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Das Doppelleben der Jugendrichterin Kirsten Heisig

Warum nahm sich die umstrittene Jugendrichterin Kirsten Heisig das Leben? Acht Monate nach ihrem Tod zeigte eine ARD-Dokumentation das Ergebnis einer Spurensuche.

Es war eine Nachricht, die auch Menschen berührte, die sie nicht persönlich kannten: Kirsten Heisig ist tot. Im Juli 2010 fand man Berlins bekannteste Jugendrichterin in einem Wald in Heiligensee – erhängt an einem Ast.

Nach tagelanger Suche und Spekulationen über ein Gewaltverbrechen wurde zur Gewissheit, was sogar enge Weggefährten bis zum Schluss nicht bemerkt haben wollen: Dass nämlich die „Richterin Gnadenlos“, wie die unerbittliche Verfechterin für eine schnellere Verurteilung von jugendlichen Straftätern genannt wurde, offenbar ein Doppelleben geführt hatte.

Als ebenso resolute wie lebensfrohe Karrierefrau, die als Mutter, Juristin und zuletzt auch als Autorin bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ging, so präsentierte sich die 49-Jährige gerne in der Öffentlichkeit. Dass sie allem Anschein nach an Depressionen litt und 2008 schon einmal einen Suizidversuch unternommen haben soll, verstand sie geschickt zu verbergen.

Es ist das einzige neue Puzzlestück, das die Filmemacherinnen Nicola Graef und Güner Balci bei den Recherchen zu ihrer ARD-Dokumentation „Tod einer Richterin“ ausgegraben haben. Ein mühseliges Unterfangen. Schnipsel aus Gesprächen mit Weggefährten wie Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) und Archiv-Aufnahmen von Auftritten in TV-Talkshows haben sie zum Porträt einer Frau zusammengefügt, über die Güner Balci in einem Interview gesagt hat, das erste, was ihr an Heisig aufgefallen sei, sei ihr trauriges Gesicht gewesen: „Sie war ja sehr erfolgreich, aber sie sah nie richtig glücklich aus.“

Die türkische Autorin und Filmemacherin aus Neukölln will die Juristin schon 2008 kennengelernt haben – kurz nach deren ersten Selbstmordversuch, der im Porträt von Heinz Buschkowsky kolportiert wird. Es war ein schweres Jahr für Kirsten Heisig. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, einem Staatsanwalt. Sie war von zu Hause ausgezogen. Ihre beiden Töchter im Teenager-Alter blieben beim Vater wohnen.

Warnsignale, dass es Heisig schlecht ging

Güner Balci sagt, sie sei auf eine verstörte Frau getroffen, die mitten im Winter in halb-offenen Sommerschuhen herumlief und auch sonst den Eindruck erweckte, als hätte sie ihr Leben nicht im Griff. Es sei aber nur eine kurze Phase gewesen. Es hat Warnsignale gegeben, dass es Kirsten Heisig auch 2010 immer schlechter ging. Einen Monat vor ihrem Suizid, sagt Güner Balci, habe sie die sonst so unnahbare Juristin in den Arm genommen, um ihr zu ihrem ersten Kind zu gratulieren. An die Berührung will sie sich im Nachhinein mit Schrecken erinnern: „Da waren nur noch Haut und Knochen - eine verschwindend geringe Frau.“

Solche erhellenden Details haben die Filmemacherinnen der Öffentlichkeit in ihrer Dokumentation vorenthalten – wohl aus Rücksichtnahme auf die Familie von Kirsten Heisig. Weder Angehörige noch Freunde oder Gegner haben Güner Balci und Nicola Graef vor die Kamera bekommen. So etwas ist bei Dokumentationen wie dieser eher die Regel als die Ausnahme.

Man muss die Probleme bei der Recherche dann aber thematisieren oder die Argumente der Gegenseite anderweitig einfließen lassen. Das aber haben die Filmemacherinnen versäumt. Und so wirft ihr Porträt am Ende nicht nur mehr Fragen auf, als es beantwortet.

Verklärung als Mutter Courage Berlin-Neuköllns

Es gerät, schlimmer noch, zu einem Denkmal für eine Frau, die von ihren Freunden wahlweise zur Mutter Courage der Neuköllner Bronx oder zum Opfer eines unbeweglichen Justiz-Apparates verklärt wird.

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Dass die Richterin gar nicht immer unbedingt immer mit ihrer Forderung nach schnelleren Urteilen und härteren Strafen für Täter aus muslimischen Familien aneckte, sondern mitunter auch mit ihrem selbstherrlich anmutenden Auftreten, fällt dabei unter den Tisch. Ironie des Schicksals: Es ist ausgerechnet ein von Heisig verurteilter Intensivtäter namens Gibran, der diesen Aspekt zur Sprache bringt. „Sie denkt, sie ist Gott“, sagt er über seine Begegnung mit der Jugendrichterin.

Gibran ist einer jener schweren Jungs, den sie einst im Schnellverfahren durch die Mühlen der Justiz gejagt hat, um ihm einen Neuanfang zu ermöglichen. Eine erfolgreiche Mission? Auch diese Frage lässt der Film offen.

Was am Ende dieser halbherzigen Spurensuche bleibt, ist das resignierte Fazit von Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky. „Es muss zwei Kirsten Heisigs gegeben haben. Die andere Kirsten Heisig hat über die gesiegt, die ich kannte.“ Solche küchenpsychologischen Erkenntnisse sind nicht nur wenig hilfreich. Sie sind auch geeignet, die Gerüchteküche mit neuen Spekulationen zu befeuern.

So gesehen werden sich die Hinterbliebenen fragen müssen, ob sie tatsächlich gut beraten waren, dem Fernsehen keine Einblicke in ihr Allerheiligstes zu gewähren. Am Ende rutschte das Porträt von Kirsten Heisig auf das Niveau einer Seifenoper.

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