Als Robert Steinhäuser am 26. April 2002 im Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen erschossen und sich danach selbst gerichtet hatte, gingen die Erfurter auf der Suche nach Trost und Halt in ihre Kirchen. Auch die, die sich vorher als Atheisten bezeichnet hatten.
Die Trauerfeier, die durch die Anwesenheit des Bundespräsidenten zum Staatsakt wurde, fand vor dem Dom statt. Auf den Domstufen brannten Kerzen. 16 für die Opfer, eine siebzehnte, die etwas abseits neben dem Altar aufgestellt war, galt dem Täter.
Ein Mensch bleibt immer ein Mensch
Einem 19-jährigen Jungen, der, wie Johannes Rau sagte, „eine furchtbare Spur“ durch Erfurt gezogen hatte. Einem „Massenmörder“. Seine Gedanken, sagte Rau, gingen in dieser Stunde auch zur Familie des Täters.
Zu ihrer Trauer, ihrer Scham. Niemand, so Rau, solle eines vergessen: „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch.“
In Erfurt war man barmherziger
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich herumgesprochen, dass die Kirche der Familie Steinhäuser angeboten hatte, der Trauerfeier ungesehen beizuwohnen: im Bistumsgebäude an der Domtreppe. Die Kirche korrigierte damit die Entscheidung der Landesregierung, die Roberts Familie nachdrücklich aufgefordert hatte, der Trauerfeier fernzubleiben.
Und die, die ihre Kinder, Brüder, Schwestern, Mütter, Väter, Frauen, Männer, Freunde beweinten, hatten nichts dagegen. Und wenn es sich auch verbat, den Namen Robert Steinhäusers in einem Atemzug mit den Opfern zu nennen, so wurden doch auch vor seiner Kerze Blumen niedergelegt.
Dieser Film hätte wahrer ausfallen können
Die Landesbischöfe schlossen seine Angehörigen in ihre Fürbitten ein: „Wir bitten, dass ihnen Menschen beistehen und helfen, das Geschehene zu verstehen und zu ertragen.“
Warum wir hier so breit an Erfurt erinnern? Weil Nikolaus Leytner gut beraten gewesen wäre, sich mit dieser Seite des Amoklaufs zu beschäftigen. Weil sein Film „Die Stille danach“ dann nuancierter und weniger kalt ausgefallen wäre. Weil er wahrer geworden wäre.
Leytner siedelt seinen Amoklauf im niederösterreichischen Tulln an. Der Regisseur hat eine Moral, und er enthält sie seinen Zuschauern nicht lange vor: Als die Mutter des 15-jährigen Felix, der sechs Mitschüler erschossen und vier weitere schwer verletzt hat, vor der Schule eine Kerze für ihren Jungen aufstellt, bläst eine Bö das Windlicht aus. Nicht nur einmal, sondern zweimal. Der liebe Gott, soll das wohl heißen, kennt kein Pardon.
In einem Fantasyfilm würde man einem Regisseur so einen Einfall nachsehen, hier verkommt er zum Moralkitsch. Überhaupt hat Leytner eine seltsame Vorstellung von Kirche. „Willst du ein kirchliches Begräbnis?“, fragt Felix’ Vater seine Frau, und sie kontert bitter: „Glaubst du, er wird eins bekommen?“
Himmelherrgott. Überhaupt hat die sonst immer so formidable Ursula Strauss („Vielleicht in einem anderen Leben“) sehr mit ihrer Rolle zu kämpfen. Es liegt an Leytners Drehbuch, dass es schwer, wenn nicht unmöglich ist, Empathie für diese Paula Rom zu entwickeln.
Der Schluss ist eine Übung in politischer Korrektheit
So stur, so megärenhaft lehnt sie es ab, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass ihr Sohn sechs Menschen umgebracht hat. „Ich“, ruft sie mit dem Pathos einer griechische Tragödin, „habe auch ein Kind verloren!“ Das stimmt. Und tönt doch furchtbar selbstgerecht.
„Die Stille danach“ ist aus der Perspektive der Mutter erzählt. Die erst nicht glauben will, dass ihr Felix gemordet hat – „Er ist noch ein Kind! Er kann keiner Fliege was zuleide tun! Er wehrt sich ja nicht mal, wenn er verdroschen wird!“ – und dann einen Entlastungsfeldzug startet. Irgendein anderer muss ja schuld sein an dem, was Felix getan hat!
Übung in politischer Korrektheit
Am Ende, man hat es lange vorausgesehen, landet sie dann bei sich. Wie der Vater. Wie die Tochter. Aber dieser Schluss wirkt wie eine Übung in politischer Korrektheit. Wie angeklebt.
Den Amoklauf erklärt er so wenig wie das, was man vorher gesehen hat. Insgesamt hat Leytner das Thema weichgespült. Das wird den Tragödien von Erfurt oder Winnenden nicht gerecht.
„Die Stille danach“, 12.10.2016, ARD, 20.15 Uhr. Amoklauf ist anschließend auch das Thema bei „Maischberger“