei.

Jetzt ist er also dorthin zurückgekehrt, nur die Ära ist mal wieder was Neues. Selbst für die eigene Kindheit sind die frühen Siebziger zu früh; Anderson wurde 1970 geboren. Mit „Licorice Pizza“ fügt er also seinem geografischen Dauerprojekt eine weitere Zeitebene hinzu, als würde er im Laufe seiner Filmografie immer wieder zum selben Baum zurückkehren und nach und nach in seine Ringe hineinzoomen.

Dinner mit einem Minderjährigen

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Der Sommer strahlt südkalifornisch mild. Selbst die Nächte leuchten in verzücktem Kodachrome, wie von Paul Simon besungen. Gary trifft Alana auf dem Weg zum Jahrgangsfotoshoot. Sie assistiert dem Fotografen, der ihr zum Beweis, dass dies ein Historienfilm ist, auf den Hintern haut. Gary ist seiner Zeit voraus. Nicht nur in seiner romantischen Sensibilität, sondern auch in seiner Frühreife. Er drängt auf ein Date und bekommt es auch.

Warum lässt sich die Mittzwanzigerin auf ein Dinner mit dem Minderjährigen ein? Sie scheint ungläubig amüsiert über seine Hartnäckigkeit. Und zu Hause bei den halbwegs fortschrittlichen, aber auch traditionell jüdischen Eltern und den vielen Geschwistern werden die Abende lang.

Ein Herz und eine Seele: Alana Haim und Cooper Hoffman
Ein Herz und eine Seele: Alana Haim und Cooper Hoffman
Quelle: © 2021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved

Außerdem hat sie keine Absichten, mit dem enervierend gut gelaunten und maßlos selbstbewussten Gary etwas anzufangen. Unerfahren in der Liebe, beschränkt er sich darauf, sie anzustarren. Womöglich ahnt er, dass sein Glück nicht mit rechten Dingen zugehen kann, vielleicht nur die Kopfgeburt eines Regisseurs ist, der vielleicht bloß zu oft „Die Reifeprüfung“ gesehen hat (die übrigens auch in Südkalifornien spielt, sechs Jahre vor der Handlung von „Licorice Pizza“).

Um diese unwahrscheinliche Beziehung, die allmählich intensiver wird, kreisen die Episoden der Handlung wie Planeten um ein Zentralgestirn. Den langen und allmählichen Pfad zur Liebe säumen spaßige Cameos von Bradley Cooper, Tom Waits und Sean Penn. Sie spielen Hollywoodstars, Promifriseure und Restaurantbesitzer. Die meisten von ihnen gab es wirklich.

Für seine Interpretation von Jon Peters, dem Mann von Barbra Streisand, hätte Cooper eine Oscarnominierung verdient. Er bringt es fertig, im Tennisoutfit mit aufgeblasenen Backen gleichzeitig Gary mit dem Tod zu drohen, falls beim Wasserbettaufbau in den Hollywood Hills etwas schiefgeht, und mit Alana zu flirten. Gary lässt die doppelte Demütigung nicht auf sich sitzen. Kaum ist Peters mit dem Ferrari fortgeflitzt, zieht Gary den Schlauch aus dem Wasserbett. Später wird auch der Sportwagen zerdeppert. Alana steuert derweil einen 16-Tonner die Serpentinen hinab, teilweise rückwärts. Der Sprit ist ausgegangen.

Dem Frisör ist nichts zu schwör: Bradley Cooper neben Cooper Hoffman und Alana Haim in „Licorice Pizza“
Dem Frisör ist nichts zu schwör: Bradley Cooper neben Cooper Hoffman und Alana Haim in „Licorice Pizza“
Quelle: © 2021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved

Es ist die Zeit der großen Ölkrise, an den Tankstellen herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Dummerweise bestehen Wasserbetten aus Vinyl und deshalb ebenfalls aus Öl. Bevor es richtig in Schwung kommt, ist Garys Geschäft gescheitert. Sein Optimismus ist unerschütterlich. Selbst als Alana kurzzeitig mit einem von Garys Kinderstarkollegen ausgeht, bleibt er tapfer. Weil sich der andere beim Thema Beschneidung verhaspelt, ist die Romanze bald Geschichte.

Keine klassische Schönheit

Man merkt schon, die Handlung will nicht unbedingt irgendwohin. Wie ihr Regisseur ist sie einfach ganz gern zu Hause im Valley. Sie zeigt mehr oder weniger zufällige Begebenheiten zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Gebiet, das der Film heraufzubeschwören sucht. So erklärt sich auch der Titel: „Licorice Pizza“ war der Name einer damals verbreiteten Kette von Plattenläden. Michael Baumans Kamera zeigt keinen davon. Aber irgendwo um die Ecke werden sie wohl sein.

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Paul Thomas Anderson erlaubt sich einen Privatscherz, der zugleich das kartografische Prinzip des Films erläutert. Ähnlich hatte der große Schriftsteller Witold Gombrowicz seinen Büchern Titel gegeben, die den Geschichten äußerlich waren. „Bacacay“ hieß etwa eine Sammlung fantastischer Kurzgeschichten – nach der Straße, in der der Autor damals wohnte.

Pinnball Wizard: Cooper Hoffman als Gary Valentine
Pinnball Wizard: Cooper Hoffman als Gary Valentine
Quelle: © 2021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved

Gary wird gespielt von Cooper Hoffman, dem Sohn des früh verstorbenen Philip Seymour Hoffman. Wenn man es weiß, erkennt man den Papa sofort – eine ähnliche Kraft und Zuversicht in einem aufschwemmenden Körper. Ein begnadeter Schauspieler könnte aus ihm auch noch werden. Sein Gary ist unterdessen ein wenig facettenlos; das liegt aber an der Rolle. Hoffman trägt sie mühelos.

Alana Haim brilliert derweil mit umwerfender Natürlichkeit. Anders als die meisten jungen Frauen in Hollywood ist sie keine klassische Schönheit. Ihr Gesicht gibt der Geschichte, die ins Märchenhafte driftet, den nötigen Realismus. Auf lakonische Weise schlagfertig, entgeht sie der Gefahr, Projektionsfläche von Regiesentimentalitäten zu bleiben. In ihr, ebenfalls dort geboren, lebt das Valley. Wenn sie durch die Straßen rennt, auf der Suche nach Gary, gerät sie, anders als er, nie außer Atem.

„Licorice Pizza“ ist ein kleiner großer Film, eine Erinnerung, dass Hollywood selten besser ist, als wenn es die endlosen Boulevards zu Tode recycelter Stoffe verlässt und sich in vermeintlichen Nebenstraßen aus originären Drehbüchern verirrt. Vor zwei Jahren hat Tarantino seine Version einer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat verfilmt. Paul Thomas Anderson verfügt über ein anders gelagertes Temperament, viel sanfter und friedfertiger, aber genauso zärtlich. So ist „Licorice Pizza“ eine Art Gegenstück, besser gesagt eine Erweiterung von „Once Upon a Time … in Hollywood“ – ohne Machismo und Manson, dafür mit breitem Lächeln und natürlich derselben Sonne.

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