DJI - Zu jung für Politik?

Zu jung für Politik?

Politische Bildung galt lange als zu überfordernd und zu komplex für Kinder und Jugendliche. Es ist Zeit, umzudenken. Worin die aktuellen Herausforderungen liegen.

Von Christian Lüders[1] 

Politik ist eine schwierige Sache. Und in Bezug auf Demokratie muss man viel lernen und erfahren. Man wird nicht als Demokrat oder Demokratin geboren; es braucht entsprechende Bildungsprozesse von Beginn an. Damit sind vielfältige pädagogische, bildnerische, institutionelle und gesellschaftliche Fragen verbunden. Auf der Ebene der pädagogischen und institutionellen Praxis mit jungen Menschen heißen die Antworten auf diese Herausforderungen politische Bildung, Demokratiebildung, Demokratielernen, Demokratieförderung, Demokratiepädagogik oder wie die semantischen Varianten noch lauten mögen – wobei im Folgenden (im Anschluss an den 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung[2]) der Begriff der politischen Bildung bevorzugt wird . Dieser formuliert explizit: „Politische Bildung beginnt bei den Kindern und ist für alle Menschen“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 567). Einige Abschnitte später heißt es, dass politische Bildung für Kinder und Jugendliche „einer eigenen Fachlichkeit [unterliegt], die von den Besonderheiten des Aufwachsens geprägt ist“ (ebd., S. 568).

In bewusster Distanz zu den Angeboten politischer Bildung im Erwachsenenalter wird damit gefordert, dass Demokratie altersgerecht immer wieder neu erlebt, erfahren und gelernt werden muss und entsprechende Bildungsprozesse voraussetzt. Bezug genommen wird dabei auf jenes Phänomen, das der Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld einmal kurz und bündig als „Entwicklungstatsache“ bezeichnet hat.

Was altersangemessene politische Bildung ist, bleibt umstritten

So selbstverständlich und auf den ersten Blick trivial die Aussage wirkt, dass die Angebote politischer Bildung altersangemessen beziehungsweise altersgerecht zu erfolgen haben, so sind mit ihr bei näherem Hinsehen doch einige Tücken verbunden. Denn das Kriterium der Altersangemessenheit beinhaltet auch die Annahme, dass bestimmte Inhalte und Erfahrungen für diese oder jene Altersgruppe – aus welchen Gründen auch immer ungeeignet sein können. Die dabei vorgebrachten Gründe sind meist allgemeiner entwicklungspsychologischer Art (für das Grundschulalter zusammenfassend beispielsweise Brügelmann 2020). Vor allem das Argument, dass das Begreifen von Politik ein bestimmtes  Abstraktionsvermögen und die Überwindung einer rein egologischen Sichtweise voraussetzt, wird immer wieder bemüht.

Es mag tatsächlich einsichtig sein, dass zum Beispiel die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative oder das föderale System der Bundesrepublik Deutschland wohl kaum einem zweijährigen Kind angemessen zu vermitteln sein dürften. Jenseits solcher vermeintlich klaren Fälle scheinen die Schwellen der Altersangemessenheit aber eher einem stillschweigenden gesellschaftlichen Konsens zu entsprechen, als dass man von wirklich belastbaren Hindernissen sprechen kann, zumal dementsprechende Grenzen noch nicht wirklich ausgelotet worden sind (ebd.). Für Kinder und Jugendliche, die sich unterhalb der Altersschwellen befinden, heißt das, dass ihnen entsprechende Rechte auf politische Bildung vorenthalten werden.

Schulische und außerschulische Angebote verschenken viel Potenzial

Man erkennt diese Implikationen schnell, wenn man sich auf der gesellschaftlichen Ebene die jeweiligen Regelungen und Praxen vergegenwärtigt. Am offensichtlichsten ist das Beispiel des aktiven und passiven Wahlalters: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt, steht in Artikel 38 des Grundgesetzes. Die Altersgrenze 18 gilt allerdings nicht für alle Wahlen. Sowohl auf Landes- als auch auf kommunaler Ebene gibt es Abweichungen; mitunter darf schon ab 16 Jahren gewählt werden (www.machs-ab-16.de/wahlen-ab-16-in-deutschland/[3]). Analoges gilt beispielsweise auch für die Mitgliedschaft in politischen Parteien (Deutscher Bundestag 2020, S. 417).

Weniger offensichtlich, aber der gleichen Logik folgend, sind die Lehrpläne in den Schulen aufgebaut. Sie basieren auf mehr oder weniger expliziten Annahmen darüber, was an politischer Bildung jungen Menschen altersgerecht und didaktisch aufbereitet zumutbar ist und vor allem, was nicht. Ebenfalls von diesen Annahmen geprägt sind die Angebote der außerschulischen Jugendbildung, wobei sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich an vielen Stellen offenbar ein stiller Konsens besteht, dass es in Bezug auf die meist jüngere Adressatengruppe keiner (oder bestenfalls nur eine sehr gering dosierte) politischen Bildung bedarf.

Studien weisen nach, dass Kinder bereits im Grundschulalter über politische Vorstellungen verfügen und auch die kindliche Welt bereits eine politische ist.

So stellt der 16. Kinder- und Jugendbericht mit Blick auf die Angebote der außerschulischen politischen Kinder- und Jugendbildung fest: „Viel seltener als Jugendliche werden Kinder von den Angeboten der politischen Bildung adressiert. Zwar gibt es in der politischen Bildung Projekte, die an diese Erkenntnisse anknüpfen, aber sie bilden Ausnahmen“ – um dann zu ergänzen: „Hier liegt jedoch noch Potenzial brach, denn Studien wie die von Asal/Burth (2016) weisen nach, dass Kinder bereits im Grundschulalter über politische Vorstellungen verfügen und auch die kindliche Welt bereits eine politische ist“ (ebd., S. 340). In seiner für den 16. Kinder- und Jugendbericht zur politischen Bildung in der Grundschule verfassten Studie kommt Hans Brügelmann zu dem Ergebnis, dass „die politische Sozialisation von Kindern […] in Deutschland – abgesehen von einigen bemerkenswerten Ausnahmen – noch wenig erforscht [ist]. Und auch die Didaktik politischer Bildung fristet in der Grundschule eher ein Nischendasein“ (Brügelmann 2020[4], S. 6). Für den 16. Kinder- und Jugendbericht zählen die Grundschule selbst sowie die Angebote der Ganztagsbildung an Grundschulen zu den unterschätzten Räumen politischer Bildung.

Selbstverständlich finden in Grundschulen und den ergänzenden Angeboten am Nachmittag (beispielsweise im Hort) politische Sozialisationsprozesse statt. Kinder erleben, dass ihnen Beteiligung ermöglicht oder verweigert wird; sie erfahren, dass Regeln im Zweifelsfall nicht zur Debatte stehen und dass soziales Lernen bedeuten kann, sich Normen anpassen zu müssen, ohne dass diese infrage gestellt werden können. Kinder können aber auch erleben, dass ihnen Gestaltungsräume eröffnet werden, innerhalb derer sie sich selbst auf Regeln und Inhalte einigen. So konstatiert der 16. Kinder- und Jugendbericht, „dass jenseits der unterrichtlichen Angebote vor allem im Kontext des Sachkundeunterrichts, aber auch der Angebote in anderen Fächern, Möglichkeiten ganztägiger politischer Bildungsangebote an der Grundschule in Kooperation zwischen Schule und außerschulischen Partnern bislang kaum diskutiert werden“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 480; Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2020, S. 99–115).

Das Internet hebelt Altersbeschränkungen oft aus

Ironischerweise wird die Altersangemessenheit der Angebote politischer Bildung genau dort zum Problem, wo altersbezogene Reglementierungen eine vernachlässigbare Rolle spielen, nämlich in digitalen Räumen. Weil dort Altersbeschränkungen entweder nicht existieren oder für Kinder und Jugendliche lediglich sportliche Hürden darstellen, die leicht zu überwinden sind, treibt genau dies mitunter der Medienpädagogik und politischen Bildung die Sorgenfalten auf die Stirn. Mit anderen Worten: Auch wenn grundsätzlich Konsens besteht, dass alle von Beginn an ein Recht auf politische Bildung haben, zeigt sich, dass – aus sehr unterschiedlichen Gründen – immer wieder junge Menschen implizit und explizit als zu jung für Politik betrachtet werden. Allerdings sind die dabei entscheidenden Schwellen umstritten. Nicht zuletzt die Debatte um die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre dokumentiert dies. Den damit verbundenen Kontroversen entkommt man also nicht, und jede lebendige Demokratie muss sich zu Recht immer wieder fragen lassen, wer warum wobei ausgeschlossen wird.

Beteiligung ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für politische Bildungsprozesse.

Demokratie als Bildungsgegenstand, Bildungsstruktur und Erfahrung

Es ist hier nicht der Ort, die vielfältigen Altersschwellen und die für ihre Festlegung angeführten Begründungen im Detail zu diskutieren. Vielmehr soll in Anlehnung an den 16. Kinder-und Jugendbericht eine Perspektive formuliert werden, die die aktuelle Diskussionslage auszudifferenzieren hilft. Vor dem Hintergrund des im Bericht formulierten Verständnisses von politischer Bildung sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass für die Sachverständigenkommission politische Bildung immer Demokratiebildung ist (Deutscher Bundestag 2020, S. 128 ff.). Und um nachvollziehbar zu machen, was politische Bildung mit Blick auf Demokratie bedeutet, hat die Kommission außerdem eine einfache, aber hilfreiche und praxistaugliche Heuristik vorgeschlagen. Zu unterscheiden ist demnach zwischen (a) Demokratie als Bildungsgegenstand, (b) Demokratie als Bildungsstruktur und (c) Demokratie als Erfahrung (ebd., S. 129 ff.):
     
Demokratie als Bildungsgegenstand bezieht sich auf die Inhalte der Angebote, also beispielsweise auf die Fragen, welches Wissen vermittelt, welche Kompetenzen erworben werden oder an welches Alltagswissen angeknüpft werden kann.

Demokratie als Bildungsstruktur lenkt die Aufmerksamkeit auf die Strukturen
und Verfahren des jeweiligen sozialen Raums beziehungsweise der Einrichtungen und fragt, wie demokratisch die formalen, nonformalen und informellen Bildungsräume sind.

Demokratie als Erfahrung schließlich betont, dass es letztlich die Aneignungsleistungen der Kinder und Jugendlichen sind, die zu den entsprechenden Bildungsprozessen führen.

Bei dieser dreiteiligen Perspektive steht die Frage im Vordergrund, welche Bildungserfahrungen politischer Subjektwerdung Kinder und Jugendliche in dem Raum jeweils machen und welche Inhalte sie sich wie aneignen. Dabei werden die drei  Dimensionen nicht als singuläre Aspekte gedacht, sondern stehen in einem Bildungszusammenhang. Idealerweise ergänzen sie sich gegenseitig und regen Bildungsprozesse an.

Für praktische Erfahrungen mit Demokratie ist es nie zu früh

Übernimmt man diese Heuristik und betrachtet nun erneut das Problem der Altersangemessenheit, so kommt man nicht umhin, sich von der These, dass junge Menschen unterhalb bestimmter Schwellen „zu jung für Politik“ seien, zu verabschieden. Denn sowohl die Fachdiskussion als auch die Praxis zeigen eindrücklich – auch das dokumentiert der 16. Kinder- und Jugendbericht –, dass spätestens ab einem Alter von drei Jahren ein Kind in der Lage ist, praktische Erfahrungen mit demokratischen Prinzipien zu machen. Die vielfältigen Bemühungen um eine Demokratisierung beziehungsweise um eine auf Kinderrechten basierende Kindertagesbetreuung sind dafür ein überzeugender Beleg (Knauer/Sturzenhecker 2016). Analoges gilt für die Projekte zur Beteiligung von Kindern, die der 16. Kinder- und Jugendbericht exemplarisch vorstellt. Weil diese Beteiligung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für politische Bildungsprozesse ist, stellt sich für die Zukunft die Frage, wie eine begleitende Einbettung und Reflexion der Beteiligungserfahrungen altersgemäß angeregt werden können – und wie dabei auch das letztlich unverzichtbare Wissen über Demokratie vermittelt werden kann.

Asal, Katrin / Burth, Hans-Peter (2016): Schülervorstellungen zur Politik in der Grundschule. Lebensweltliche Rahmenbedingungen, politische Inhalte und didaktische Relevanz. Eine theoriegeleitete empirische Studie. Berlin/Toronto.

Brügelmann, Hans (2020): Grundschule als demokratischer Lern- und Lebensraum. Ein Forschungsbericht über soziales Lernen und politische Bildung von Kindern (Materialien zum 16. Kinder- und Jugendbericht). München. Verfügbar unter: www.dji.de/16_kjb[5]

Deutscher Bundestag (2020): Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe – 16. Kinder- und Jugendbericht – Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter und Stellungnahme der Bundesregierung. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/24200. Verfügbar unter: pdok.bundestag.de/[6]

Knauer, Raingard / Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.) (2016):  Demokratische Partizipation von Kindern. Weinheim/Basel.

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (VBW) (Hrsg.) (2020): Bildung zu demokratischer Kompetenz. Gutachten des Aktionsrates Bildung. Münster

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2021 von DJI Impulse „Politische Bildung von Anfang an: Wie Kinder und Jugendliche Demokratie lernen und erfahren können“ (Download PDF[7]).

Bestellung und Abonnement von DJI-Impulse[8][9]