Doku über Joan Baez: Das geheime Leben einer Popikone

Doku über Joan Baez: Das geheime Leben einer Popikone

Sie marschierte an der Seite von James Baldwin und Martin Luther King für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. In „I Am A Noise“ kommt man ihr ganz nah.

Die vielen Gesichter der Joan Baez, hier in einem Konzert von 2019
Die vielen Gesichter der Joan Baez, hier in einem Konzert von 2019Imago Images

Jeder Mensch, so wird zu Beginn des Films der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez zitiert, habe drei Leben: ein öffentliches, ein privates und ein geheimes. Man ist also vorgewarnt.

Das öffentliche Leben von Joan Baez ist Legende. Die Sängerin und politische Aktivistin war Anfang 20, als sie im August 1963 neben James Baldwin beim „March on Washington“ in vorderster Reihe mitlief, und Martin Luther King die wohl berühmteste Rede des 20. Jahrhunderts hielt: „I have a dream“. Joan Baez war das schöne Gesicht der Bewegung, zu der ihr Freund Bob Dylan im Minutentakt einschlägige Songs beisteuerte. Sepia-Memories, gut abgelagertes zeitgeschichtliches Wissen.

Eine ernüchternde Bilanz

In der Dokumentation von Karen O’Connor, Mira Navasky und Maeve O’Boyle trifft man auf eine Frau um die 80, die sich auf dem Laufband fit hält und Gesangsunterricht nimmt, um den einst hellen Sopran an altersgerechte Gesangslagen anzupassen. Die Kameras begleiten sie zu den Stationen ihrer letzten Tournee. In Paris tanzt sie auf der Straße, im Hotelzimmer in Istanbul denkt sie über ihr Leben nach. Wie eine mythische Sirene war sie ein Leben lang im Dienst der Weltgerechtigkeit unterwegs: We Shall Overcome. Die Bilanz fällt ernüchternd aus. Die heutige Black-Lives-Matter-Bewegung geht für dieselben Ziele auf die Straße wie Baldwin und King 50 Jahre zuvor. Joan Baez ist ungeschminkt. Mit bemerkenswerter Selbstdisziplin bereitet sie sich auf ihre Auftritte vor. Gabriel Harris, ihr Sohn, ist Mitglied ihrer Band. Family-Life, ein später Ausgleich für die lange Abwesenheit der öffentlichen Mutter.

Die Geschichte des privaten Lebens ist komplizierter. Für den Film war Joan Baez bereit, das Fotoalbum ihrer Kindheit sehr weit aufzublättern. Ihr mexikanischer Vater war Physiker. Aufgrund von Jobwechseln musste die Familie häufig umziehen, wegen ihres dunklen Teints wurden die Kinder gemobbt. Als alte Bardin hat Joan Baez viele Fans in der schwarzen Bevölkerung. Man dankt ihr die frühe Solidarität während der Bürgerrechtsbewegung. Heute zählt Hillary Clinton zu ihren Freundinnen, vorübergehend war sie mit Apple-Gründer Steve Jobs liiert.

Im Gespräch mit ihrer erst vor wenigen Jahren gestorbenen älteren Schwester Pauline kommen Familienkonflikte zum Vorschein. Mimi, die Jüngere, war eine talentierte Sängerin, die mit Joan konkurrierte. Es blieb ein schwieriges Verhältnis. Mimi Farina starb 2001 an Krebs.

Es gab eine dunkle Seite des Erfolgs. Lampenfieber, Panikattacken. Auf der Bühne verstand es Joan Baez, ihren prekären Zustände durch Witz, Charisma, politische Entschlossenheit und klangvolle Akkorde zu überspielen. Hinter dem Höhenkamm des Bühnenlebens aber lauerten Abstürze.

Ein Trauma aus den Kisten in der Garage

Gut eine Stunde lang ist der von der Popikone Patti Smith mitproduzierte Film ein dichtes zeitgeschichtliches Porträt. Intim, überraschend, würdevoll. Dann biegt er ab in die Erkundung einer durchfurchten Seelenlandschaft. Wie die Büchse der Pandora öffnet Joan Baez eine Garagentür zu einem Ton- und Bildarchiv auf ihrem kalifornischen Anwesen. Hunderte von Kassetten und Tonbändern kommen zum Vorschein, auf denen Gespräche mit ihrem Therapeuten aufgezeichnet sind, Telefonate mit ihrem Vater. Die Schwester Mimi hat einige Jahre vor ihrem Tod den Vater des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Hier lauert ein unbearbeitetes familiäres Trauma. Joan Baez klärt auf über das sogenannte False-Memory-Syndrom, in dem sich falsche Erinnerungen als Gewissheiten breitmachen können. Zugleich spricht sie von Vergebung. Man sieht sie, wie sie ihre 100-jährige Mutter pflegt. Das quälend intime letzte Drittel des Films transportiert auf verstörende Weise die Botschaft, den schönen Bildern des Ruhms zu misstrauen.

Panorama: „Joan Baez. I Am A Noise“. USA 2023, 113 Minuten