OFDb - Wiegenlied für eine Leiche (1964) - Eine Kritik von yggdrasil
Review

Das „Wiegenlied für eine Leiche“ (Gott, ich hasse deutsche Verleihtitel) ist einer von den Filmen, die man einmal sieht und nie wieder vergisst. Das ist natürlich im positiven Sinne gemeint.

Dabei bringt der Film nominell wenig mit, was ihn so unglaublich gut machen könnte. Er ist in Schwarz-Weiß gedreht, hat von dieser Tatsache aber nichts (er wird dadurch nicht gruseliger oder stimmungsvoller). Er ist mit 127 Minuten ziemlich lang für relativ wenig Handlung. Die Story ist ab der Mitte des Films so recht keine Überraschung mehr. Und die Schauspieler haben durch die Bank ihren optischen Zenit deutlich überschritten.

Alles klingt wenig spannend. Und trotzdem klebt der geneigte Zuschauer vom Start an quasi an der Leinwand und ist sich vom ersten Augenblick an bewusst, dass er Zeuge ganz großen Kinos sein darf.

Der Film fängt schon großartig an. Wir erleben ein Familiendrama der Vergangenheit. Aber nicht dokumentarisch. Sondern wie einen Traum oder eine böse Erinnerung. Offensichtlich Charlottes Erinnerung oder Vorstellung, denn der Regisseur Robert Aldrich vermeidet es sehr gekonnt, Charlottes Gesicht zu zeigen. Dafür zeigt er uns schon einmal, wo vom künstlerischen Anspruch her der Hammer hängt. Er setzt den ganzen Film über Kamera und Licht so virtuos ein, dass es eine Freude ist, zuzusehen. Ich kann mich an keinen Film erinnern, wo die Schwüle der Tage, der Mief eines alten Hauses und das Alleinsein so gründlich optisch dargestellt worden ist. Hier wird schnell klar, dass der Wahnsinn die Handlung bestimmt. Und dabei ist Schwarz-Weiß sicher wieder hilfreich.

Ich denke, Aldrichs Regie hätte schon gereicht, den Film zu einem Klassiker werden zu lassen. Aber das wahre Pfund sind die drei weiblichen (Haupt-)Schauspieler (sorry, Cotton, aber Dein sehr ordentliches Spiel geht gnadenlos unter). Aldrich lässt seine Damen in einer fast schon theaterähnlichen Umgebung aufeinander prallen und schafft damit die Rahmenbedingungen für eine der eindrucksvollsten Gruppendarbietung, die ich kenne.

Beginnen wir mit Bette Davis, die der wohl berühmteste Part des Dreigestirns ist. Sie spielt die arme Charlotte, die auch im fortgeschrittenen Alter den Tod ihres Liebhabers nicht verarbeitet hat und in dem Spannungsfeld aus Sühnen und Bewahren den Verstand verloren oder zumindest schon schwer eingebüßt hat. Für eine Frau wie Davis war es sicher ein Wagnis, als Ex-Diva abgehalftert vor die Kamera zu treten und dann noch die Wahnsinnige zu geben. Nun mag es sein, dass der offene Wahn leicht zu spielen ist. Das sehe ich auch nicht als das Großartige an ihrer Leistung an. Sondern was unglaublich gut rüberkommt ist das gefangene Mädchen im Körper einer alten Frau. Seht Euch die Szene auf dem Friedhof an, und Ihr wisst, was ich meine.

Noch besser als Davis gefällt mir Agnes Moorehead als schlampige, schroffe Haushaltshilfe. Auch wenn es nur eine Nebenrolle ist, schafft Frau Moorehead mit ihrer Darbietung zwei wichtige Dinge. Zum einen personifiziert sie den Verfall von Charlottes Schutzmechanismen. Wie das zum Abriss freigegebene Haus kann Sie das Eindringen neuer Gefahren nicht verhindern oder will es vielleicht auch gar nicht mehr. Denn, und das ist Punkt Zwei, sie lässt den Zuschauer im Unklaren über ihre Beweggründe. Wartet Sie nur auf ein Erbe und lässt deswegen alle Demütigungen über sich ergehen, oder brennt hinter ihrer herzzerreißend schäbigen Fassade noch das Feuer der lebenslangen Zuneigung?

Kommen wir zur besten Darstellerin: Olivia de Havilland. Gerade das Stadium des Verblühens beginnend gibt die Frau, die sonst doch immer soooo nett war, Charlottes Stiefschwester Miriam. Sie betritt als scheinbar letzte Rettung von Charlotte das Haus und entpuppt sich als die personifizierte Niedertracht. Nun mag man sagen, dass es nicht schwierig ist, ein Schwein zu spielen. Mag stimmen. Aber kann man dann eine Szene weiter wieder das Unschuldslamm geben? Ich denke, de Havilland hat mit ihrer Darbietung aus Härte, Verlogenheit und Berechnung etwas abgeliefert, das selbst Lady MacBeth wie ein Waisenmädchen aussehen lässt. Dass es dafür keinen Oscar gab werde ich nie verstehen.

Der Rest der Schauspieler macht seine Sache gut. Auch Musik und Ausstattung sind sehr zufrieden stellend. Aber belanglos verglichen mit der Wucht von Davis, Moorehead, de Havilland und Aldrich. Sie alle haben einen guten Stoff virtuos umgesetzt. Auch wenn wir nie erfahren werden, wo die letzte Reise hingeht, ist „Wiegenlied für eine Leiche“ ganz großes Kino, dass seine Spannung aus den Leistungen der Schauspieler und einer sehr dichten Atmosphäre zieht. Ein Muss. Und keinen Punkt weniger als 10!

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