Unerwartet kam der Anschlag wahrlich nicht. Umso erstaunlicher ist es, dass er dennoch gelang. Denn das Opfer war so gut gewarnt, wie es nur ging.
Dennoch konnte sich der Mörder Ramón Mercader am 20. August 1940 Zutritt in Leo Trotzkis erst jüngst festungsartig ausgebautes Haus in einem Vorort von Mexiko-Stadt verschaffen – dank seiner Raffinesse und einer schier unglaublichen Geduld. Deshalb nennt George Fetherling, kanadischer Schriftsteller und Experte für politische Anschläge, den gebürtigen Spanier Mercader „einen der cleversten und professionellsten Attentäter“ aller Zeiten.
Leo Trotzki, unter Lenin der zweite Mann der Bolschewiki, wichtigster Organisator der Roten Armee und Kritiker von Josef Stalin, war nach dem Tod des Revolutionsführers von diesem Schritt für Schritt aus der Führung der jungen Sowjetunion verdrängt worden. Begonnen hatte es mit einer Kampagne in der Parteizeitung „Prawda“. 1925 hatte Trotzki das Volkskommissariat für Militär aufgeben müssen, im Jahr darauf war er aus dem Politbüro der KPdSU und Ende 1927 aus der Partei selbst ausgeschlossen.
Erst wurde er nach Sibirien verbannt, dann in die Türkei ausgewiesen und lebte fortan auf der Flucht. Seit 1932 hetzte Stalin Mörder auf ihn, erst in seinem Exil in Frankreich, dann in Oslo, schließlich ab 1937 in Mexiko-Stadt. Hier gab es am 24. Mai 1940 einen Überfall auf sein Haus, ausgeführt von mehreren als Polizisten verkleideten Agenten.
Das Kalkül hinter diesem dilettantischen, dennoch beinahe erfolgreichen Angriff ist bis heute nicht ganz klar. Die Täter feuerten mit Thompson-Maschinenpistolen, damals bekannt als bevorzugte Waffen der amerikanischen Mafia, mehr als 300 Schuss aus dem Innenhof des Hauses durch die Fenster. Trotzki warf sich unter ein Bett, um sich zu verstecken.
Einer der Angreifer schaffte es möglicherweise sogar ins Schlafzimmer – dafür sprechen jedenfalls Einschüsse in der Matratze. Als die Täter flüchteten, warf einer von ihnen eine Handgranate ins Haus, die detonierte und ein Feuer verursachte. Drei weitere Sprengkörper explodierten nicht.
Angesichts von Trotzkis nahezu unverletztem Überleben kamen Spekulationen auf, es habe sich um einen inszenierten Angriff gehandelt, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Trotzki zu lenken. In Wirklichkeit war einer der Leibwächter, der 25-jährige Amerikaner Robert Sheldon Harte, ein bezahlter Agent des stalinistischen Geheimdienstes NKWD. Er hatte den Angreifern die Tür zum Hof geöffnet und war nach der Attacke mit ihnen verschwunden; wenig später wurde seine Leiche gefunden.
Trotzki war spätestens jetzt klar, dass sein Feind im Kreml kein Mittel scheuen würde, um ihn zu beseitigen. Er ergriff Gegenmaßnahmen, mit Unterstützung der antistalinistisch und trotzkistisch eingestellten Socialist Workers Party der USA, einer 1938 gegründeten kommunistischen Splittergruppe.
Die Wachen im Haus wurden verstärkt und schwerer bewaffnet. Man baute kugelsichere Türen ein und Fenster mit Stahlplatten; ein Hofgebäude wurde zum Rettungsraum umgestaltet. Die Eingangstür wurde durch eine Art Schleuse ersetzt, ausgestattet mit elektrischen Schaltern, die nur von innen bedient werden konnten. Drei gemauerte Türme mit Schießscharten dominierten fortan nicht nur die Terrasse, sondern auch die umliegende Nachbarschaft. Außerdem gab es Stacheldrahtverhau und ein Netz, das geworfene Bomben abhalten sollte.
Von außen würden nun Angreifer nach menschlichem Ermessen keine Attacke mehr auf Trotzkis Leben starten können. Doch der nächste Angreifer mussten die neuen Sperren gar nicht überwinden – er wurde freiwillig eingelassen.
NKWD-Chef Lawrenti Beria hatte im März 1939 den konkreten Mordauftrag erteilt; die Aktion leitete Pawel A. Sudoplatow, der stellvertretende Direktor der Auslandsabteilung des Geheimdienstes. Vor Ort trug Leonid Eitingon die Verantwortung, der für den sowjetischen Geheimdienst im Spanischen Bürgerkrieg Abweichler in den eigenen Reihen gejagt hatte. Nach dem gescheiterten Angriff am 24. Mai 1940 griff er auf seinen Plan B zurück, in dem der Sohn seiner Lebensgefährtin Caridad Ramon die entscheidende Rolle spielte.
Der 1913 oder 1914 in Barcelona geborene spanische Kommunist hatte schon seit 1938 systematisch Kontakte zu Trotzkis Umgebung aufgebaut. Unter der falschen Identität „Jacques Mornard“, angeblich ein Geschäftsmann aus Belgien, hatte er sich mit der amerikanischen Trotzkistin Sylvia Ageloff angefreundet. Mit einem gefälschten kanadischen Pass folgte er ihr als „Franc Jacson“ in die USA, wo sie heirateten und in New York lebten.
Seinem Ziel nahe kam Ramón Mercader erst, als Trotzki seine Frau bat, als Sekretärin nach Mexiko-Stadt zu kommen. Monatelang fuhr er immer wieder zu Trotzkis Haus in der Avenida Río Churubusco 410, um sie abzuholen. Aber er betrat das Haus zunächst nicht; angeblich interessierte er sich nicht für Politik.
Mit der Zeit schöpfte Sylvia Ageloff Verdacht an der Identität ihres Mannes, den Mercader jedoch mit Eitingons Hilfe zerstreuen konnte. Nun wurde es Trotzki unangenehm, dass der Mann seiner engen Mitarbeiterin nie eintrat, und bat ihn persönlich ins Haus. Insgesamt etwa zehn Mal betrat der NKWD-Agent es, doch bald beschlich auch das ausersehene Opfer ein schlechtes Gefühl; er fand Mercader nicht „authentisch“.
Nun täuschte der Auftragsmörder auf einmal ein Interesse an Trotzkis politischen Ideen vor. Er wolle einen Artikel verfassen und bat den damals ohne Zweifel weltweit prominentesten Kommunisten um seine Unterstützung. Trotzki konnte nicht widerstehen.
Am 20. August 1940 kam „Mornard“ alias „Jacson“ mit dem getippten Entwurf eines Artikels ins Haus. Er hatte trotz der großen Hitze einen Mantel bei sich, in dem ein Dolch, eine Pistole und ein Eispickel verborgen waren. Entgegen der eigentlich geltenden Regeln war Mercader nicht durchsucht worden und hielt sich ohne Wache mit Trotzki in dessen Arbeitszimmer auf.
Als sein Ziel den Entwurf zu lesen begann, stieß der Attentäter ihm den Pickel in den Schädel, verletzte ihn aber „nur“ erheblich. Trotzki schrie auf, die Wachen stürmten herein und wollten den Attentäter töten, doch der 60-jährige Verletzte hielt sie ab: „Er hat eine Geschichte zu erzählen“, soll er gesagt haben.
Trotzki kam in das nächste Krankenhaus, wo er einen Tag später an seiner Kopfverletzung starb. Mercader, der sich immer noch als „Jacques Mornard“ ausgab, wurde festgenommen und zu 20 Jahren Haft verurteilt. Sein direkter Vorgesetzter Eitingon wollte ihn 1944 aus dem mexikanischen Gefängnis befreien. Erst 1953 wurde Mercaders wahre Identität bekannt. Zwei Wochen vor Ablauf seiner Haftstrafe wurde er Anfang Mai 1960 entlassen und reiste nach Moskau aus. Die restlichen 18 Jahre seines Lebens verbrachte er zum Großteil im kommunistischen Kuba.
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