Schuldenbremse, Wirtschaftskrise, Waffenlieferungen an die Ukraine: Die Ampel ist bei Kernthemen tief zerstritten. Grünen-Fraktionschefin Haßelmann macht im Interview eine klare Ansage an Finanzminister Lindner (FDP). Und sie rügt die scharfe Kritik ihres Parteifreundes Hofreiter am Kanzler.
Britta Haßelmann führt seit Dezember 2021 gemeinsam mit Katharina Dröge die Grünen-Fraktion im Bundestag. Die 62-Jährige war zuvor parlamentarische Geschäftsführerin. Haßelmann ist Diplom-Sozialarbeiterin.
WELT: Haben sich die Grünen schon damit abgefunden, dass die Ampel-Koalition ein Auslaufmodell ist, Frau Haßelmann?
Britta Haßelmann: Unser Arbeitsprogramm ist auf vier Jahre angelegt, und wir setzen das derzeit intensiv und verantwortungsvoll um. Und darüber hinaus erledigen wir auch all das, was Weltlage und krisenhafte Zeit uns zusätzlich abverlangen.
WELT: Der grüne Agrarminister Cem Özdemir hat gerade eine ganz andere Wahrnehmung der Arbeit der Ampel-Koalition zu Protokoll gegeben. Die drei Parteien stritten sich „wie die Kesselflicker“. Kann man unter solchen Bedingungen noch gemeinsame Ergebnisse erzielen?
Haßelmann: Wir drei Parteien in der Koalition haben uns zum Ziel gesetzt, den Stillstand der vergangenen Legislaturperioden zu beenden und eben nicht erneut ausschließlich den Ist-Zustand zu verwalten. Bekämpfung der Klimakrise, Transformation der Wirtschaft, Sicherung des sozialen Zusammenhalts, die Unterstützung der Ukraine – das kann nur mit Partnerinnen und Partnern gelingen, die diese Herausforderungen trotz aller unterschiedlicher Programmatik gemeinsam anpacken wollen.
Genau das haben wir uns vorgenommen – und das machen wir auch. Sicher können wir die Lautstärke, in der wir öffentlich um die besten Konzepte ringen, herunterregeln. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass wir gemeinsam Ergebnisse erzielen für unser Land.
WELT: Und dennoch war auch bei Ihrer Koalitionsklausur eher das Trennende das Dominierende – nicht das Gemeinsame. Sie haben zum Beispiel einmal mehr die Schuldenbremse infrage gestellt – in dem Wissen, das Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner da gar nicht mitgehen kann. Wozu dieser erneute Fehde-Handschuh?
Haßelmann: Unsere Regierungskoalition hat in den vergangenen zwei Jahren unter schwierigsten Bedingungen sehr viel gemeinsam hinbekommen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien, gesellschaftspolitische Veränderungen, soziale Sicherung, Mindestlohn, Bürgergeld. Gleichzeitig müssen wir dringend investieren, in Klimaschutz, in Klimaanpassung, in Brückensanierung, in Schienenausbau, in Kitas und Schulen, in innere und äußere Sicherheit. Das wissen alle – und deshalb ist es richtig und verantwortungsbewusst, darüber zu diskutieren, wie wir diese notwendigen Zukunftsinvestitionen finanzieren.
WELT: Und da fällt den Grünen nichts anderes ein, als die Schuldenbremse zu reformieren, was übersetzt heißt: neue Kredite aufzunehmen?
Haßelmann: Natürlich gibt es Überlegungen, auch im normalen Haushaltsverfahren mehr Mittel für Investitionen freizubekommen. Aber wir sehen ja auch, dass nicht nur wir, sondern auch die unterschiedlichsten Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten – ob sie der CDU, der SPD oder uns Grünen angehören – eine Modernisierung der Schuldenbremse fordern. Also brauchen wir an dieser Stelle eine Debatte mit allen, Politik, Kommunen, Unternehmen, Gewerkschaften, Verbänden, Bürgerinnen und Bürgern.
Unsere Fraktion hat in diese Debatte die Idee eines neuen Investitionsfonds für Bund, Länder und Kommunen eingebracht. Wir sind der Überzeugung, dass ein solcher Fonds ein geeignetes Instrument wäre, die Herausforderungen unseres Landes anzugehen.
WELT: Wäre es nicht Zeit, den Deutschen nach mehr als 70 Jahren Wohlstand und Frieden klar zu sagen: Sorry, die Unterstützung der Ukraine, aber auch die Bekämpfung der Klimakrise haben jetzt Priorität – und deshalb muss dieses Land an anderer Stelle Abstriche machen?
Haßelmann: Deutschland hat in den letzten 16 Jahren unionsgeführter Regierung seine Zukunftsvorsorge in den unterschiedlichsten Bereichen extrem vernachlässigt. Folge ist, dass die Investitionsbedarfe jetzt so hoch sind, dass einfache Kürzungen im Bundeshaushalt, hier ein paar Prozent, da ein Prozent, nicht ansatzweise ausreichen.
Natürlich schaut jedes Ressort bei der bevorstehenden Haushaltsaufstellungen nach Einsparmöglichkeiten. Aber damit werden wir keinesfalls die hohen Bedarfe decken, die wir unabwendbar zu stemmen haben. Es sei denn, wir stellen tatsächlich die Frage: Rüstung oder Rente? Und das kann es nun wirklich nicht sein.
WELT: Ein anderer zentraler Punkt, an dem sich die Koalition gerade nicht einig ist, ist die militärische Unterstützung der Ukraine. Der Kanzler hat sich festgelegt, keine Taurus-Systeme zu liefern. Grüne und FDP halten das angesichts der Lage für verantwortungslos. Wie wollen Sie Olaf Scholz von der Notwendigkeit dieser Waffenlieferung überzeugen?
Haßelmann: Die Entscheidung wird letztlich im Bundessicherheitsrat getroffen. Für uns Grüne ist klar, dass die Ukraine noch mehr Unterstützung braucht für einen Verteidigungskampf, den sie gewinnen muss.
WELT: Ihr Bundestagsabgeordneter Anton Hofreiter hat dem Kanzler vorgeworfen, mit seiner ablehnenden Haltung zu Taurus-Lieferungen „zum Sicherheitsrisiko für ganz Europa und damit auch für Deutschland“ zu werden. Es seien „die haltlosen Ängste des Kanzlers, die die Ukraine in Schwierigkeit bringen und Putin stärken“. Hat er recht?
Haßelmann: Ich teile das nicht. Es macht keinen Sinn, sich öffentlich so auseinanderzusetzen. Wichtig ist, dass wir geschlossen und entschieden gemeinsam mit unseren europäischen Partnern handeln und die Ukraine nach Kräften unterstützen, humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen. Nur das beeindruckt Putin. Nur so helfen wir der Ukraine wirklich.
WELT: Insofern dürfte Ihre Verärgerung über Gedankenspiele des französischen Präsidenten Emmanuel Macron über eine Bodentruppen-Entsendung fast noch größer sein als die über Hofreiters Attacke auf den Kanzler, richtig?
Haßelmann: Präsident Macrons Spekulationen erteilen wir eine klare Absage. Wir dürfen nicht Kriegspartei werden. Das sehen auch die anderen europäischen Partner so.
WELT: Sie selbst sagen, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen muss – was passiert, wenn das Land an einen Punkt kommt, in dem es nicht allein an Munition fehlt, sondern auch an Kämpfern?
Haßelmann: Es muss allen klar sein: Die Ukraine braucht mehr Munition und weitreichendere Waffen. Die müssen jetzt von allen europäischen Partnern geliefert werden, das erfordert die aktuelle Lage. Wir alle sehnen uns nach Frieden und sorgen uns. Putin kann diesen Krieg sofort stoppen. Er muss aufhören zu bomben.