Erst denken, dann urteilen - Was Hannah Arendt uns heute noch zu sagen hat: Interview mit Prof. Meike Baader

Mittwoch, 13. Januar 2021 um 09:03 Uhr

Hannah Arendt, jüdische Publizistin und politische Theoretikerin, starb 1975. Doch viele ihrer Aussagen wirken heute immer noch aktuell, manchmal fast prophetisch. Im Interview erläutert Prof. Dr. Meike Baader, warum es sich lohnt, der zu ihrer Zeit durchaus umstrittenen Autorin eine Ringvorlesung zu widmen.

Die öffentliche Ringvorlesung „Hannah Arendt - Macht und Gewalt“ in diesem Wintersemester läuft komplett online. Sie ist damit auch über Hildesheim hinaus Studierenden, Lehrenden und anderen Interessierten zugänglich. Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem Format gemacht?

Überwiegend sehr positive. Neben eigenen Universitätsangehörigen und einigen lokalen Gasthörern haben sich zum Teil auch Studierende und Lehrende anderer Universitäten online freischalten lassen. Einige dieser externen Zuhörer*innen haben regelmäßig teilgenommen und sich auch aktiv in die Diskussion eingebracht. Diesen inter-universitären Austausch erlebe ich als Bereicherung und könnte mir gut vorstellen, Live-Übertragungen auch dann weiterhin mit einzubeziehen, wenn solche Ringvorlesungen wieder in Präsenz stattfinden können. Auch die Referierenden hatten auf diese Weise die Möglichkeit, die anderen Vorträge ebenfalls zu hören.

Dass die Diskussionsbeiträge über den Chat eingehen, ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig und erfordert eine andere Art der Anstrengung. Natürlich geht auch einiges verloren, was im persönlichen Austausch viel einfacher wäre, aber insgesamt sehe ich durchaus auch die positiven Aspekte.

Hannah Arendt ist 1975 gestorben. Sie hat sich in ihren Werken mit Themen wie dem Nationalsozialismus, dem Antisemitismus, der Studentenbewegung der 60er Jahre oder dem Vietnamkrieg beschäftigt, und war zu ihrer Zeit als politische Publizistin nicht unumstritten. Doch rückblickend wirken viele ihrer damaligen Überlegungen heute noch (oder wieder) brandaktuell. Welche Gegenwartsbezüge haben Sie bewogen, Hannah Arendt eine Ringvorlesung zu widmen?

Ganz konkret haben wir uns für den Text „Macht und Gewalt“ entschieden, der 1970 erschienen ist – das 50jährige Jubiläum der Veröffentlichung bot also einen äußerlichen Anlass. Ein zentrales Thema dieses Textes ist die definitorische Abgrenzung der Begriffe „Macht“ und „Gewalt“ voneinander. Hannah Arendt sieht hier einen fundamentalen Unterschied – ganz anders als beispielsweise Max Weber oder auch Michel Foucault. Am Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung lässt sich das gut erklären: Zwar haben Eltern Macht über ihre Kinder, doch längst nicht jedes Machtverhältnis muss gewaltförmig sein.

Das Besondere an Hannah Arendts Texten ist, dass sie eine Art Werkzeugkasten liefern, der sich auf ganz unterschiedliche Gegebenheiten anwenden lässt. Aktualitätsbezüge finden sich dabei in vielfacher Hinsicht – angefangen vom Thema der persönlichen Verantwortung über die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus oder auch in einer wieder sehr aktuell gewordenen Betrachtung über Flüchtlinge, die auf ihrer eigenen Fluchterfahrung basierte und in dem kleinen Text „Wir Flüchtlinge“ nachzulesen ist. Für Fragen von Bildung und Erziehung sind auch ihre Überlegungen zur generationalen Ordnung relevant.

Nehmen Sie die Studierenden von heute als stärker politisch interessiert wahr als beispielsweise in den 90er- und Nullerjahren?
Ich bin mit einer pauschalen Einordnung von früheren Generationen als apolitisch sehr vorsichtig. Studienergebnisse, die darauf hinzudeuten scheinen, sind immer sehr davon abhängig, wonach genau gefragt wurde. Eine Zurückhaltung gegenüber parteipolitischem Engagement und etablierten politischen Institutionen muss kein generelles politisches Desinteresse sein.  Sieht man sich die Shell-Jugendstudien seit den 90er Jahren im Detail an, lässt sich dort durchaus ein Interesse zum Beispiel an Umweltthemen ablesen. Aus meiner eigenen Beobachtung heraus würde ich sagen, dass aktuell bestimmte Themen wieder mehr in den Fokus rücken: Klimaprotest, Partizipation, Gerechtigkeit. Letztere in Bezug auf Bildung, Geschlecht, aber auch auf Generationengerechtigkeit. Die Sensibilität dafür ist bei den jüngeren Menschen groß.

Wenn Sie sich aus den verschiedenen Essays, Studien und anderen Veröffentlichungen von Hannah Arendt für ein Zitat oder eine zentrale Aussage entscheiden müssten, die jede/r Studierende kennen sollte, welche/s wäre das?

Es gibt zwei Zitate, die mir zu dieser Frage sofort eingefallen sind: „Die Freiheit, frei zu sein“ – diese Formulierung passt gut zum aktuellen Diskurs darüber, wer in unserer Gesellschaft das Recht, die Macht und die Möglichkeit hat, zu „sprechen“, sich also frei zu äußern und öffentlich zu positionieren.

Viel zitiert und sogar als T-Shirt-Aufdruck verbreitet ist auch Hannah Arendts Satz „Keiner hat das Recht zu gehorchen“, der mir als zweites in den Sinn gekommen ist. Aber letztlich sind solche schlagwortartigen Zitate wohl gar nicht so sehr in Hannah Arendts Sinn. Vielmehr muss man diese Äußerungen kontextualisieren und danach fragen, in welchem Zusammenhang sie entstanden sind. Das wäre vermutlich auch Hannah Arendt wichtig gewesen. Sie gehörte keiner bestimmten Denkschule an, ihre große Stärke war gerade ihre Unabhängigkeit. Sie vertraute auf die Kraft des Denkens, um zu einem eigenen, begründeten Urteil zu kommen und daraus wiederum ihr Handeln abzuleiten. Und so ein unabhängiger Denkansatz ist es, den ich den Studierenden viel lieber mitgeben möchte, als ein paar isolierte Zitate.

Lassen sich Hannah Arendts Begriffskonstruktionen von „Macht“ und „Gewalt“ auf das Beispiel der aktuellen politischen Unruhen nach der Abwahl von Präsident Donald Trump in den USA anwenden?

In den USA lässt sich aktuell beobachten, wie jemand aus einer Machtposition heraus, nämlich als amtierender Präsident, gewaltvolle Proteste angestoßen hat. Aber wir werden jetzt auch erleben, was passiert, wenn Donald Trump sich als Anstifter zurückzieht: dass sich nämlich die Gewalt verselbstständig – sie braucht die übergeordnete Machtinstanz nicht mehr. Da ist ganz gezielt ein Skript auf den Weg gebracht worden, das die politische Legitimation von Ämtern, Institutionen bis hin zur Gewaltenteilung infrage stellt und jetzt seine eigene gewaltförmige und destruktive Dynamik gegenüber der Demokratie und ihren Institutionen entfaltet.

In einem Essay mit dem Untertitel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ verarbeitet Hannah Arendt ihre Beobachtungen aus dem Prozess gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, einem der Hauptorganisatoren des Holocaust, den sie dennoch als „normalen Mann“ beschreibt.  Wo findet man solche Mitläufer-Typen heute?

Es ging Hannah Arendt darum, zu zeigen, dass zerstörerisches, menschenverachtendes Verhalten nicht von personifizierten Monstern ausgeht. Eichmann war eine zentrale Figur, der das „Funktionierenmüssen“ als Legitimation für sein Verhalten angeführt hat. Man musste ja gehorchen, man musste mitmachen, man war ja nur ein kleines Rädchen im Getriebe. Dieses Argumentationsmuster hat Hannah Arendt auseinandergenommen – und ist dafür auch kritisiert worden. Ihre Beschreibung von Eichmann als einen „Hanswurst“, die Tatsache, dass sie im Gerichtssaal in Lachen ausgebrochen ist, das ist ihr zum Vorwurf gemacht worden. Aber das Argument des Funktionierens oder auch die Lust am Funktionieren findet man auch in vielen Zusammenhängen wieder, wo Menschen offenkundigem Unrecht nicht widersprechen oder dagegen aufbegehren.

Ist das manchmal schon fast reflexhafte Infragestellen von Autoritäten und staatlichen Entscheidungen, wie wir es zum Beispiel in Bezug auf die Flüchtlingspolitik oder auch ganz aktuell in Bezug auf die Corona-Maßnahmen beobachten, das umgekehrte Extrem  -  oder ein normales Merkmal gesunder Demokratien?

Der Diagnose einer reflexhaften Kritik an staatlichen Vorgaben kann ich, etwa mit Bezug auf die Corona-Regeln, zustimmen, kritische Anfragen hingegen sind wichtige Momente demokratischer Auseinandersetzungen. Aber dieses Verhalten kann man ja auf unterschiedliche Weise lesen. Wenn wir hier über eine Krise der politischen Repräsentation sprechen, dann muss man vielleicht fragen: Welchen Autoritäten folgen die Handelnden denn stattdessen? Das müssen nicht zwangsläufig konkrete reale Personen sein, Menschen können sich auch hinter Argumentationsfiguren wie dem Wunsch nach einem libertären Staat oder staatlicher Deregulierung versammeln. Der Reflex gegen staatliche Autoritäten kann also auch ein Reflex sein, sich anderen (argumentativen) Autoritäten zuzuwenden, die etwa in den sozialen Medien, auch gar nicht immer direkt als solche zu identifizieren sind. Der Begriff des „Followers“ bezeichnet dieses vielleicht ganz gut.   

Von Hannah Arendt stammt die Formulierung von der „Revolte der Massen gegen den Wirklichkeitssinn des gesunden Menschenverstandes. Totalitäre Regime profitieren demnach davon, dass Menschen sich auch ohne echtes gemeinsames Ziel oder echte gemeinsame Überzeugung in Gruppen zusammenschließen, und so eine politische Macht entfalten, ohne selbst unbedingt besonders politisch zu sein. Ist die Gefahr solcher Zusammenschlüsse – auch ohne zentrale Leitfigur - im Internetzeitalter größer oder kleiner geworden?

Im Internet gewinnen solche Bewegungen eine ganz eigene Dynamik. Wenn wir uns zum Beispiel Corona-Leugner ansehen, dann haben diese ihre eigenen Argumentationsfiguren, auf die sie sich beziehen, und über die sie ihre Weltsicht autorisieren. Dies erfolgt über Internetforen, in denen bestimmte Inhalte verbreitet werden. Bis hin zu Weltverschwörungstheorien, die wiederum ganz oft auch antisemitische Merkmale aufweisen.

Gleichzeitig haben wir aber bei den digitalen Plattformen auch als neues Phänomen den Fall, dass bestimmte Personen ohne jegliche politische Legitimation als Autoritäten agieren – ich denke da zum Beispiel an den Twitter-Chef Jack Dorsey, der im Alleingang entschieden hat, den Account von Donald Trump zu sperren, was ja jetzt auch heftig diskutiert wird.

Wenn Sie Hannah Arendt heute in Ihre Ringvorlesung einladen könnten, über welches aktuelle politische Thema würden Sie gern mit ihr sprechen?

Ich fände es spannend, mit ihr über die Macht der Bilder zu sprechen. Bilder haben in unserer visuell geprägten Zeit eine historisch unvergleichliche Macht. Sie können extrem verdichten, extrem emotionalisieren – und sie müssen eigentlich immer in ihre genauen Kontexte eingeordnet und diesbezüglich befragt werden. Viele Studierende lieben es, mit Bildern zu arbeiten, um ihre Vorträge zu illustrieren, aber sie hinterfragen und analysieren ihr Material viel zu wenig. In welchem Zusammenhang ist es entstanden? Wer hat es gemacht und warum? Welchen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigt es – und welchen nicht? Zu Fragen der „visual literacy“ müssten wir mehr lehren, um zum kritischen Umgang mit Bildern zu befähigen. Aber es gibt viele weitere Themen, die mir einfallen würden, um sie mit Hannah Arendt zu diskutieren, das Attentat und der Prozess von Halle etwa oder, um mit einem Thema aus dem Bereich von Bildung und Erziehung zu enden, die Frage nach dem Wahlalter ab 16, wie es etwa von Fridays for Future gefordert wird, denn Hannah Arendt äußerte sich sehr kritisch gegenüber politischem Engagement von Jugendlichen und behält dieses Erwachsenen vor.  Hier könnten lohnenswerte Debatten über aktuelle Fragen der politischen Partizipation entstehen.

Interview: Sara Reinke

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Zur Person: Hannah Arendt

Hannah Arendt (1906 – 1975) war eine jüdische Publizistin und politische Theoretikerin. Sie stammte gebürtig aus Linden (heute Hannover-Linden), studierte in Marburg, Freiburg und Heidelberg – unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger, mit dem sie auch eine Affäre hatte – und emigrierte 1933, nach einer Verhaftung durch die Gestapo, zunächst nach Frankreich. Nach der Internierung in das Konzentrationslager Gurs, aus dem ihr die Flucht gelang, wanderte sie in die USA aus. Dort arbeitete sie als Journalistin und Dozentin bzw. Professorin und veröffentlichte zahlreiche politische Essays und Betrachtungen. Ihre Studie „On Violence“, deutscher Titel „Macht und Gewalt“, erschien 1970 in den USA, in England und in Deutschland. Hannah Arendt setzt sich darin mit der Studentenbewegung der 60er Jahre auseinander und legt eine politische Theorie der Begriffe „Macht“ und „Gewalt“ vor.

 

Die Ringvorlesung „Hannah Arendt – Macht und Gewalt“

Die interdisziplinär angelegte Ringvorlesung zu Hannah Arendt ist ein gemeinsames Projekt des Instituts für Erziehungswissenschaften (Prof. Dr. Meike Baader, Dr. Tatjana Freytag) und des Instituts für evangelische Theologie (Prof. Dr. Carsten Jochum-Bortfeld) mit der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften.  Die Referentinnen und Referenten setzen sich in ihren Vorträgen mit Hannah Arendts Texten, ihrem Denken, ihren Zugängen und Impulsen auseinander.  

„Macht und Gewalt“ eröffnet vielfältige Anknüpfungspunkte zum gesamten Werk von Arendt, aber auch für viele höchst aktuelle Fragen in Zeiten, die durch eine Einschränkung des öffentlichen Lebens, Kritik an der Demokratie, Rückkehr von autoritärem Denken, einer Rückbesinnung auf den Nationalstaat und neue Formen von Hass und Gewalt sowie von wachsendem Antisemitismus gekennzeichnet sind. Ziel der Ringvorlesung ist es, an diese Debatten anzuknüpfen, interdisziplinäre Arendt-Lektüren gemeinsam zu diskutieren und damit einmal mehr nach der Aktualität ihres Denkens zu fragen sowie danach, welche Antworten und Impulse sich bei ihr für wichtige gegenwärtige Fragen finden.

Die Veranstaltung findet immer Donnerstag von 14 bis 16 Uhr statt - aufgrund der Coronapandemie im virtuellen Raum.

Erstellt von Sara Reinke


Prof. Dr. Meike Baader gehört zu den Initiator*innen der Ringvorlesung zu Hannah Arendts Werk "Macht und Gewalt". Foto: Daniel Kunzfeld

"Macht und Gewalt", im Original "On Violence" erschien im Jahr 1970 und setzt sich mit den Studentenbewegungen der 60er Jahre auseinander.