The Better Angels | Kritik | Film | critic.de

The Better Angels – Kritik

Abraham Lincolns Kindheit wird erinnert, mit den Füßen.

The Better Angels 01

Die Atmosphäre im Kinosaal nach The Better Angels ist seltsam rege, viele haben es eilig, nach draußen zu kommen, dabei scheint es gerade hier sinnvoll zu sein, den Abspann noch zur Regeneration zu nutzen, ein paar Minuten ohne exzessive Bewegung vor den Augen zu harren, wieder in eine irgendwie bestimmte Gegenwart zu finden, und sei es einfach eine farbige. Draußen sprechen die Menschen so, als hätten sie die letzten 95 Minuten Siesta gehalten: sachliche Gespräche, gänzlich unbeeindruckt. „Terrence Malick“ hört man überall ganz nüchtern heraus, und ebenso unpathetisch wird dazu genickt. Malick hat den Film mitproduziert, und seine poetische Handschrift lässt sich zweifelsohne nicht verleugnen. Na und? Die explizite Tuchfühlung mit dessen Filmphilosophie muss The Better Angels nicht zwingend zum Abziehbild derselben diskreditieren, zumal Regisseur A.J. Edwards deren versierte poetische Triebkraft nicht einfach zum optischen Selbstzweck glättet. Anders nämlich als bei Malick wird hier die Kamera weniger zum Interessenvertreter einer Transzendentalphilosophie als einer Geschichtsphilosophie. Unter diesen Vorzeichen ist der Modus der Darstellung des Films eben nicht einfach nur geborgte Schönheit; vielmehr entfaltet sie ein höchst einnehmendes und autonomes epistemisches Programm: Eines, das sich an die Geschichte, an die Erinnerung und letztlich auch an das Kino richtet.

Erinnerung und Geschichte verblassen

Unter dieser Prämisse war auch mein Ersteindruck ganz und gar nicht nüchterner Natur. In bestechendem Schwarzweiß wird die Kindheit Abraham Lincolns zu einer impressionistischen Erinnerungscollage. Erinnert wird aus dem Off. Die Ruhe, die Bedächtigkeit, die in der Stimme liegt, legt eine große zeitliche Lücke zwischen ihr und den Bildern nahe, eine verblassende Erinnerung, zumindest eine, der die Farben schon entschwunden sind. Die Stimme gehört Dennis Hanks, einem Cousin von Lincolns Mutter, der hier selbst (im Bild) noch als Jugendlicher in Erscheinung tritt. Die Idee des Entschwindens ist ohnehin schon das generelle poetische Programm von The Better Angels. Diese Poetik, so sehr sie aus dem Malick’schen Kosmos entnommen ist – die Narration, die hinter dem Bildreigen nur noch als Schema erkennbar bleibt; kosmische Zusammenhänge statt Mikrokausalitäten –, rahmt hier ganz explizit zeitliche Dimensionen: In dem Maße, in dem die Erinnerung ausbleicht, bleicht auch die Geschichte aus. Der Mythos Lincoln, der alle dargestellte Konkretheit in den Modus des Sakralen, Auratischen verschiebt, bleibt hier nur noch in Spuren übrig. Monumentale Aufnahmen im Säulentempel des Lincoln Memorial in Washington leiten in den Film ein. Die Statue selbst ist nicht zu sehen. Anschließend spielt sich alles in Indiana ab, in einer kargen Waldhütte und – natürlich – in der Natur rundherum. Dass es hierbei um die Kindheit Abraham Lincolns geht, wirkt über weite Strecken fast zufällig.

Verschobener Mythos

The Better Angels 02

Der Mythos, der an Lincoln haftet, ist von der Figur abgeblättert, und zwar gerade durch das Verhältnis von The Better Angels zur Geschichte. Das Setting bietet kaum Raum für historische Signifikanten; Latzhosen, Landwirtschaftsgeräte, ein Bett, eine Feuerstelle, viel mehr deutet nicht zurück ins frühe 19. Jahrhundert in Amerika. Die Faktizität dieser Zeit ist diffus geworden, sowohl als Erinnerung wie auch als Geschichte, sie ist unbeständig geworden; Gift für den Mythoserhalt. Beständig hingegen ist die Natur – und das ist weder romantisch verklärt noch anthroposophisch durchwirkt –, sie ist beständig, weil sie sich der Geschichte querstellt. Ihr Terrain und ihre Erscheinungen sind ahistorisch. Der Regen von heute unterscheidet sich nicht vom Regen vor 200 Jahren. Lincoln ist nicht mehr die Lichtgestalt, als die er uns geläufig ist, er wird dort sichtbar, wo es die Natur (und natürlich auch die Kamera) zulässt, dass Licht auf ihn fällt. Die Kamera wird dabei zum Agenten dieser Verschiebung: ständig in Bewegung, kreist sie um die Figuren, ertappt ihre Gesichter, tastet sie ab, verliert sie aus dem Blickfeld, findet sich zurecht in der Umgebung und kehrt zu ihnen zurück – Malicks tanzende Kamera, fraglos; aber ist es nicht das Wesen der Erinnerung, dass man einem Gesicht nur für Augenblicke habhaft wird?

Taktilität der Erinnerung

Das Habhaftwerden der Vergangenheit (egal ob Geschichte oder Erinnerung) ist eine sinnliche Arbeit, aber eben keine des Sehens. Als Erinnerungsbilder sind die Aufnahmen von The Better Angels in erster Linie Bilder des Tastsinns. Kinder spielen im Bach, sie rutschen mit den nackten Füßen auf den glatt geschliffenen Steinen, versuchen das Gleichgewicht zu halten, es plätschert laut, das fließende Wasser, der Wind, der durch den Wald weht, alles ist präzise hörbar; der Gleichgewichtssinn liegt im Ohr. Die Kamera ist auf die Füße gerichtet, sie sind schmutzig, sie sind wackelig auf der glatten Oberfläche, sie werden mit (kaltem) Wasser umspült. Die Füße erinnern, nicht das Auge und nicht die Großhirnrinde. The Better Angels funktioniert als somatischer Nachvollzug, nicht (zugegeben: fast nicht) als ein Abrufen von Vorentwürfen aus einem kollektiven Erinnerungsapparat, und deswegen nagt der Film – Terrence Malicks apostolischer Geist hin oder her – konsequent und bemerkenswert an der Frage: Wie kann das Kino, das doch ständig gezwungen ist, irgendwie zu sehen, das Nicht-Sichtbare, die Erinnerung und die Geschichte, sehen? – Es kann sie mit den Füßen sehen.

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Kommentare


Lutz Granert

Auch ich saß in der "Panorama"-Vorstellung der Berlinale und ich habe in den ermüdenden, sich variierend wiederholenden Szenenfolgen keinen Mehrwert erkennen können. Die Sonnenstrahlen, wie sie in Untersicht durch die Baumwipfel brechen - das ist die in substanzlose Bilder gekleidete Transzendentalphilosophie Malicks. Auch in der Erzählung, die triviale Begebenheiten einer entbehrungsreichen Kindheit in den USA des frühen 19. Jahrhunderts aneinander reiht, kann man keinen Bezug zu Abraham Lincoln, dem vorgegaukelten, eigentlichem Sujet von "The Better Angels" erkennen. In meinen Augen eine epigonische, 90-minütige Schlaftablette.






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