25 Jahre Kultfilm "Coming Out": Die Party der Anderen

25 Jahre Kultfilm "Coming Out": Die Party der Anderen

Es ist ja doch alles gut gegangen, muss man zugeben. Dirk Kummer steht auf der ehemaligen Stalinallee im Osten Berlins, vor dem einstigen Premierenkino der DDR, „Kino International“, und lässt sich die Herbstsonne ins Gesicht scheinen. Es ist wieder kühl, aber sonnig – wie damals, in jenem legendären November vor 25 Jahren, als kein bisschen sicher war, wie alles endet. Kummer zuckt mit den Schultern, als er das erzählt, weil es heutzutage fast unerhört klingt.

Aber gerade deshalb stehen wir vor dem einstigen Vorzeige-Kino-Palast der DDR, der aussieht, als könnte man jene seltsame Novembernacht von 1989 hier nachdrehen, ohne umzudekorieren. Es ist vielleicht die letzte Chance, der Erinnerung an den 9. November zumindest eine Fußnote hinzuzufügen: eine ohne Sektkorken am Schlagbaum. Dafür mit erkämpften Freiheiten, die plötzlich nichts mehr wert waren. Mit Zweifeln, Trotz – mit in der wichtigsten Schwulenkneipe der DDR. Es ist die Geschichte von Dirk Kummer und seinen Weggefährten in der Nacht des Mauerfalls.

„Während unser Film zur Premiere lief, guckten wir aus den Foyerfenstern von oben auf die Straße“, sagt Kummer, „und dachten: Irgendwas ist im Gange.“ Mehr Autos als sonst. Etwas lag in der Luft.

Die aufregendste Filmpremiere seit Jahren!

Aber sein Kopf war voller anderer Gedanken: Dieser 9. November war ihre große Nacht! Die aufregendste Filmpremiere seit Jahren! Kummer war 23, spielte eine Hauptrolle und war Regieassistent;  neben ihm stand Heiner Carow, einer der besten DDR-Regisseure, der sich 1973 mit der „Legende von Paul und Paula“ zwar ein Denkmal gesetzt hatte, dessen Projekte die SED zuletzt aber jahrelang verhinderte – und der sich nun, gerade 60 geworden, mit einem Paukenschlag zurückmeldete: dem ersten Schwulenfilm der DDR.

„Er hatte sich das Projekt mühsam erkämpft“, sagt Dirk Kummer heute. „Immer wieder fuhr er zum Kulturministerium, verhandelte, durfte weiterdrehen.“

Zur Premiere waren gleich zwei Vorführungen ausverkauft, im Saal knisterte es vor Anspannung. Seit dem Sommer schmolz das Eis, überall Demos gegen die SED, vor vier Tagen fast eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz, zehn Fußminuten von hier. Schon dass seit einigen Wochen die Kino-Programme im ganzen Land „Coming out“ angekündigt hatten, den ersten Film über ein schwules Paar in der DDR, war so ein Indiz für Tauwetter gewesen. 

Stehende Ovationen für leise Kritik – und dann…

„Heute wirkt es so weit weg“, sagt Kummer, als wir am Programmkino-Eingang des „International“ vorbeigehen, über der die montägliche Homokino-Nacht beworben wird: Mongay. Damals genehmigte die staatlichen Filmproduktion Defa den Film nur, weil Regisseur Carow dem Drehbuch drei Gutachten beilegte: ein Soziologe und ein Mediziner stuften  Homosexualität als unbedenklich ein, ein Historiker schrieb, dass die Kommunisten die Homosexuellen in den KZ von den Nazis beschützt hätten. „Heute“, sagt im Film ein Überlebender, „haben wir die Schwulen vergessen“.

Nicht nur für solche Szenen gab  es nun Ovationen. Auch für die Signale von Wahrhaftigkeit: als Hauptfigur ein schwuler Lehrer, der die Zwänge der autoritären Gesellschaft abstreift; aber Neonazis, Warteschlangen, Schikane und Tristesse. Offene Worte auch nach der Vorführung: „Das ganze Land braucht sein Coming out“, sagte ein Zuschauer. Jeder sollte sich zu sich selbst bekennen! Auch dafür gab es viel Applaus, von den Intellektuellen, Reformern, Ost-Berliner Künstlern. Sie wussten ja nicht, dass zeitgleich wenige Kilometer von hier die Schlagbäume auf der Bornholmer Brücke hochgingen und die Ostdeutschen die Mauer  durchbrachen.

„Ich war fertig mit diesem Staat“

Anruf bei Matthias Freihof, der mit seiner Hauptrolle des schwulen, zerrissenen Lehrers dem Film seinen melancholischen Grundton gab. „Ich kam schon völlig aufgewühlt bei der Premiere an“, erzählt er. „Aber ich wusste von nichts. Mich hatte ein Fahrer von einer Vorstellung im ‚Palast der Republik‘ direkt zum Kino gebracht.“ Der Palast, der das DDR-Parlament,  aber auch Kultursäle beherbergte, ist seit 2008 abgerissen. Freihof, heute 52, hat gerade ein Gastspiel als Regisseur in Düsseldorf hinter und eine Hauptrolle am Berliner Schlosspark-Theater vor sich. „Coming Out wird für immer der Film sein, der in Klammern hinter meinem Namen steht, das finde ich gut.“

Weil er sich dem Thema von außen, aus der Hetero-Perspektive, nähert, überlebte er alle Moden. Und ist zudem Zeitdokument für den Alltag in der späten DDR: überall ein melancholischer Schleier des Stillstands, und doch immer mehr kleine Rebellionen.

„Ich war im Grunde fertig mit diesem Staat“, sagt Dirk Kummer heute, läuft zum Parkstreifen am Kino, zückt den Autoschlüssel, hält inne. „Ich war bei den Montagsdemos, hatte die Riesendemo auf dem Alex vor Augen. Aber mein Misstrauen war groß.“ Er wuchs in der Leipziger Straße auf, am Checkpoint Charlie. Dass die Mauer mal fallen könnte, lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. „Wir dachten, falls es mit dem Aufbruch nicht klappt, hätten wir zumindest diesen Film. Der würde auf jeden Fall was ändern.“

„Wenn die Mauer wirklich offen wäre…!“

Nach der zweiten Vorführung war es fast Mitternacht, im Fernsehen liefen schon die Jubelbilder vom Kudamm in Dauerschleife. „Wahnsinn!“, brüllten die Ossis, Trabbis wurden an der Grenze durchgeschaukelt. Aber die Filmleute wagten nicht, die Nachricht vom Mauerfall ihrem Premieren-Publikum weiterzugeben. Sie waren verwirrt, ängstlich, überfordert. Klar war nur, dass dieses miefige Land, das ihr Film vorsichtig kritisierte, nicht dasselbe sein würde.  Aber was hieß das für sie? Was waren ihre  erkämpften Freiheiten noch wert?

Dirk Kummer hatte  gerade erfahren, dass er im Februar 1990 mit „Coming Out“ zur Berlinale nach West-Berlin dürfte. „Ich hatte den Westpass schon in Aussicht! Mir dämmerte schnell: Das ist jetzt nichts mehr wert.“ Das Glück, so jung schon Assistent des großen Carow zu sein, in einem so beachtlichen Film eine Hauptrolle zu spielen, zu dessen Premiere sogar die Autorin Christa Wolf gekommen war, eine seiner wenigen integeren Helden – all dieses Glück schien auf einmal wie zerbrochen. „Wenn die Mauer wirklich offen wäre, würde das alles auf null stellen.“

So standen sie, blickten auf die Autoschlangen, die durch Mitte und den Prenzlauer Berg zum Grenzübergang auf der Bornholmer Brücke strebten, und sahen einander ratlos an. Was nun?  Selbst zur Brücke? Nachsehen, ob man wirklich einfach so rüberkommt? Heiner Carow hatte zur Premierenparty ins Bierlokal „Burgfrieden“ im Prenzlauer Berg geladen, eine der wichtigsten Schwulenkneipen Ost-Berlins und zentraler Schauplatz des Films. „Mensch, da  warten sie auf uns!“ Dirk Kummer stieg wie betäubt in seinen rumänischen Dacia. Zum Burgfrieden.

Kuschelige Ostzeiten

Der Wagen, in den er 2014 steigt und noch einmal vorbei am Alexanderplatz fährt, ist ein BMW-Cabriolet. Es lief nicht schlecht seit seiner Stunde null. Dank der Wende konnte er nun doch Schauspiel und Regie studieren, was sie ihm vorher wegen aufmüpfiger Bewerbungsfilme verboten hatten. Er arbeitet als Regisseur, hat mit Sylvester Groth und Marianne Sägebrecht gedreht, zuletzt den erfolgreichen Film-Theater-Abend „Carls Werk“ am Schauspiel Köln inszeniert. Ein ähnliches Projekt plant er gerade über den Alexanderplatz, der ihn seit seiner Kindheit fasziniert.

Auf den Straßen von damals geriet die Premierenkolonne in einen zähfließenden Sog Richtung Grenze; Kummer fürchtete schon, nicht rechtzeitig zur Party ausscheren zu können. Aus heutiger Sicht eine absurde Panikattacke: Hilfe, die drängen mich in den freien Westen!

Der „Burgfrieden“ war für die Filmleute schon vorher eine Institution, vor allem für Künstler, Paradiesvögel und eben Schwule. „Auch das ist ein Verdienst des Films“, sagt Hauptdarsteller Matthias Freihof heute. „Er dokumentiert den homosexuellen Alltag  in der DDR – der sich ja schon stark von der westdeutschen Szene unterschied.“

„Wir machen unsere eigene DDR auf“

Der Paragraf 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, fiel in der Bundesrepublik erst 1994, in der DDR schon 1968. Doch Schikane, Ausgrenzung und Denunziantentum waren oft erbarmungsloser, zudem gab es keinerlei Schutz durch den Staat. Dafür ließ der im Berliner Prenzlberg eine lebendige Schwulenszene zu. „Montags musste man einfach hierher“, schwärmt Kummer heute.

Die „Schoppenstube“, Berlins älteste Schwulenbar, die Bar „Stiller Don“ und eben der „Burgfrieden“ bildeten ein berüchtigtes Dreieck. Doch die Ost-Berliner Schwulenszene gab sich nicht schrill oder wild. Man richtete sich in der Nische ein, blieb diskret, gesittet. „Heute denken viele Ost-Schwule heute melancholisch an diese kuscheligen Zeiten zurück“, sagt Freihof. Es sei nicht nur um schnellen Sex und Äußerlichkeiten gegangen.

In der Mauerfallnacht tauchten sie damals, im überfüllten „Burgfrieden“ angekommen, in eine Stimmung zwischen der Freude über die gelungene Premiere, der Ungläubigkeit gegenüber der neue Lage und  schierer Angst: Was, wenn die Grenzer doch noch schießen? Den Filmleuten wurde abwechselnd die Schulter geklopft für ihren aufmüpfigen Film und zugerufen, sie müssten endlich auch mal zur Grenze!

Die befreundete West-Journalistin  Maren Niemeyer  war als Premierengast dabei. „Die Unruhe formte sich zum trotzigen Entschluss: Wir laufen nicht über, wir gehen nicht einmal raus“, schrieb sie später über jene seltsame Nacht. „Wir machen die Tür zu und unsere eigene DDR auf.“ Irgendwann wird die Musik ausgestellt, in kleinen Gruppen leise beraten, teils unter Tränen. „Jetzt sind wir von dem Ast gefallen, an dem wir 40 Jahre gesägt haben“, fasst sie die Stimmung in einem Satz des Ost-Berliner Kabarettisten Peter Ensikat zusammen, den er Tags darauf von der Bühne sprach.

„Herr Lehmann“ durfte erstmal austrinken

Er könne seine Abwehr, nun gleich nach Westberlin hinüberzuspazieren, noch immer gut nachvollziehen, sagt Dirk Kummer. „Ich hatte ja keine Sehnsucht nach dem Kudamm oder dem Wedding, keine Sehnsucht nach der Stadt, in der ich sowieso wohnte. Ich hatte Sehnsucht nach Rom, nach Jerusalem, Barcelona, San Francisco!“ Auch sein Filmpartner Matthias Freihof war als Absolvent der renommierten Ernst-Busch-Schauspielschule mit der Truppe schon vorher im Westen gewesen. Also zog es nur Einzelne weg. Regisseur Carow mahnte zur Ruhe: „Es wird alles sehr viel Zeit brauchen, kein Grund zur Eile.“

Es gibt dieses Foto, das am 11. September 2001 im New Yorker Bezirk Brookyln aufgenommen wurde: Fünf junge Amerikaner, die vor blauem Wasser entspannt in der Sonne plaudern, während am anderen Ufer das World Trade Center in Flammen steht. Magnum-Fotograf Thomas Hoepker hat es am Tag der Terroranschläge in einem Park geschossen, aber jahrelang nicht herausgegeben, weil er es unpassend fand angesichts von Tod und Zerstörung in Manhattan, die das Bild des Tages bestimmten. So läuft es heute wohl in der Zeitgeschichte: Stehen Trümmerbilder für einen Tag, werden die Parkfotos nicht mehr gezeigt. Illustrieren Jubel  und Freudentränen auf dem Kudamm die Nacht des Mauerfalls, ist alles andere schnell vergessen. 

Von heute aus betrachtet, saß die Crew in jener Nacht an einem Ort, den es bald nicht mal gegeben haben würde. Schnell liefen die immer gleichen Jubelbilder, wenn es um jene Nacht ging. So oft, dass jeder Ostdeutsche inzwischen fast das Gefühl hat, vor Ort persönlich mitgejubelt zu haben. Dabei können sich, rein zahlenmäßig, nicht einmal alle Ost-Berliner auf den Weg zur Grenze gemacht haben. Auf die Frage, wo sie am 9. November waren, fühlen sie sich trotzdem verpflichtet, „Wahnsinn!“ zu kreischen.

Der West-Berliner Autor Sven Regener setzte dem 2001 trotzig, aber eben auch erst 12 Jahre danach, seinen Roman „Herr Lehmann“ entgegen, in dem ein Westler seine Kreuzberger Kneipe ebenfalls nicht verließ: Erstmal austrinken. Aber ein Ossi, der heute noch von Zweifeln in jener Nacht spricht? Klingt gleich nach Stacheldraht oder Linkspartei.

Die Amis brüllen „We love Germany“

Matthias Freihof ging dann morgens um Vier doch noch mit einem Grüppchen aus dem „Burgfrieden“ zur Brücke. „Wir standen lange auf dem weißen Streifen, der den Grenzverlauf markierte.“ Einige zogen auf den Ku’damm, er ging heim. Dirk Kummer latschte erst drei Tage später zum ersten Mal durch West-Berlin und traf in einer Schwulenbar auch nur die Ostnasen aus dem Burgfrieden und der Schoppenstube wieder, die dasselbe machten.

„Coming out“ wurde trotz allem ein Klassiker. Carow, Kummer und Freihof bereisten wie im Rausch die Welt, waren Gäste auf schwul-lesbischen Filmfestivals in den USA, Kanada, Russland. Dirk Kummer wurde mit dem Filmposter in der Hand in einem goldenen Cadillac über den Christopher Street Day von Los Angeles gefahren, die Amis brüllten – selbst noch in Mauerfall-Euphorie – „We love Germany!“ Was hätten sie wohl gesagt, wenn Dirk Kummer von seinem Fernbleiben in jener Nacht erzählt hätte?

Später gibt es am Rande der Vorführungen Demos gegen die Homo-Ehe, in Russland wäre der Film inzwischen als Schwulenpropaganda verboten. „Wir merken immer wieder, wie relevant der Film noch ist“, sagt Freihof.

Vom Westen überrollt

Die Wege der Beteiligten führen nun zum Mauerfalljubeltag immer wieder zusammen. Es ist ja auch ihr Jubiläum. Je länger der her ist, umso mehr verändern sich die Erinnerungen, sagt Dirk Kummer. Der „Burgfrieden“ schloss im Jahr 2000, die „Schoppenstube“ in diesem Sommer. Der Wirt versuchte noch eine Weile, mit der Westszene mitzuhalten, baute den Billiardraum zum Darkroom um. Obwohl die Gäste doch zum Quatschen kamen.

Heiner Carow starb 1997. Drehbuchautor Wolfram Witt wurde später als Stasi-Zuträger enttarnt. Von einem „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, einer „reformierten DDR“, an die Matthias Freihof damals dachte, war schon 1990 keine Rede mehr. „Es geschah genau das, was viele von uns in dieser Nacht befürchtet hatten: Wir wurden einfach vom Westen überrollt“, sagt er. „Das brachte nicht nur gute Erfahrungen. Zum Beispiel hatte ich als junger Schauspieler erst nach dem Mauerfall zum ersten Mal Existenzangst. Das kannte ich vorher nicht.“

Am späten Nachmittag finden wir den Laden wieder, in dem einst der „Burgfrieden“ logierte. Alles ist jetzt hell, bunt dekoriert, fast schon spießig; von der verrauchten, düsteren Atmosphäre aus dem Film ist nichts übrig. Die neuen Mieter im alten Schwulen-Mekka haben erst spät von der Vorgeschichte ihrer Räume erfahren, sie kannten den Laden als Bäckerei. „Coming Out“ haben sie noch nie gesehen. Haben es aber vor. Sie sind ein schwules Künstlerpärchen, das ein Café mit Fotostudio aus dem Laden gemacht hat.

Zum 25. Jahrestagwird „Coming Out“ noch einmal an seinen Premiere-Orten gezeigt. Aufgeführt wird  er am  9. November,  21 Uhr im Kino International, Karl-Marx-Allee 33;  am 10. November, 20 Uhr, im „Thalia“ in Potsdam-Babelsberg, Rudolf-Breitscheid-Straße 50. Es folgt jeweils ein Gespräch mit den Hauptdarstellern.