Norbert Röttgen: „Dieser Urlaub ist keine reine Privatangelegenheit mehr“ - WELT
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Deutschland Reisen in Risikogebiete

„Dieser Urlaub ist keine reine Privatangelegenheit mehr“

Das Comeback des Norbert Röttgen

Norbert Röttgen trat 1982 in die CDU ein. Im April 1996 setzte er sich gegen den Willen des damaligen Kanzlers Helmut Kohl für eine Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts ein. Seit 2014 ist er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

Quelle: WELT

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Norbert Röttgen ist Außenseiterkandidat für den CDU-Parteivorsitz – und zeigt sich offen für einen Unions-Kanzlerkandidaten Markus Söder. Von Angstmache als Mittel zur Corona-Bewältigung hält er wenig. Beim aktuellen Krisenmanagement vermisst er ein zentrales Element.

WELT: Herr Röttgen, in der Berliner Charité wird mit Alexej Nawalny ein russischer Oppositionspolitiker behandelt, der offenbar vom russischen Geheimdienst vergiftet wurde. Unterschätzen wir Wladimir Putin noch immer?

Norbert Röttgen: Mit diesem Mordanschlag auf einen Oppositionellen zeigt sich einmal mehr das wahre Gesicht der gegenwärtigen russischen Staatsführung und ihres Präsidenten. Dieses steht im krassen Gegensatz zu Forderungen danach, etwa die Sanktionen gegen Russland einzustellen.

Der Anschlag auf Nawalny straft jene Lügen, die von Annäherung reden und sich pauschal für einen Neuanfang in den Beziehungen aussprechen, ohne dass sich in Russland etwas geändert hätte. Wer aktuell nach einer anderen Politik Deutschlands gegenüber Russland ruft, ist entweder unglaublich naiv oder stellt wirtschaftliche Interessen über alles. Die Brutalität und der Zynismus, die sich mit diesem Anschlag erneut offenbaren, können nur bedingungslosen Realismus im Umgang mit Putin zur Folge haben.

"Der Anschlag auf Nawalny straft jene Lügen, die von Annäherung reden", sagt Norbert Röttgen
„Der Anschlag auf Nawalny straft jene Lügen, die von Annäherung reden“, sagt Norbert Röttgen
Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

WELT: Sie haben keine Zweifel, dass es sich um einen staatlichen Auftragsmord handelt?

Röttgen: Ich habe daran keine Zweifel. Wenn es nicht so wäre, dann müsste man annehmen, dass der russische Sicherheitsapparat außer Kontrolle geraten ist. Das würde bedeuten, dass Putin die Macht entgleitet, aber dafür gibt es keine Anzeichen. Vielmehr wird hier der ganzen Welt demonstriert, wozu dieser Staatsapparat und Putin als oberster Dienstherr fähig sind. Das ist eine extreme Form der Machtdemonstration und berührt das Zentrum der Politik. So etwas entscheidet nicht irgendein Geheimdienstmitarbeiter, weil ihm mal eben der Gedanke dazu gekommen ist. Das ist Chefsache.

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WELT: Der Mordanschlag fand statt, während im Nachbarland Weißrussland Menschen gegen den Moskau-treuen Diktator Lukaschenko demonstrierten. Zufall?

Röttgen: Nein, ich glaube, der Zeitpunkt ist sehr genau gewählt. Aus meiner Sicht will Moskau damit allerdings weniger den Belarussen etwas signalisieren, sondern vielmehr dem eigenen Volk. Es finden ja auch im Osten Russlands Proteste statt, die sich gegen Entscheidungen der Staatsführung richten. Solche Proteste gegen den Staat werden mit dem Äußersten bestraft, das ist die Botschaft des Anschlags auf Nawalny. Es geht um Abschreckung.

Möglicherweise chemischer Kampfstoff verabreicht

Weitere Entwicklung im Fall des vergifteten Kremlkritikers Alexej Nawalny, der in der Charité behandelt wird. Experten glauben, dass Nawalny ein chemischer Kampfstoff verabreicht wurde - und erbitten Hilfe.

Quelle: WELT

Putin fürchtet, dass auch die Russen auf die Idee kommen könnten, sich gegen ihre korrupte und nicht demokratisch legitimierte Führung aufzulehnen. Die wichtigste Reaktion ist, die Realität der russischen Machtpolitik, die keine Grenzen und Hemmungen kennt, endlich anzuerkennen. Die Menschen in Minsk brauchen unsere moralische Unterstützung – und zwar länger als zwei Wochen.

WELT: Internationale Konflikte erregen wegen der Corona-Krise nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. In dieser Woche wurde von ersten Fällen einer Reinfektion mit dem Virus berichtet. Muss die Politik die Menschen auf ein dauerhaftes Leben mit dem Virus vorbereiten, statt die Zeit „nach Corona“ zu beschwören?

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Röttgen: Ja, wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben. Indem wir unsere Lebensweise systematisch an die Notwendigkeiten der Pandemiebekämpfung anpassen. In allen Bereichen, selbst solchen, die wir früher für rein privat gehalten haben wie Urlaubsreisen, müssen wir jetzt fragen, welche Veränderungen notwendig sind. Für die Politik heißt das, dass wir Wege finden müssen, über die Krisenbewältigung hinaus auch anderen Themen Aufmerksamkeit zu schenken. Denn andere Probleme bestehen ja fort und müssen jetzt wieder stärker in den Blick genommen werden.

"Wir müssen gegenüber dem Virus wehrhaft und anpassungswillig sein"
"Wir müssen gegenüber dem Virus wehrhaft und anpassungswillig sein"
Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

WELT: Heißt Leben mit dem Virus nicht auch, das Infektionsrisiko in Kauf zu nehmen?

Röttgen: Nein, das wäre eine Kapitulation vor dem Virus. Zum einen, weil das Virus individuelle Gesundheitsschäden verursacht, schlimmstenfalls den Tod. Zum anderen, weil ein außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen mittelbar auch die Wirtschaft schädigt. Wir müssen gegenüber dem Virus wehrhaft und anpassungswillig sein. Die Schäden wären zu hoch, würden wir das Risiko einfach in Kauf nehmen.

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WELT: Viele Politiker machen den Leuten vor allem Angst. Über Urlauber wurde geradezu der Stab gebrochen, ihr Verhalten als unmoralisch gebrandmarkt. Ist Angstmachen nach sechs Monaten immer noch ein probates Mittel der Krisenbewältigung?

Röttgen: Angst als Mittel ist immer falsch. Aber die Auffassung, dass den Menschen vor allem Angst gemacht würde, teile ich auch nicht. Im Gegenteil: Ich finde, gerade in den ersten Monaten haben gute Kommunikation und ein hohes Maß an Rationalität vorgeherrscht. Davon bräuchten wir jetzt wieder mehr.

Dass die Politik grundsätzlich an die Vernunft der Menschen appelliert, ist nachvollziehbar. Es ist nicht rational, mitten in einer Pandemie in eine Gegend zu fahren, die ein Corona-Risikogebiet darstellt. Wer das tut, muss akzeptieren, dass dieser Urlaub keine reine Privatangelegenheit mehr ist. Denn er gefährdet damit die öffentliche Gesundheit. Ich plädiere deshalb dafür, dass Reisen in Risikogebiete vorab bei den Gesundheitsämtern angezeigt werden müssen. Diese Personen müssen erfasst werden. Da ein einmaliger Test keine hinreichende Sicherheit bietet, muss mit genügend Abstand entweder ein zweiter Test erfolgen oder strenge Quarantäne gelten, bis kein Ansteckungsrisiko mehr besteht.

WELT: Die Pandemie gefährdet auch den CDU-Parteitag im Dezember. Sie haben betont, dass eine Verschiebung nicht infrage komme. Warum?

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Röttgen: Es ist ganz klar, dass dieser Parteitag nicht wie gewohnt stattfinden wird. Aber wir sehen, dass unter strengen Hygienebedingungen Aufstellungsversammlungen mit mehreren Hundert Menschen möglich sind. Insofern sollten wir es auch schaffen, einen Parteitag mit 1000 Delegierten durchzuführen. Für die CDU ist das entscheidend, weil wir mit einer neu legitimierten Führung, die neue Autorität hat, in das Superwahljahr starten müssen.

WELT: Nimmt sich die CDU da nicht etwas wichtig?

Röttgen: Nein, es geht um den Kontext. Gute Stimmung ist auf einem Parteitag zwar schön, aber notfalls entbehrlich. Eine Karnevalssitzung hingegen lebt von Nähe und Stimmung. In jedem Fall lehrt uns diese Erfahrung, dass wir künftig in der Lage sein müssen, Parteitage auch virtuell durchzuführen.

WELT: Die Festlegung auf einen Kanzlerkandidaten solle noch im Dezember geschehen, sagten Sie. Haben Sie es deshalb so eilig, weil nur ein frisch gewählter CDU-Chef das Standing hat, sich in der Kanzlerkandidatenfrage gegen CSU-Chef Markus Söder durchzusetzen?

Röttgen: Nein, darum geht es mir nicht. Ich bin davon überzeugt, dass wir als Union die Bestaufstellung anstreben müssen. Die Argumentation, die CDU müsse unbedingt den Kanzlerkandidaten stellen, weil das als Partei unser Anspruch ist, wird aus meiner Sicht dem Ernst der Lage nicht gerecht. Und ich glaube auch nicht, dass das die Erwartung unserer Wähler oder Parteimitglieder ist. Meine Überzeugung ist vielmehr, dass sie die bestmögliche Aufstellung für die Union im kommenden Wahljahr wollen. Darüber müssen wir sprechen.

WELT: Es ist also nicht entscheidend, dass hinter dem Namen des Kanzlerkandidaten das Kürzel CDU steht?

Röttgen: Den Anspruch haben wir als Partei. Aber das Wichtigste ist die Bestaufstellung, mit der wir die Wahl gewinnen können.

WELT: Wollen Sie Kanzler werden?

Röttgen: Ja.

WELT: Können Sie Kanzler?

Röttgen: Das ist eine große Frage. Aber die Kandidatur für den CDU-Vorsitz ist mit dem Anspruch verbunden, Kanzlerkandidat zu werden. Deshalb muss man sich diese Frage stellen, und ich habe die Frage für mich bejaht.

Norbert Röttgen ist überzeugt, dass er Kanzler könnte
Norbert Röttgen ist überzeugt, dass er Kanzler könnte
Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

WELT: Blickt man auf die Geschichte der Bundesrepublik, wäre eigentlich nach 16 Jahren Unionsregierung wieder eine linke Regierung an der Reihe. Danach sieht es im Moment nicht aus. Glauben Sie dennoch, dass der Wechselwille sich durchsetzen könnte?

Röttgen: Die Analyse ist richtig. Es gibt diesen Pendelschlag relativ verlässlich in die eine oder andere Richtung. Das erschien in der Vergangenheit fast wie eine Art politisches Naturgesetz. Wenn es uns nach 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft gelingen sollte, wieder einen Unionspolitiker ins Kanzleramt zu bringen, wäre das ein Außerkraftsetzen dieser Gewissheit.

Deshalb geht es mir vor allem darum, dass wir mit der bestmöglichen Aufstellung antreten. Denn es ist alles andere als selbstverständlich und keineswegs sicher, dass wir wieder den Kanzler stellen. Stimmungen sind volatil. Bis zur Wahl kann die Stimmung auch in Richtung einer linken Mehrheit kippen. Wir sollten nicht vergessen, dass wir vor Corona bei 26 Prozent lagen.

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WELT: Derzeit sind es etwa zehn Prozentpunkte mehr. Aber es wäre ja durchaus möglich, mit 28 Prozent Kanzler zu werden.

Röttgen: Ja, mit Glück, aber das kann doch nicht unser Anspruch als Volkspartei sein. Wer als Unionskandidat mit 28 Prozent Kanzler wird, der hat nicht die gesellschaftliche Verankerung erreicht, die eine Volkspartei braucht, wenn sie nicht in zehn Jahren ihren Status eingebüßt haben will. Wer so kalkuliert, handelt grob fahrlässig.

WELT: Viel wird über eine mögliche schwarz-grüne Option gesprochen. Die Grünen haben ein paar Themen, die ihnen besonders wichtig sind. Wie stehen Sie also zu einem grünen Lieblingsprojekt, der kontrollierten Abgabe bestimmter Drogen wie Cannabis?

Röttgen: Ich kann dem keine Vorteile abgewinnen. Eine solche Drogenpolitik bringt für mein Dafürhalten gesundheitlich und gesellschaftspolitisch nichts.

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WELT: Und ist die Zeit reif für ein Tempolimit auf deutschen Straßen?

Röttgen: Ich bin da leidenschaftslos, halte es aber allenfalls für eine zweitrangige Frage.

WELT: Unter Grünen-Wählern gibt es viele, die eine Impfpflicht ablehnen. Wäre eine Pflicht zur Impfung gegen das Coronavirus nötig?

Röttgen: Eine Impfpflicht stellt einen weitreichenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar. Ich sage aber nicht kategorisch Nein dazu. Sollte der Wirkungsgrad einer solchen Impfung sehr hoch und die Nebenwirkungen ungefährlich sein, kann ich mir gegen das Coronavirus eine Impfpflicht vorstellen.

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