Kader Attia in der Berlinischen Galerie: „Höchste Zeit, die Welt noch zu reparieren“

Kader Attia in der Berlinischen Galerie: „Höchste Zeit, die Welt noch zu reparieren“

Der Franko-Algerier Kader Attia trifft in der Berlinischen Galerie auf die Dadaistin Hannah Höch und erhebt Klage gegen Krieg und die Folgen des Kolonialismus.

Der französisch-algerische Künstler Kader Attia in der Berlinischen Galerie vor Holzskulpturen seiner martialischen Antikriegsinstallation „J’accuse“.
Der französisch-algerische Künstler Kader Attia in der Berlinischen Galerie vor Holzskulpturen seiner martialischen Antikriegsinstallation „J’accuse“.Berlinische Galerie/Harry Schnitger

Ein „Fest fürs Auge“ solle sie sein, so verlangte der Franzose Eugène Delacroix es von der Malerei – und kam dem mit seiner Marianne mit Jakobinermütze auf Pariser Barrikaden oder den erotischen Szenen im Harem von Algier nach. Ein solches Fest sind diese aus 100 Jahre altem afrikanischen Hartholz geschnittenen 18 Köpfe wahrlich nicht.

Sie stehen in der Berlinischen Galerie auf hohen Sockeltischen, die Beine aus gerostetem Moniereisen. Emotional packen diese Skulpturen umso mehr. So sehr, dass „coole“ Kritiker von „Überwältigungsbombast“ schreiben.

Konsterniert starren Besucher auf entstellte Menschenbilder. Und die starren zurück. Der Anblick ist schwer zu ertragen: Von splitternden Sprenggranaten zerschossene, mit Bajonetten zerfetzte und grob von Feldschern (Militär-Wundärzten) zusammengeflickte Gesichter von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Es sind „gueules cassées“, zumeist afrikanische Gesichter aus französischen Kolonien, aus Maghreb-Ländern wie Algerien, von wo die Vorfahren des Künstlers Kader Attia, geboren 1970 im Pariser Vorort Dugny, stammen.

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Attia hat diese verstörenden Skulpturen als stumme Zeugen des Grauens (nach dokumentarischen Kriegsfotos geschnitzt) ins Berliner Landesmuseum gestellt. Er setzt jenen 440.000 nach 1914 meist zwangsrekrutierten jungen Afrikanern der französischen „régiments mixtes“ ein Denkmal. Direkt vor die Wand, auf der Abel Gances  Antikriegsfilm „J’accuse“ (Ich klage an) von 1938 flimmert, in dem sich die Toten der Schlachtfelder surreal aus den Gräbern erheben. Zwischen den Köpfen stehen aus Baumästen geschnittene Krücken an Bein- und Armstümpfen. Schon Otto Dix und George Grosz malten solch krasse Motive als Mahnungen. Dafür wurde ihre Kunst von den Nazis als „entartet“ stigmatisiert.

Ausschnitt aus der Skulpturen-Installation „J’accuse“ im Landesmuseum Berlinische Galerie
Ausschnitt aus der Skulpturen-Installation „J’accuse“ im Landesmuseum Berlinische GalerieVG Bildkunst Bonn 2024/Kader Attia/Galerie Nagel/Draxler/Power Plant Toronto/T. Hafkenscheid

Die Menschheit hat nichts gelernt, scheinen Attias martialisch entstellte Kämpfer zu sagen. Denn es folgten seither ohne Unterlass neue Schlachtfelder. Und kein Ende in Sicht. Die Waffen sprechen, die Vernunft schweigt: Naher Osten, Ukraine, Gaza. „Geh und sieh! Halt den Anblick aus!“, sagt diese Ausstellung. Attia kann nicht anders, als uns Betrachtern diesen Anblick zuzumuten. Das ist der Krieg, seit die menschliche Zivilisation aufeinander einschlägt, einsticht, schießt. Der Mensch im Wahn seit 20.000 Jahren Zivilisation, sein ärgster Feind anstatt sein Bruder.

„J’accuse“ hat er erstmals auf der Documenta 13 gezeigt. Seither ist die Reparatur einer durch Hass und Gier verkommenen Welt sein Thema. Der Reparaturbedarf müsse, soviel Sarkasmus über menschliche Erkenntnisfähigkeit erlaubt er sich, gleich nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies gekommen sein. Der 53-jährige Franco-Algerier, Kosmopolit, Konzeptkünstler, Kurator der 12. Berlin-Biennale lehrt inzwischen an der Hamburger Kunstakademie.

Nun hat er einen Teil der Berlinischen Galerie zu einem missionarischen Ort gemacht: „Die Kunst kann uns helfen, in diesen obskuren Zeiten zu überleben“, ist seine Botschaft. War sie schon im Sommer 2022 zur Berlin Biennale, wo er in den Beiträgen von Künstlern gerade auch aus Krisengebieten Perspektiven von Gesellschaften auf ihre eigene Geschichte, Erfahrungen von Gewalt, Unterdrückung, Entbehrung und Verlust von Heimat und Identität aufzeigte. Das löste so heftige wie hilfreiche Diskurse aus. Denn Kader Attia hat ein Konzept von Reparatur der zunehmend kaputten Welt. Er sieht das freilich „als einen unendlichen Prozess, der eng mit Verlust und Verletzung, Regeneration und Wiederaneignung verbunden“ sei.

Denkwürdiger Bezug auf Berlins einzige Dada-Frau Hannah Höch

Den Prolog seiner Ausstellung bilden sieben Collagen der Dadaistin Hannah Höch: Die Serie „Aus einem ethnografischen Museum“ (1924–1934) zeigt fragmentierte Körper. Die Blätter kommen aus dem Bestand der Berlinischen Galerie und des Kupferstichkabinetts. Attia begeisterte sich an den winzigen Motiven. „In ihnen unterlief diese einzige Berliner Dada-Frau damals massenmedial verbreitete Stereotype von außereuropäischen Kulturen.“ Für ihn entwarf diese Künstlerin avantgardistisch eine künstlerische Ästhetik des „Repair“.

„Repair“, betont er, reiche weit über das eigentliche Konzept hinaus und binde es in evolutionäre Prozesse in der Natur, der Kultur, in Mythen und Geschichte ein. Knapp vier Monate vor der 12. Berlin Biennale hatte Putin die Ukraine überfallen. Damals nannte die Welt das einen Bruderkrieg. Jetzt, zwei Jahre später, herrscht große Ratlosigkeit, wie dem Töten und Zerstören ein Ende gesetzt werden könnte.

Kunst ist kein geopolitisches, kein ökonomisches, kein militärisches Machtinstrument. Sie kann nur Geist und Gefühle erschüttern, sensibilisieren. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, wenn Attia zwischen oder vor den monströsen Köpfen und Prothesen steht und wie ein Missionar das Überwinden von Gewalt predigt.

Blick in die Raum-Installation „The Object’s Interlacing“ mit Video und Skulpturen-Repliken kolonialer afrikanischer Raubkunst
Blick in die Raum-Installation „The Object’s Interlacing“ mit Video und Skulpturen-Repliken kolonialer afrikanischer RaubkunstVG Bildkunst Bonn 2024/Kader Attia/Galerie Nagel/Draxler/Power Plant Toronto/KH. Zürich/F. Candrian

Der hintere Hallenteil ist abgedunkelt. An der Wand laufen Videofilme, da sprechen und debattieren schwarze und weiße Fachleute aus Kunst und Wissenschaft über die Rückgabe geraubter Kulturgüter der Kolonialzeit. Davor stehen auf hohen Sockeltischen 22 Repliken (geschnitzt und aus dem 3D-Drucker) afrikanischer Masken, Totems und Kult-Skulpturen.

Ohne Schuldzuweisung zeigt Attia in seiner Installation „The Object’s Interlacing“ heutige Sichten auf die seit über fünf Jahrhunderten praktizierte und von den Kolonialisierten ohnmächtig erduldete Plünderung und Aneignung ihrer Kulturschätze, die seither europäische Museen zieren. „Als ästhetische oder ethnografische Objekte, das Ausbeutungssystem wird damit unsichtbar“, so Attia. Er macht deutlich, dass Restitution als Teil von „Repair“ weit über die bloße Rückgabe hinausgeht, weil die Kolonialmächte sich die Objekte einst nicht wegen ihrer kulturellen, sozialen und religiösen Bedeutung aneigneten, sondern wegen ihres marktwirtschaftlichen Werts.

Attia will „die koloniale Plünderungsmaschinerie“ sowie deren Missachtung der „lokalen Lebenskosmologie“ aufzeigen. „Wenn es heißt: Rückkehr der Objekte“, fragt ein afrikanischer Historiker in einem der Videos, „wie werden sie zurückkehren? Lediglich als Waren? Oder besitzen sie weiterhin die ursprünglichen immateriellen Qualitäten?“

J’accuse. Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, bis 19. August, Mi-Mo 10-18 Uhr