Nach Ansicht von Innenministerin Nancy Faeser hätte der mutmaßliche Attentäter von Brokstedt abgeschoben werden können, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von der Stadt Kiel rechtzeitig über den vorhergehenden Gefängnisaufenthalt von Ibrahim A. informiert worden wäre.
In Kiel stößt diese Aussage auf Widerspruch. Der Fraktionsvorsitzende des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW), Lars Harms, kommentierte Faesers Äußerungen auf Anfrage von WELT so:„Nach allem, was wir bisher wissen, war die Tat nicht wirklich zu verhindern. Selbst wenn die Kommunikation zwischen den Behörden reibungslos verlaufen wäre – bis zu einer Abschiebung von Ibrahim A. wären mindestens zwei, drei Jahre vergangen. Ich würde mir schon wünschen, dass sich eine Bundesinnenministerin mit dem Ausländerrecht einigermaßen auskennt und sich nicht zu solch unhaltbaren Äußerungen hinreißen lässt.“
Harms sitzt für seine Partei unter anderem im Innen- und Rechtsausschuss, der in der vergangenen Woche von den Justizbehörden umfassend über den Fall unterrichtet worden war. Faeser hatte nach einem Bericht des „Flensburger Tageblatts“ am Montag zu dem Fall unter anderem gesagt: „Wir wussten nicht, dass der Mann im Gefängnis sitzt, sonst hätten wir ihn anhören und leichter abschieben können.“ Vorwürfe erhob die Innenministerin vor allem gegen die Stadt Kiel, deren Ausländerbehörde eine Information über die Inhaftierung A.s nicht an das BAMF weitergeleitet habe.
Nicht Kiel, sondern Hamburg zuständig
Auf WELT-Anfrage korrigierte das Bundesinnenministerium Faesers Aussagen am Dienstag. Die gesetzlich vorgeschriebene Mitteilung in Strafsachen (MiStra) im Fall A., so ein Ministeriumssprecher, hätte nicht aus Kiel, sondern aus Hamburg an das BAMF geschickt werden müssen. Dies sei nicht geschehen. „Im konkreten Fall ist in den Akten des BAMF eine solche Unterrichtung durch Hamburger Behörden nicht feststellbar.“ Gleichzeitig kündigte das Ministerium erste Konsequenzen an: „Als erste Folgerung hat die Bundesregierung den Justizressorts der Länder einen Vorschlag zur Änderung der MiStra unterbreitet, damit der Informationsfluss zwischen Strafverfolgungs- und Ausländerbehörden weiter verbessert werden kann.“
Die Stadt Kiel reagierte auf Anfrage nicht direkt auf die Anschuldigungen Faesers, teilte aber mit, dass sie derzeit „alles unternimmt, um Fehler, die in diesem Zusammenhang geschehen sind, zu finden und zu analysieren“. Derzeit würden unter anderem „die durchgeführte Wiederherstellung der Postfächer und die Befragung der beteiligten Mitarbeitenden“ ausgewertet, „um auch den Mailverkehr noch einmal detailliert nachzuprüfen und technische wie menschliche Fehler auszuschließen“.
Aktuell scheine es so, „dass in allen beteiligten Behörden sowohl in NRW, Hamburg und Schleswig-Holstein, die mit dem Fall Ibrahim A. beschäftigt waren, Fehler bei ihrer Informationspflicht unterlaufen sind“, so der Chef der Kieler Zuwanderungsbehörde Christian Zierau zu WELT. Fazit des Kieler Behördenleiters: „Hier müssen dringend bundesweit strukturelle Veränderungen erfolgen, um einen sicheren Informationsfluss zu gewährleisten.“
Ibrahim A. soll am 25. Januar in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg mit einem Messer auf andere Fahrgäste eingestochen haben. Zwei junge Menschen starben, fünf weitere wurden teils schwer verletzt. Knapp eine Woche zuvor war der 33-Jährige aus der U-Haft in Hamburg entlassen worden.
Zuvor war bekannt geworden, dass in die Akte, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zu Ibrahim A. anlegte, fälschlicherweise ein Ausweis aus Syrien von einer anderen Person gelangt sein soll. Daher sei das Bamf zwischenzeitlich davon ausgegangen, dass der Mann ein staatenloser Palästinenser aus Syrien sei.
Ein Bamf-Abteilungsleiter hatte im Innenausschuss des Landtages von Schleswig-Holstein zudem erklärt, Ibrahim A. selbst habe nach seiner Einreise 2014 gesagt, er stamme aus dem Gazastreifen und sei staatenlos.