SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley: „Die totale Enthemmung macht mir Sorgen“
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SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley: „Die totale Enthemmung macht mir Sorgen“

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Nach der Attacke auf den sächsischen Europapolitiker Matthias Ecke hat eine Diskussion eingesetzt über Aggressivität im Wahlkampf. Ein Interview mit SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley.

Im Interview spricht die SPD-Spitzenpolitikerin Katharina Barley über ihre Erfahrungen und die Forderungen nach härteren Strafen für Täter, die Politiker angreifen.

Frau Barley, Sie befinden sich derzeit auf Wahlkampftour. Welche Stimmung nehmen Sie wahr an Wahlständen und an den Haustüren?

Eine ganz andere als 2019. Es herrscht ein höheres Bewusstsein dafür, was sich gerade tut in Europa und in der Welt. Die öffentlichen Veranstaltungen, die wir machen, sind krachend voll. Die Besorgnis der Menschen ist mit Händen zu greifen. Ich habe mein ganzes Leben für Demokratie, Rechtsstaat und Frieden gearbeitet. Jetzt treiben genau diese Themen die Menschen um.

Katharina Barley: „Sehr aggressive Stimmung im Netz“

Und ist die Stimmung auch aggressiver?

Die allerallermeisten Menschen sind sehr wertschätzend – auch wenn ich den Menschen zufällig begegne, im Supermarkt oder in der Bahn. Manche sagen ausdrücklich entweder, dass sie Respekt davor haben vor dem, was ich mache. Oder sie bedanken sich sogar. Aber was wir natürlich wahrnehmen, ist die sehr aggressive Stimmung im Netz. Die ist schlimmer als vor fünf Jahren. Zudem gibt es die einzelnen Aufgehetzten, die diesen Spruch von Alexander Gauland wörtlich nehmen: „Wir werden sie jagen.“

Sie sprechen von Einzelnen. Würden Sie sagen, da gibt es eine Tendenz?

Es ist eine zunehmende Enthemmung. Es hat leider immer schon Übergriffe auf Politikerinnen und Politiker wie Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble und Henriette Reker gegeben. Was sich verändert hat, ist, dass es einen Teil der Bevölkerung gibt, der sich legitimiert fühlt, so etwas zu tun. Diese rote Linie zwischen auch heftig vorgetragener Kritik und verbaler und physischer Gewalt wird nicht mehr respektiert.

Vor dem Hintergrund der Attacken auf Menschen, die Wahlplakate kleben, was eine Art Terror der Straße ist: Sind die Sicherheitsstandards bei Wahlkampfveranstaltungen erhöht worden?

Ich finde den Begriff vom Terror der Straße sehr passend, denn es geht bei den Attacken genau um das: dass die demokratischen Parteien aus dem Straßenbild verschwinden. Unsere Plakate werden flächendeckend gestohlen. Diejenigen, die das machen, wollen uns aus der Öffentlichkeit verdrängen. Seit dem Angriff auf Matthias Ecke sind bei den öffentlichen Veranstaltungen, die wir hatten, immer Polizeistreifen vorbeigekommen. Viele Wahlkämpfer sind jetzt in größeren Gruppen unterwegs und nicht mehr so spät. Aber wir können nicht neben jeden Wahlkampfstand einen Sicherheitsdienst stellen. Das wollen wir auch gar nicht. Es ist demokratisches Recht für alle Menschen in diesem Land, sich politisch zu engagieren.

„Für mich kann ich sagen, dass ich mein Verhalten nicht ändere“

Wahlplakate kleben nur tagsüber und nur in Gruppen – ist das nicht schon die Folge einer Einschüchterung?

Wir haben das in den vergangenen Jahren ja schon gesehen, dass Kommunalpolitiker sagen, sie machen das alles nicht mehr, weil sie oft bedroht werden. Daher ist derzeit geboten, solche Standardmaßnahmen zu ergreifen. Für mich kann ich sagen, dass ich mein Verhalten nicht ändere.

Katarina Barley
Die Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl: Katarina Barley. © Georg Wendt/dpa

Das heißt auch, dass Sie in die Debatten auch nicht mit einer zusätzlichen Schärfe gehen?

Ich finde die Reaktion, die wir gesehen haben, genau die richtige: dass Menschen, die mit Politik beruflich oder ehrenamtlich nichts am Hut haben, auf die Straße gehen und sagen: Stopp, das ist nicht das, was wir wollen. Das haben wir Anfang des Jahres gesehen, das sehen wir jetzt auch wieder. Und das ist gut so, denn wir haben es auch nicht mit einem rein deutschen oder temporären Problem zu tun. Und man sieht von der europäischen Ebene aus, dass die rechtsextremen Kräfte ihre Strategien bündeln und austauschen. Deshalb müssen die demokratischen Parteien auch zusammen dagegenhalten. Das passiert jetzt. Dafür bin ich dankbar.

Macht Ihnen diese von Ihnen geschilderte Entwicklung Angst?

Die totale Enthemmung in den sozialen Netzwerken macht mir Sorge. Dieser völlige Verlust an Respekt und an Anstand transportiert sich auch ins reale Leben. Was mir auch Sorge macht, ist die Beobachtung, wie diesen rechtsextremen Kräften die Tür geöffnet wird, wie sie in Regierungen angekommen sind – und das nicht, weil sie absolute Mehrheiten haben, sondern weil vor allem Konservative sie als Koalitionspartner auswählen. Da verstehe ich auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht. Als sie auf die Frage, ob sie mit Rechtspopulisten zusammenarbeiten wird, geantwortet hat, dies hänge von der künftigen Zusammensetzung des Parlaments ab, war ich schockiert.

„Die AfD lebt von der Verunsicherung, und die ist allgegenwärtig“

In Deutschland ist die große Frage, wie man am besten mit der AfD umgehen sollte. Haben Sie den Königsweg?

Den gibt es nicht. Die AfD lebt von der Verunsicherung, und die ist allgegenwärtig: Wir hatten Corona, wir haben die Kriege, wir haben den Klimawandel. Die AfD sagt dazu, dass es Gewinner und Verlierer geben wird bei all den Veränderungen. Sie verspricht, dass die, die sie wählen, zu den Gewinnern gehören werden. Sie hat kein Interesse daran, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Sie appelliert an den Instinkt, lieber sich zu retten und den anderen von der Leiter zu schubsen. Diese Methode verfängt dann leider bei einigen. Es ist aber der Zusammenhalt, der ein Land starkmacht. Dafür steht die SPD.

Hessens Innenminister Roman Poseck kann sich härtere Strafen für jene vorstellen, die Politiker angreifen. Wäre das ein Zeichen für Wehrhaftigkeit?

Der Rechtsstaat muss wehrhaft sein, und es ist richtig, Sachen auf den Prüfstand zu stellen. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass eine abschreckende Wirkung erzielt wird, wenn man Strafrahmen anhebt. Die abschreckende Wirkung liegt in der erhöhten Wahrscheinlichkeit, gefasst zu werden. Da könnte man etwas tun, auch wenn die Polizei im Wahlkampf nicht 24 Stunden Patrouille laufen kann. Es ist wichtig, unser Justizsystem noch einmal stärker zu sensibilisieren, dass auch im öffentlichen Leben Stehende wie Politiker, aber auch Polizei- und Rettungskräfte vor verbaler und physischer Gewalt stärker geschützt werden müssen. Die Schnelligkeit spielt auch eine Rolle. Deshalb ist es gut, dass jetzt schon Tatverdächtige ermittelt worden sind nach der Attacke auf Matthias Ecke.

Bei dem Fall könnte man aber auch zu dem Ergebnis kommen, dass man einen Menschen zusammenschlagen kann und man trotzdem nicht in U-Haft kommt. Alle vier Verdächtigen sind auf freiem Fuß.

Wir leben in einem Rechtsstaat, und da werden die Kriterien für eine U-Haft überprüft. Diese Kriterien lagen hier nicht vor. Und ich bin froh, dass ich in einem Rechtsstaat lebe, der nicht einfach neue Kriterien erfindet, weil die öffentliche Aufmerksamkeit erhöht ist. (Florian Hagemann und Jörg-Stephan Carl)

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