1 Einleitung

Michel Foucaults Körperbegriff, wie er – als eine von Disziplinartechniken geformte Apparatur – vor allem aus seinen Schriften der 1970er Jahre bekannt ist, scheint denkbar weit entfernt von Merleau-Pontys reichen und vielgestaltigen Ausdifferenzierungsversuchen der phänomenologischen Leib-Körper-Differenz. Zwar ist auch bei Foucault die Logik des Körpers stets gebunden an eine Logik des Raums bzw. der räumlichen Entfaltung; doch bleiben sowohl sein Körper- als auch sein Raumbegriff fundamental antiphänomenologisch. Ein Zusammendenken oder auch nur ein Vergleich beider Ansätze scheint daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt (vgl. Schneider 2019).

Dass es gleichwohl sinnvoll ist, Foucaults Raum- und Körperverständnis vor dem Hintergrund phänomenologischer Grundintuitionen zu thematisieren, liegt vor allem an einer kurzen Phase Mitte der 1960er Jahre in Foucaults Denken, in der dieser – überraschenderweise in Auseinandersetzung mit dem und im Anschluss an das Konzept der „Utopie“ – sowohl einen Raum- als auch einen Körperbegriff entwickelt, denen man mit Grund in zentralen Hinsichten eine große Nähe zu Intuitionen Merleau-Pontys und anderer Phänomenologen attestieren kann. Um den anderen Raumbegriff – von Foucault gefasst unter dem Titel der „Heterotopie“ – soll es in Abschn. 1 des vorliegenden Textes gehen, um den anderen Körperbegriff – von Foucault als „utopischer Körper“ thematisiert – und auch das Zusammenspiel beider – also von Heterotopie und utopischem Körper – in Abschn. 2 (wobei die Spiegelerfahrung, Zentrum des Lacan’schen „Spiegelstadiums“, in Foucaults Reflexionen keine unwesentliche Rolle spielen wird). Abschn. 3 schließlich versucht mit Foucault über Foucault hinauszugehen: in Anlehnung vor allem an Roland Barthes. Dieser nämlich entwickelt im Jahr 1977 in seinen ersten Veranstaltungen am Collège de France eine Vorstellung vom Zusammenspiel anderer Räume mit anderen Körpern – ebenfalls in Auseinandersetzung mit der und im Anschluss an die Tradition der Utopie –, die sich deutlich an Foucault orientiert und doch zugleich an entscheidender Stelle über ihn hinausgeht.

2 Foucaults Bestimmung der „Heterotopie“

Die Textgrundlage zur Bestimmung des Konzeptes der „Heterotopie“ in Foucaults Werk ist denkbar schmal. Zum ersten Mal taucht der Begriff im Jahr 1966 im Vorwort zu Les mots et les choses (vgl. Foucault 1974) auf und soll dort helfen, die von Borges vorgestellte seltsame und verwirrende diskursive Präsentation der Ordnung der Dinge in einer „chinesischen Enzyklopädie“ theoretisch zu beschreiben. Spielt der Begriff – der hier deutlich als eine Variation des Bataille’schen Begriffs der „Heterologie“ gedacht ist – im genannten Vorwort nur eine Nebenrolle (im Werk selbst kommt er gar nicht mehr vor), stellt Foucault ihn in einem Radiovortrag mit dem Titel „Les Hétérotopies“, der als Beitrag zu einer Serie von Vorträgen zum Thema „Utopie und Literatur“ im Dezember 1966 gesendet wurde, ins Zentrum seiner Überlegungen. Im Jahr 1967 schließlich überarbeitet Foucault auf Nachfrage des Architekten Lionel Schein besagten Radiovortrag, um seine Gedanken zur Heterotopie einer Gruppe von theoretisch interessierten Architekten in Paris vorstellen zu können. Diese überarbeitete Version hat Foucault selbst im Weiteren nicht beachtet und auch nicht publiziert; sie wurde erst im Jahr 1984 – Foucaults Todesjahr – im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin in der Architekturzeitschrift Architécture, Mouvement, Continuité unter dem Titel „Des espaces autres“ veröffentlicht.Footnote 1

Nun variiert die Idee der „Heterotopien“ nicht unbeträchtlich zwischen den genannten Texten – vor allem zwischen der Verwendung des Begriffs im Vorwort zu Les mots et les choses und derjenigen in den späteren Vorträgen –, gleichwohl lässt sich aus allem so etwas wie eine Kernidee isolieren (für eine ausführlichere Darstellung siehe Klass 2008, 2009).

Um diese einsichtig machen zu können, ist unverzichtbar, zuerst zu verstehen, um welche Art von Raumverständnis es beim Konzept „Heterotopie“ – das, wie gesagt, eine Fortentwicklung des Bataille’schen, diskursorientierten Konzepts der Heterologie darstellt – überhaupt geht. Zwei Ebenen gilt es dazu voneinander abzuheben: eine topologische von einer topographischen. Diese Unterscheidung wird klarer, wenn man Foucault darin folgt, sein Konzept „Heterotopie“ durch Anlehnung an das und zugleich in Abgrenzung vom Konzept der „Utopie“ zu erläutern (was Foucault selbst in allen drei genannten Texten tut). „Utopien“ sind, wie das Wort sagt, zuerst einmal eine Negation: Nicht-Orte. Was wird hier negiert? Für Foucault ist die Sache klar (etwas zu klar): Utopien, behauptet Foucault, seien Nicht-Orte, insofern sie „ohne realen Ort“ in der Welt seien, „zutiefst irreale Räume“ (Foucault 2017, S. 935). Dies ist für Foucault gleichbedeutend damit, dass sie bloße Fiktion sind, d. h. „geboren im Kopf der Menschen“ (Foucault 2013b, S. 9). Diese Negation sei eine topographische genannt: Ein Nicht-Ort ist hier gedacht als Ort, der nicht real existiert, in einem bestehenden Raumgefüge nicht vorkommt. Gleichwohl, führt Foucault seine Überlegungen fort, „trösten“ Utopien: „Die Utopien“, heißt es in Les mots les choses, „trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten, leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang schimärisch ist“ (Foucault 1974, S. 20). Utopien sind also Negationen, aber: sie machen dabei doch Sinn, vermögen es, trotz Negation, Sinn zu generieren, sich, wie Foucault schreibt, „in der fundamentalen Dimension der fabula“ (Foucault 1974, S. 20) anzusiedeln. Negiert wird also in der Utopie der Ort in der Welt, nicht aber, so zumindest sieht es Foucault, der Ort im symbolischen System; anders gesagt: Topographisch ist die Utopie eine Negation, topologisch – im Sinne von: in der Architektur der SinngeneseFootnote 2 – dagegen Affirmation; denn sie greift den Sinnbestand, d. i. die Ordnung der Welt und der Dinge, nicht an. Im Gegenteil: Sie hilft gar, Lücken zu schließen, bestehende Topologien zu „glätten“ und so über reale Brüche und Unsicherheiten hinwegzu-„trösten“.

In dem letztgenannten Charakteristikum unterscheiden sich Heterotopien nun laut Foucault fundamental von Utopien. Zwar ist auch das „heteron“ in Heterotopien zuerst gemeint als eine Negation; Foucault nennt Heterotopien selbst explizit auch „Atopie“Footnote 3. Doch negiert diese Atopie dabei genau das, was eben die Utopie laut Foucault noch affirmiert: die Topologie des bestehenden Sinngefüges, das Geflecht von Relationen und Bezüglichkeiten, das Sinngenese allererst möglich macht. Dieses atopische Moment, diese Negation der bestehenden Topologie – der sich die Heterotopie so „entgegensetzt“ bzw. „widersetzt“ (Foucault 2013b, S. 10) – führt zu einer Beunruhigung vor allem auf der Ebene des Sinns, zu Unverstehbarkeit und Verwirrung. „Wie das denken?“, das ist nach Foucault die Frage angesichts der seltsamen „chinesischen Enzyklopädie“ von Borges, der das Konzept der Heterotopie eine Form zu geben versucht.

So weit das grobe Schema. Das sich nun, wie erwähnt, zum einen im Folgenden wandelt und dabei weiter ausdifferenziert; und das damit zum anderen weiter ausdifferenziert werden muss, um überhaupt verständlich zu bleiben.

Der Wandel und die weitere Ausdifferenzierung des Konzepts der Heterotopie vollziehen sich, wie erwähnt, vor allem im Übergang von der Einleitung von Les mots et les choses zu den beiden Vorträgen „Les hétérotopies“ und „Des espaces autres“. Während im erstgenannten Text nämlich Heterotopien eigentlich noch ganz und gar als Heterologien gefasst sind – es geht hier, wie angesprochen, zuerst um diskursive (Un-)Ordnungen –, präsentiert Foucault Heterotopien in den späteren Texten selbst als reale Orte einer gegebenen Topographie, die klar benennbar sind: Kinos, Friedhöfe, Bordelle, Gärten, den Club Méditerranée, Museen, Schiffe u. a. (vgl. Foucault 2013b, S. 11 ff.; 2017, S. 936 ff.). Wodurch aus der vordem rein topologisch gedachten Negation nun eine zugleich topographische zu werden scheint: Es geht fortan um reale Orte, und zwar solche, die sich nicht nur von anderen in Gestalt und Funktion eines gegebenen Ortsgefüges unterscheiden, sondern die sich allen anderen Orten eines Ortsgefüges entgegenstellen; und dabei und dadurch, wie Foucault schreibt, die gegebene Ordnung „beunruhigen“ oder auch „neutralisieren“, „suspendieren“, „unterminieren“, „erschüttern“, „verkehren“ oder gar „zerstören“ (vgl. Foucault 2013b, S. 10; 2017, S. 935). Kurz: Heterotopien negieren das bestehende Raumgefüge, das stets zugleich ein Sinngefüge ist, in einer sehr großen Bandbreite unterschiedlicher Arten von Negation.Footnote 4

Diese topographische Neubestimmung der Heterotopien wirft nun freilich eine Reihe von Verständnisfragen auf und nötigt so zu den genannten weiteren Ausdifferenzierungen. Besagte Verständnisfragen betreffen einerseits die verschiedenen Formen der Negation (denn „suspendieren“ ist doch etwas fundamental anderes als etwa „verkehren“ oder sogar „zerstören“). Vor allem aber gilt es das folgende Problem zu lösen: Wenn auch Heterotopien topographisch gedacht werden sollen – er nennt die Heterotopie in den Vorträgen explizit einen „realen, auf der Karte zu findenden Ort“ (Foucault 2013b, S. 9) –, sie dabei zugleich aber „eine Art Utopie“ (und nicht einfach nur irgendwelche weiteren Orte) sein sollen: Was meint dann hier „Verwirklichung“?

Bekannt ist, dass es in der Geschichte der Utopie zahlreiche Verwirklichungsversuche gegeben hat: begonnen mit den frühsozialistischen ProjektenFootnote 5 über die Gartenstadt-Utopien Ende des 19., Anfang des 20. JahrhundertsFootnote 6 und die Großstadtphantasien vieler Bauhaus-Architekten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu den Aussteigerkommunen in der westlichen Welt vor allem ab den 1960er Jahren. Eine derartige Form von „Verwirklichung“ aber hat Foucault ganz offensichtlich nicht gemeint. Ganz empirisch kann das nicht sein – ein Friedhof, Bordell oder Schiff sind weder in ihrer Ausgestaltung noch in ihrer Funktion das Gleiche wie eine irgendwo in einem unbekannten Land gegründete neue Gemeinschaft, in der Gleichgesinnte eine bessere Welt aufzubauen versuchen –, aber auch theoretisch nicht. Und das schon allein deshalb, weil sie, eingedenk der bisherigen Bestimmungen Foucaults sowohl der Utopie als auch der Heterotopie, ein Paradox beschreiben: wie verwirklichen, wie „real“ werden lassen, was sich per definitionem als irreal und damit nicht zu verwirklichen ausweist – wie also das Unwirkliche verwirklichen, ohne es zu zerstören?Footnote 7

Um diese zentrale Frage beantworten zu können, muss man klären, was an Utopischem es eigentlich genau ist, das in Heterotopien real werden soll (und damit Heterotopien erst zu dem machen, was sie sind; Utopisches real werden zu lassen: das ist das Eigentliche und Eigene von Heterotopien – lange bevor sie Widerstandsorte gegen „die Macht“ oder Sinnareale der „Transgression“ sindFootnote 8). Gemeinhin wird der Kern des Utopischen in Bildern oder Entwürfen einer besseren, ja perfekten Form gesellschaftlichen Zusammenlebens gesehen.Footnote 9 Das aber ist ganz offensichtlich nicht, was Foucault selbst mit „Verwirklichung“ von Utopischem meint, wenn er von Heterotopien redet (wie seine Beispiele zeigen: Friedhofe, Schiffe, Gärten sind nicht zuerst „wunderbare Städte mit weiten Avenuen“, nicht Orte endlich gelingender Sozialität o. Ä.). Nun ist freilich eben dies ganz sicher nicht das Einzige bzw. nur ein Teil des initialen Projekts der Utopie selbst. Im Zentrum schon der klassischen Utopie nämlich stand neben dem Traum einer besseren Form des Gemeinschaftslebens immer schon auch etwas anderes (und das kommt eben – gegen seine eigenen expliziten Bestimmungen von Utopie – auch bei Foucault zum Tragen; als bräche sich genau das kulturelle Unbewusste auch bei ihm Bahn, das er in Bezug auf andere immer beschworen, für sein eigenes Denken aber nie in Anschlag gebracht hat). Auf dieses „andere“ verweist nicht zuletzt Foucaults Auszeichnung des Schiffes als „Heterotopie par excellence“ (Foucault 2013b, S. 21 f.; 2017, S. 942): Es geht auch ihm – wie schon den klassischen Utopien – um die Suche nach und das Finden von Orten (irgendwo im Unbekannten: wofür gemeinhin der Ozean steht, den zu durchqueren und in dem sich zu orientieren Schiffe vermögenFootnote 10), an denen die Grenze zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit aufgehoben ist.Footnote 11 Und zwar derart, dass das Mögliche und das Wirkliche nicht mehr einfach Gegensätze sind, sondern das Wirkliche sich öffnet für die in ihm selbst gegebenen realen, aber eben noch nicht verwirklichten Möglichkeiten (und zwar weil, das ist der kritische Stachel schon der Utopie, sie in der gegebenen Ordnung der Dinge nicht verwirklichbar sind – darin liegt die erste Auszeichnung bereits von Utopien als „Gegen-Räume[n]“ (Foucault 2013b, S. 10), als Entwürfen von Orten, deren Erscheinung bereits als ein Angriff auf das Bestehende scheintFootnote 12).

Fasst man es so, dann wäre die nun zu stellende Frage: Welche Art von realen Möglichkeiten sind es, denen die Heterotopie Raum – und zwar: realen Raum – zu geben vermag? Welche unverwirklichte Möglichkeit – deren Verwirklichung dann nicht einfach nur ein weiteres anderes, ein zusätzlicher Stein im Gefüge der Welt wäre (Erholungsräume, Verkehrsräume usw.), sondern dieses Gefüge im Allgemeinen in Frage zu stellen anhebt?Footnote 13 Bzw. konkreter Richtung Heterotopie gefragt: Welche unverwirklichte Möglichkeit erhält ihren realen Raum auf dem Schiff, im Bordell, im Club Méditerranée, im Garten oder auf dem Friedhof?

3 Foucaults Reflexionen zum „utopischen Körper“

An ebendiesem Punkt soll nun der Körper, genauer: der „utopische Körper“ ins Spiel kommen, so wie Foucault ihn im gleichnamigen Vortrag entwirft. Denn ohne ihn, scheint mir, kann die Frage nach der Verwirklichung eines durch bloße (wenn auch „reale“) Möglichkeit Ausgezeichneten nicht wirklich verständlich gemacht werden. Was also hat es mit diesem „utopischen Körper“ auf sich?

Foucault beginnt seine Überlegungen zum Thema in einem nur zwei Wochen nach der Radiosendung „Les Hétérotopies“ ausgestrahlten Vortrag mit Formulierungen, die, wie verschiedentlich festgestellt wurde, stark an phänomenologische Grundintuitionen erinnern. Diese Konstatierung einer Nähe – vornehmlich zu Merleau-Ponty – rührt wohl zuerst von Foucaults initialer Bestimmung des Körpers als eines unentrinnbaren Zugangs zur Welt her: „Ich könnte“, heißt es da, „bis ans Ende der Welt laufen, ich könnte mich morgens unter der Decke verkriechen, […] er [der Körper] wäre immer dort, wo ich bin. Er ist unausweichlich immer hier und niemals anderswo“ (Foucault 2013a, S. 25). Ebendiese letzte Formulierung – diejenige vom „anderswo“ – nun bringt Foucault dazu zu behaupten, dass mein Körper in dieser seiner Bestimmung als „absoluter Ort“, „mit dem ich buchstäblich eins bin“, „das genaue Gegenteil einer Utopie“ ist. „Mein Körper“, beschließt Foucault diesen Gedanken, „ist eine gnadenlose Topie“ (Foucault 2013a, S. 25).

Neben dem interessanten Detail, dass Foucault hier explizit auf den Landauer’schen Begriff der „Topie“ zurückgreift und damit seine Überlegungen – gewollt oder ungewollt – in diese Tradition der Utopie stellt, ist es natürlich vor allem die starke Dichotomisierung zwischen Topie und Utopie, die ins Auge springt. Sie erinnert in ihrer dialektischen Unerbittlichkeit auf den ersten Blick eher an Sartre als an Merleau-Ponty, zumal sie auch in der folgenden Verfeinerung des Gedankens methodisch ausschlaggebend bleibt: Denn der Körper – als „absoluter Ort“ – ist da nicht nur das vollständige Gegenteil jeder Utopie – als eines „ortlosen Orts“ –, sondern der Körper ist zugleich auch der Ursprung aller Utopien. Und zwar wieder in Form eines Körpers, freilich in der seiner eigenen Negation: eines körperlosen Körpers („d’un corps incorporel“). Als Beispiele für diese köperlosen Körper nennt Foucault Wesen wie Feen oder Kobolde, Phantasmen auch vom leichten, unbeschwerten oder unsichtbaren Körper (vgl. Foucault 2013a, S. 26).

In diesen Beispielen deutet sich aber auch schon an, wie – phänomenologisch gesprochen – Foucault den Dreh weg vom methodischen „Sartrianismus“ zum methodischen „Merleau-Pontyismus“ schafft: Denn die bisher eingeführte starke Dichotomisierung zwischen Ort und Nicht-Ort, anwesend und abwesend, Sein und Nichts (und nichts dazwischen) lässt sich laut Foucault, schaut man sich den Körper genauer an, nicht durchhalten, weil er sich „nicht so leicht reduzieren“ lässt (Foucault 2013a, S. 28). Auch Foucault entdeckt also, dass es etwas am Körper gibt, das mehr oder etwas anderes ist als Körper, als im Begriff des Körpers als eines anwesenden Etwas gedacht ist.Footnote 14

Was ist sein Argument für diesen Antireduktionismus, für dieses Abheben des Körpers von sich selbst? Das Argument lautet, dass der Körper selbst immer „ortlose Orte“ (Foucault 2013a, S. 28) besitze. Und als Beispiel nennt er hier tatsächlich eines, das wirklich jedem Phänomenologen wohlvertraut ist: den eigenen Kopf. Der einerseits durch die Augen die Welt in sich hineinkommen und so Innen und Außen untrennbar voneinander werden lässt, und auch: ununterscheidbar. Und damit eben auch die Trennung selbst von Innen und Außen in dieser Eindeutigkeit in Frage stellt. Und der sich andererseits nicht nur als vollkommen sichtbar (vor allem in der „Nacktheit“ im Blick des anderen, wie es noch einmal Sartre’sch heißt), sondern zugleich auch als opak und unsichtbar erweist – verkörpert etwa in der Rückseite des eigenen Schädels, von der man weiß, dass sie da ist, die man aber nie sehen kann. Und damit den Schädel nie als Ganzes, als Einheit erfahren (vgl. Foucault 2013a, S. 28 f.).

In all diesen – und noch einigen weiteren – Reflexionen zur Selbstdifferenz des Körpers geht es Foucault vor allem darum, einen Punkt zu herauszustreichen: Es gibt nicht einfach den Raum, der da ist, und darin einen Körper, der ebenfalls da ist, getrennt als von seinem Gegenteil von allem, was nicht ist, „ohne Ort“ und „körperlos“, sondern der Körper ist – wie der Raum in der Heterotopie – zugleich Ort und Nicht-Ort, Körper und Nicht-Körper, ist Ding, und zugleich „ist nichts weniger Ding als er“. Daher, fasst Foucault diesen Gedanken zusammen, sei es „dumm, wenn ich eben meinte, der Körper sei niemals anderswo, er sei immer nur hier und widersetze sich jeglicher Utopie“ (Foucault 2013a, S. 33). Sondern „in Wirklichkeit ist mein Körper stets anderswo, er ist mit allen ‚Anderswos‘ der Welt verbunden, er ist anderswo als in der Welt“. Prägnanter gesagt: Der Körper „ist der kleine utopische Kern, der Mittelpunkt der Welt“ (Foucault 2013a, S. 34) – und eben insofern als Körper immer schon „utopischer Körper“.

Das Problem ist nun aber – und das ist vielleicht das Besondere von Foucaults Position –, dass dieses utopische Moment des Körpers aus sich nicht erfahrbar ist; zumindest nicht in einer Welt, in der alles seinen Platz hat nur dadurch, dass etwas anderes diesen Platz eben nicht besetzt. Um erfahrbar sein zu können, braucht das den Körper konstituierende Zugleich von An- und Abwesenheit besondere Räume, die in vergleichbarer Weise zugleich sind und nicht sind wie der Körper und die daher dieser Art von Sein Raum zu geben vermögen. Und an dieser Stelle erhält der Spiegel für Foucault eine besondere Bedeutung: „Bedenkt man“, schreibt Foucault, „dass Spiegelbilder sich in einem für uns unzugänglichen Raum befinden […], und bedenkt man, dass [der] Spiegel […] sich stets anderswo [befindet], wird deutlich, dass nur Utopien die tiefgründige, beherrschende Utopie unseres Körpers in sich aufnehmen […] können“ (Foucault 2013a, S. 35) – d. h. erfahrbar machen.

Damit wird der Spiegel zum entscheidenden Scharnier zwischen den Konzepten des utopischen Körpers und der Heterotopie – was Foucault selbst 1966 nicht zu sehen imstande war, was aber im späten Text „Des espaces autres“ thematisch wird: „Ich glaube“, heißt es da, „dass es zwischen den Utopien und den Heterotopien eine gemeinsame Erfahrung gibt, für die der Spiegel steht“ (Foucault 2017, S. 935). Denn einerseits, so Foucault, sei der Spiegel „eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum“ (Foucault 2017, S. 935) – jenseits meiner selbst. Doch das ist eben nicht alles, da es eine zweite Seite ebendieser Erfahrung gibt, die den Spiegel zugleich zu einer Heterotopie mache, „insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde“ (Foucault 2017, S. 935). Diese Rückwirkung ist die folgende: „Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich wieder dort, wo ich bin“ (Foucault 2017, S. 935). Das also ist die Erfahrung, die der Spiegel eröffnet: mich mir selbst zu geben (mich an dem Ort zu „rekonstituieren“, wie es im Original heißt, an dem ich mich vorher schon immer wähnte) als ein Irrealer, d. i. als einer, der nur da und nur dann ist, als einer ist, wo er eben nicht ist: im Bild seiner selbst außer sich.Footnote 15 Was, umgekehrt, zugleich bedeutet: meine mich konstituierende Irrealität – man könnte auch sagen: meine realen Möglichkeiten – real zu erfahren, d. i. mich real zu erfahren als „utopischer Kern im Mittelpunkt der Welt“.

Verstünde man es freilich nur so wie bisher dargestellt – dass also erst besondere Räume wie Heterotopien das utopische Potenzial des Körpers freizusetzen imstande sind –, ergäbe sich ein einseitigeres Bild, als Foucault selbst zeichnet. Denn für ihn ist der Körper selbst in diesem Spiel nicht einfach passiv, nicht einfach das Ding, das im heterotopen Raum plötzlich sich öffnet für seine Möglichkeiten, sondern selbst ein „große[r] utopische[r] Akteur“, etwa in Praktiken wie „Maskieren, Schminken und Tätowieren“. Derartige Aktivitäten nämlich, so Foucault, wären beileibe nicht einfach dazu da, den Körper prothetisch zu steigern, ihn also „anders“ werden zu lassen im Sinne von: besser, größer, schöner, potenter. Sondern durch sie, so seine These, trete der Körper „in Kommunikation mit anderen Mächten und unsichtbaren Kräften“ (Foucault 2013a, S. 31). Besagte Aktivitäten täten dies, fährt er fort, indem sie „auf dem Körper eine Sprache nieder[legen], eine rätselhafte, verschlüsselte, geheime, heilige Sprache“, und so den Körper „in einen anderen Raum [versetzen], an einen anderen Ort, der nicht direkt zu dieser Welt gehört“. Kurz: „Maskieren, Tätowieren und Schminken [sind] Operationen, durch die der Körper aus seinem eigenen Raum herausgerissen und in einen anderen Raum versetzt wird“ (Foucault 2013a, S. 32).

Was geschieht hier? Das Schiff, dieses wichtigste Vehikel der utopischen Aktivität, trägt hier nicht mehr Körper vom Bekannten ins Unbekannte, vom Wirklichen zu seinen Möglichkeiten, sondern der Körper selbst wird zum Schiff: zum Medium des Übergangs vom Wirklichen ins Mögliche, zum Medium der Entortung.Footnote 16 Der utopische Körper ist so nicht mehr einfach „mit allen Anderswos der Welt verbunden“, wie es zu Anfang hieß, sondern er verbindet sie eigentlich erst miteinander. Seine eingangs beschriebene ontologische Ambiguität ist nicht nur ein Zustand, sie ist auch eine Bewegung. Es ist der utopische Körper, der das Anderswo ins Hier holt, der aus einer Topie eine U- oder Heterotopie macht, er ist Medium dieses Transfers.

Freilich braucht es dazu, so Foucault, Hilfsmittel, die dieses Potenzial und diese Macht in ihm aktiveren. Die für Foucault zuerst „Operationen“ sind, d. i. ritualisierte Körpertechniken wie eben Schminken, Tätowieren, Maskieren. Gerade das Tätowieren macht besonders sinnfällig, worum es Foucault geht: Die Haut wird klassisch als wichtige Innen-Außen-Grenze zwischen Körper und Umwelt beschrieben. Während nun Schminken und Maskieren sich auf besagter Haut niederlegen, um diese Grenze zwischen Innen und Außen zu verändern, geht das Tätowieren einen Schritt weiter: Denn es hinterlässt nicht nur auf der Haut sichtbare Spuren, sondern dringt in die Haut ein, perforiert sie, um sie durchlässig werden zu lassen. So wird einsichtig, was Foucault meint, wenn er schreibt, der Körper werde durch besagte Techniken „aus seinem eigenen Raum herausgerissen und in einen anderen Raum versetzt“ (Foucault 2013a, S. 32).

Wenn ich also – könnte man zusammenfassend sagen – am Ende des Abschnitts zur Heterotopie gefragt habe (um das Spezifische der Heterotopie als verwirklichte Utopie zu verstehen), welche Art von realen Möglichkeiten es seien, denen die Heterotopie Raum – und zwar: realen Raum – zu geben versucht, dann könnte man jetzt sagen: Es sind die des Körpers, genauer des Körpers, insofern er selbst immer schon utopischer Körper ist, insofern er selbst immer schon im Hier mit allen Anderswos der Welt verbunden ist. Bzw. diese Verbindung durch spezifische Praktiken und anhand spezifischer Techniken herstellt. Ganz konkret: der trauernde Körper, der auf dem Friedhof einen Raum erhält, an dem er mit der Unterscheidung Leben-Tod, die unseren Alltag rhythmisiert, sich nicht abzufinden braucht, diese hinter sich lässt; oder der begehrende Körper, der im Club Méditerranée eine Lust und ein Begehren lebt, für das es in einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung keinen Platz gibt. Das aber als reale Möglichkeit in ihm steckt, gelebt werden will.

4 Roland Barthes

Dieses Konzept von Heterotopie kann nun zwar zeigen, wie bestimmte Aktivitäten von Körpern – vielleicht sollte man vorsichtiger sagen: die Aktivierung bestimmter leiblicher Potenziale – in besonderen Räumen diesen Zugang zu ihren realen Möglichkeiten verschaffen, die das gegebene Wirkliche übersteigen und in Frage stellen;Footnote 17 was, wie ich eingangs zu zeigen versucht habe, ein wichtiger Teil des Utopischen ist. Was dabei aber verlorengeht, ist das zuerst genannte Kernelement des Utopischen: das kommunitäre. Das die besagten realen Möglichkeiten, oder genauer: das (Aus-)Leben der besagten Möglichkeiten, nicht nur individuell – man könnte auch sagen: egologisch –, sondern kollektiv verstanden und ins Werk gesetzt wissen möchte.Footnote 18

Diese Seite des Utopischen, die in Foucaults Heterotopie fast vollständig verschwunden ist, kommt nun bei Roland Barthes wieder zum Vorschein. Und zwar nicht einfach als ein anderes Konzept, das eben in dieser Hinsicht „besser“ ist als dasjenige Foucaults, sondern als ein Konzept, das sich in direkter Auseinandersetzung mit Foucault allererst entwickelt hat (d. i. zentrale Foucault’sche Motive aufnimmt und weiterentwickelt).

Auch die Darstellung dieses Modells sei auf wesentliche Momente beschränkt.Footnote 19 Ich beginne mit dem Ausweis einer intrinsischen Verbundenheit des Barthes’schen mit dem Foucault’schen Ansatz (dazu ausführlicher siehe Klass 2017). 1975 war, wie bekannt, Überwachen und Strafen (Foucault 1975) erschienen, 1976 Der Wille zum Wissen (Foucault 1976) – Foucaults machttheoretischen Hauptwerke. Ebenfalls 1976 trat Roland Barthes seinen Lehrstuhl für literarische Semiologie am Collège de France an, was zu einem guten Teil dem Engagement Michel Foucaults zu verdanken war, der Barthes für diese Position vorgeschlagen und dessen Kandidatur er intensiv unterstützt hatte. Eben deshalb fühlte Barthes sich Foucault gegenüber zu großem Dank verpflichtet, was deutliche Spuren in Barthes’ Antrittsvorlesung am Collège de France – überschrieben mit „Leçon“ (Barthes 1980) – am 7. Januar 1977 hinterlassen hat, ebenso wie in seiner eine Woche nach der Antrittsvorlesung beginnenden ersten Vorlesungsreihe zum Thema „Comment vivre ensemble“ (Barthes 2002). Beide Texte zusammengenommen stellen die Grundlage des Barthes’schen utopischen Projekts dar.

Beginnen wir mit Barthes’ Antrittsvorlesung am Collège de France. Ganz offensichtlich ist diese zuerst und vor allem Ausdruck der Barthes ein Leben lang begleitenden tiefen Verbundenheit mit der und Verehrung für die Literatur, zugleich ist sie aber auch ganz offensichtlich eine direkte Anknüpfung an, aber auch Auseinandersetzung mit Foucaults Forschen und Lehren der letzten Jahre: abzulesen schon an der einfachen Tatsache, dass Barthes in seiner Antrittsvorlesung zuerst und vor allem über das Walten und Wirken „der Macht“ nachdenkt, ein Konzept, das sich in dieser Eindeutigkeit zuvor bei ihm selten findet und das zugleich in dieser Zeit von niemandem so sehr besetzt und ausdekliniert worden ist wie von Foucault. Noch eindeutiger als auf die beiden eben genannten großen Studien bezieht sich Barthes’ Antrittsvorlesung auf Foucaults einige Jahre zuvor in ebenderselben Institution gehaltene Vorlesung L’ordre du discours (Foucault 1971). Wie Foucault in seiner Antrittsvorlesung vor ihm reflektiert auch Barthes in der seinen zuerst die normierende Macht der herrschenden Sprache; und wie Foucault sucht Barthes in seinen Reflexionen Wege, wie man ebendieser Macht sich entzieht bzw. ihr etwas entgegenstellt. Genauer: Dreh- und Angelpunkt sowohl der Foucault’schen als auch der Barthes’schen Antrittsvorlesung ist die Suche nach einem Ort „jenseits der Macht“ („hors-pouvoir“). Und zwar: im Schreiben und Sprechen selbst. Damit aber steuert Barthes geradewegs in denselben performativen Selbstwiderspruch wie Foucault: Denn wenn die Macht tatsächlich, wie Foucault in Der Wille zum Wissen behauptet, „überall“ ist – eine Behauptung, die Barthes so fast wörtlich in der Leçon übernimmt, wenn er schreibt: die Macht sei „in jedem Diskurs“, sogar in dem, der „von einer Stätte außerhalb der Macht (d’un lieu hors pouvoir) aus“ (Barthes 1980, S. 12/13) spricht –, wie dann je „hors-pouvoir“ sein können? Wie einer Macht entkommen, die sogar die Orte jenseits der Macht besetzt?

Indem man, lautet – grob verkürzt – Barthes’ Antwort, weniger nach der Sprache selbst als genauer nach dem genannten „Ort“ jenseits der Macht fragt: was zu tun Barthes eben in der schon eine Woche nach der Inauguralvorlesung beginnenden ersten Vorlesungsreihe unter dem genannten Titel „Wie zusammen leben?“ anhebt. Dabei sind es diesmal vor allem Foucaults Überlegungen zum Panopticon als Matrix des Panoptismus, der seinerseits für die Genese des modernen „autonomen“ Subjekts konstitutiv ist, die Barthes Anknüpfungspunkt und zugleich Kontrastfolie bedeuten. Zentrum der Barthes’schen Reflexionen zu einer möglichen Form des Zusammenlebens nämlich ist – darin dem Morus’schen Urbild aller Utopien verwandt – eine an einem mönchischen Vorbild orientierte Lebensweise, die wie der Panoptismus zuerst auf einer besonderen räumlichen Entfaltung bzw. Entfaltung im Raum beruht. Auf den ersten Blick wirkt Barthes’ Gemeinschaft dabei wie eine Disziplinargesellschaft, d. h. weist zu ihr deutlich große Ähnlichkeiten auf (das Kloster hat ja schon in Überwachen und Strafen in der Genese des Panoptismus eine wichtige Rolle gespielt); de facto aber soll sie genau deren Gegenteil vorstellen, weil sie an entscheidender Stelle von ihr abweicht.

Bevor ich mich diesem Modell genauer zuwende, zuvor ein paar Worte zur Genese desselben in Barthes’ Werk, denn es hat darin, schaut man nur etwas genauer hin, tatsächlich eine nicht unbeträchtliche Vorgeschichte. Sowohl der Körper als auch der Raum (bzw. der Ort oder auch besondere Orte) nämlich spielen seit je eine wichtige Rolle im Textkosmos des Semiologen – beide wären eine eigene Untersuchung wert, so viele Details lassen sich in Barthes’ Schriften finden, hat man erst einmal angefangen, nach ihnen zu suchen –, auch und gerade als zentrales Moment der Selbst- bzw. einer möglichen Gemeinschaftskonstitution (die ja das Zentrum auch des Panoptismus ausmachen). Zur Bedeutung des Körpers möchte ich nur auf einige zentrale Denkfiguren aus Le plaisir du texte von 1973 (Barthes 2010) verweisen, weil hier die bei Barthes allerorten auftauchende, für ihn wesentliche Frage nach der „Lust“, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten bereiten können, direkt mit der Frage nach dem Körper eng geführt wird. „Die Lust am Text“, heißt es da allgemein, „das ist jener Augenblick, in dem mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich“ (Barthes 2010, S. 27). Diese gleichzeitige Verortung des Ich im Körper und seine Trennung von ihm sorgen dafür, dass dieses Ich, dessen Körper da Lust empfindet, ein gespaltenes, „anachronistisches“ Subjekt ist: „Es genießt die Konsistenz seines Ich (das ist seine Lust [plaisir]) und sucht nach seinem Verlust (das ist seine Wollust [jouissance]). Es ist ein zweifach zerklüftetes, zweifach perverses Subjekt“ (Barthes 2010, S. 24). Eine derartige Spannung oder Spaltung des sich in der körperlichen Lust erfahrenden Ich verlängert Barthes schon hier gedanklich ins Kollektive, genauer: eine „Gesellschaft der Textfreunde“, die er wie folgt beschreibt: „Ihre Mitglieder hätten nichts miteinander gemein (denn es gibt keine zwangsläufige Übereinstimmung, was die Texte der Lust angeht).[…] Eine derartige Gesellschaft hätte keinen Ort, könnte sich allein in der reinen Atopie bewegen; sie wäre gleichwohl eine Art Phalanstère, denn die Widersprüche würden hier anerkannt (und folglich die Risiken ideologischer Heuchelei eingedämmt), die Differenz würde beachtet und der Konflikt zur Bedeutungslosigkeit verdammt (da er keinerlei Lust erzeugt)“ (Barthes 2010, S. 24).

Mit diesen wenigen Zitaten deutet sich eine Konstellation an, die die Subjektkonstitution sowohl an den Körper als auch an dessen Positionierung im Raum bindet (und zwar eine a- bzw. utopische Räumlichkeit). Dabei ist der – vorderhand überraschend wirkende – Verweis auf die Fourier’schen „Phalanstères“ (die gerade keine Atopie, sondern eine der wenigen realen Versuche von Utopieverwirklichung darstellen) in diesem Kontext kein zufälliger. Drei Jahre zuvor nämlich hatte sich Barthes ausführlich mit ebenjenen Phalanstères auseinandergesetzt: in einem zuerst 1970 in der Zeitschrift Critique veröffentlichten Text zu Charles Fourier, dem geistigen Vater der Phalanstère, ein Text, der in überarbeiteter Form in das 1971 erschienene Buch Sade, Fourier, Loyola (Barthes 1974) eingegangen ist.

Was Barthes bei Fourier vor allem sucht, ist ein Modell für eine von den vorherrschenden Mustern abweichende Art des Zusammenlebens (ein Thema, wie Barthes’ Biographin Tiphaine Samoyault jüngst nachgewiesen hat, das Barthes in dieser Zeit sowohl praktisch wie theoretisch interessiert; vgl. Samoyault 2015, S. 545 f.). Angezogen ist Barthes bei Fourier zuallererst von dessen grundsätzlich eudämonistischem Ansatz: „Der Beweggrund der ganzen Fourierschen Konstruktion (Kombination) ist nicht Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, usw. sondern Lust [plaisir]. Der Fourierismus ist ein radikaler Eudämonismus“, heißt es in Sade, Fourier, Loyola (Barthes 1974, S. 95). Diese Lust sorgt von sich aus dafür, dass ihr „alles andere nach[folgt]: die Organisation, die Grenzen, die Werte der Lust“ (Barthes 1974, S. 94). So entstehen eine „fatale Induktion, die die geringste Modulation unseres Begehrens an die weiteste Gesellschaftlichkeit bindet“, sowie ein „einzigartiger Raum, in dem sich Phantasma und gesellschaftliche Kombinatorik verbinden“ (Barthes 1974, S. 94). Dieser Raum – der sich konkret im Modell der Phalanstères niederschlagen soll – wird dabei deutlich abgehoben von der Raumvorstellung, wie andere Sozialutopiker seiner Zeit ihn bestimmen: so wie etwa „das Experiment Owens in New-Lamarck“, das „als ‚zu streng‘ verurteilt“ wurde – weil es die Lust, „das principium perennis der sozialen Organisation“ (Barthes 1974, S. 97), vergessen hat.

Von diesen kurzen Vorbemerkungen sei nun endlich zur Vorlesung Comment vivre ensemble übergegangen. In dieser stellt Barthes die Idee einer Utopie vor, die er „Idiorrhythmie“ nennt (was auf den ersten Blick überhaupt nicht darauf verweist, es könnte sich hier um ein Gegenkonzept zum Panopticon handeln). Ausgang seiner Reflexionen ist dabei – wie schon bei der oben genannten „Gesellschaft der Textfreunde“ – die Frage, wie eine Gemeinschaft derer denkbar wäre, die „nichts miteinander gemein haben“, kurz: eine Gemeinschaft der Verschiedenen – d. i. derer, die eben anders sind, abweichen von der Ordnung des Gegebenen. Diese Andersheit macht Barthes dabei freilich nicht an Charakter, Überzeugungen oder mentalen Haltungen fest (es geht also nicht um „Pluralität“ im eminent politischen Sinne, wie man sie etwa bei Hannah Arendt findet), sondern am – leiblich gedachten – „Rhythmus“ eines Lebens: als basalste, sinnlichste und zugleich unverfügbarste Stufe der Differenz. Deren Eigenheit es für Barthes bei der und durch die Vergemeinschaftung zuerst zu schützen gilt (daher die Idee einer „Idiorrhythmie“: des Eigen-Rhythmus), ganz wie Kontraktualisten die Freiheit, die für den Gemeinschaftsvertrag aufgegeben wird, eben durch dieses Aufgeben zu schützen suchen.

Nun lässt sich ein solcher leiblicher Eigenrhythmus freilich nicht dadurch schützen, dass man – eben wie bei einem Vertrag – Grenzen festlegt und Grenzüberschreitungen sanktioniert (wie der klassische Kontraktualismus dies versucht). Sondern – und hier kommt die Bedeutung des Raums ins Spiel – vor allem durch eine Gestaltung von Lebensräumen, die verschiedenen Rhythmen möglich macht, nebeneinander zu existieren, ohne deshalb in egologischen Atomismus zu zerstäuben (wo dann eben jeder einfach „nach seinem Rhythmus“ leben würde; bei Barthes ist der Eigenrhythmus per se gebunden an die inaugurale Frage „Wie zusammen leben“, nicht einfach an die einer möglichst wilden, uneingeschränkten Entfaltung des Ich).

Für eine solche den Eigenrhythmus (und damit die Andersheit) des Einzelnen bewahrende, aber eben doch kollektive Lebensform findet Barthes tatsächlich ein konkretes Vorbild: in einer Anachoretenkolonie auf dem griechischen Berg Athos. Diese mönchische Lebensform unterscheidet sich vom klassischen Modell klösterlichen Zusammenlebens vor allem dadurch, dass hier nicht jeder denselben, die Tagesabläufe genau bestimmenden Rhythmisierungen unterworfen ist (zu einer festgesetzten Zeit aufstehen, beten, essen, arbeiten usw.), sondern eher Räume zur Verfügung gestellt werden (Lebenszellen als Refugium des Einzelnen ebenso wie Parkanlagen und Gebäude für die Momente der Begegnung), die gemeinsame Aktivitäten möglich machen, ohne sie doch zu erzwingen; vor allem nicht durch Aufzwingen eines Kollektivrhythmus auf Kosten des Eigenrhythmus (also die klassische Strategie der Disziplinierung, wie sie etwa in der Idee der „Leibeserziehung“ nachwirkt, in der alle in einen kollektiven Rhythmus eingespannt werden). Kurz: Auch Barthes stellt durchaus die leiblich gedachte Rhythmisierung ins Zentrum seiner Überlegungen zur Subjekt- und gleichzeitigen Gemeinschaftskonstitution; und auch er will dies vor allem als ein Feld der Praxis, der Bestimmung von Räumen und Aktivitäten in Räumen gedacht wissen (und nicht als das Sich-Verpflichten auf eine gemeinsame Idee). Dabei aber steht in der Spannung von Ich und Allgemeinheit eher die Abweichung des Einzelnen vom Kollektiv im Vordergrund und gerade nicht umgekehrt die Disziplinierung des Einzelnen durch kollektive Gleichschaltung (wie in der auf Gleichtaktung setzenden Disziplinierung).

Als politische Anknüpfungs- und zugleich Abgrenzungsfolie dient Barthes auch hier das Fourier’sche Modell der Phalanstères, und eben das ist ausgesprochen sprechend. Als erste Gemeinsamkeit hebt Barthes hervor, dass es auch Fourier zuerst um die Gestaltung eines Ortes, einer Landschaft geht, die eine bestimmte Form des gelingenden Zusammenlebens allererst möglich machen soll. Zudem ist für Barthes zentral, dass auch bei Fourier Einsamkeit nicht als Gegensatz zur Gemeinschaftlichkeit gesehen wird, sondern als deren Grundlage. Diese Gemeinsamkeit ist dabei mehr als nur ein liebenswerter Ausdruck einer Idiosynkrasie zweier Einzelgänger und Freunde des Paradoxen. Denn es verbirgt sich darin ein gerade für Utopiker ungewohntes Moment: die bessere Welten gemeinhin aus Negationsfiguren kreieren, aus der Aufhebung eines Mangels (eines „Noch-Nicht“, wie es bei Bloch heißt). Gerade diese Grundfigur des Utopischen aber möchte Barthes mit Fourier gebrochen wissen: dessen Vorstellung von einer Gemeinschaft der Einzelgänger per se „nicht dialektisch“ sei, nicht „Negation der Negation“, nicht ein „Gegenbild einer Frustration“. Sondern für Barthes entwirft Fourier mit seinen Phalanstères ein „absolut positives Szenario, welches das Positive des Begehrens in Szene setzt, das nur Positives kennt“ (Barthes 2002, S. 39). An dieser Stelle schlägt bei Barthes, bei aller Bescheidenheit des Programms, ein Funke nietzscheanischer Heroismus durch: der den Traum negationsfreier – und das heißt: ressentimentfreier –, absoluter Selbstsetzung träumt.

In einem Punkt aber möchte Barthes seine Utopie einer Idiorrhythmie doch deutlich von Fouriers Modell abgegrenzt wissen: in dem nämlich, was er die „tiefe Unmenschlichkeit der Fourier’schen Phalanstères“ nennt, mit ihrem „timing von einer Viertelstunde zur nächsten“ (Barthes 2002, S. 46). Barthes’ Vorstellung einer Gestaltung oder Rhythmisierung einer Landschaft zur Ermöglichung eines gelungenen Zusammenlebens Singulärer soll eben nicht gleichbedeutend sein mit der vollständigen, den Einzelnen von außen betreffenden Rhythmisierung seiner Tagesabläufe, die zudem für alle gleich ist. Sondern dem allgemeinen Rhythmus – der weiter existiert – soll der Rhythmus des Einzelnen als gestaltender Eigenwert gegenüberstehen. „Was mich hier beschäftigt“, fasst Barthes diese Überlegungen zusammen, „ist eine bestimmte Lebensvorstellung, eine Lebensweise, eine Lebensführung, diaita, Diät.[…] Etwas wie eine auf geregelte Weise unterbrochene Einsamkeit; die Paradoxie, der Widerspruch, die Aporie einer Vergemeinschaftung der Distanzen, ein utopischer Sozialismus der Distanz“ (Barthes 2002, S. 42).

Dieses Modell müsste nun natürlich an vielen Stellen noch sehr viel weiter und genauer ausbuchstabiert werden: Was genau meint Rhythmus hier? In welcher Verbindung stehen die Gestaltungen der Räume mit den Rhythmen der Körper? Was ist das ordnende Moment der Gemeinschaft, wann wird die Abweichung zu groß, und wer sanktioniert – wenn überhaupt – eine solche Abweichung und wodurch? Statt ebendies zu tun, sei noch einmal die Grundidee des vorliegenden Aufsatzes abschließend zusammengefasst: Mitte der 1960er Jahre entdeckt Michel Foucault in Auseinandersetzung mit der Idee der Utopie sowohl einen Raum- als auch einen Körperbegriff (die Begriffe der „Heterotopie“ sowie des „utopischen Körpers“), die je in sich, vor allem aber in ihrer Bezogenheit aufeinander eine ungewöhnliche Nähe zu phänomenologischen Grundintuitionen zum Eigenleib und seiner Entfaltung des Raums aufweisen. Kern beider Begriffe ist das Aufscheinen ungesehener Möglichkeiten im Wirklichen, die zuerst reale Möglichkeiten des Wirklichen selbst sind (d. i. nicht ein bloßes Schwelgen in absoluten Unmöglichkeiten). Derart zur Erscheinung gelangt stellen besagte reale Möglichkeiten eine Beunruhigung des Bestehenden dar, dem sie sich als sein jeweils unverwirklichtes anderes entgegenstellen und es so „suspendieren“, „unterminieren“, „erschüttern“, „verkehren“ oder gar „zerstören“. Ist freilich bei Foucault der Ausgangspunkt dieser Entdeckung – die Idee der Utopie – nur zum Teil in die Entdeckung eingeflossen (nämlich als ein Spiel mit realen Möglichkeiten), kommt erst bei Roland Barthes, der mit seinen Überlegungen in „Comment vivre ensemble“ direkt an Foucault’sche Intuitionen sowohl zum Raum- als auch zum Körperbegriff anschließt, auch die politische Dimension des Utopischen – und damit das Utopische tout court – wirklich zum Tragen. Sodass es erst Roland Barthes wirklich gelingt, Grundkoordinaten einer Gestaltung des Raums zu denken, die dem Eigenleib in seiner ihn definierenden Ambiguität und Selbstalterität derart Raum gibt, dass er durch die Entdeckung der realen Möglichkeiten seiner selbst nicht in reine Egologie absinkt, sondern Teil einer eigenen Form von „Zwischenleiblichlichkeit“ (Merleau-Ponty) wird (werden kann), die das kommunitäre Moment nicht gegen, sondern allererst durch die konstitutive leibliche Alterität entdeckt und bewahrt. Auch wenn das Barthes’sche Projekt selbst an vielen Stellen noch sehr offen und in manchen Hinsichten sicher auch problematisch ist, so scheint sich mit ihm doch eine Tür zu öffnen, Foucaults Entdeckung der „Heterotopie“ bzw. des „utopischen Körpers“ fruchtbar zusammen und zugleich weiter zu denken.Footnote 20