Vor 75 Jahren starb Herbert Norkus - und der Mythos vom "Hitlerjungen Quex" wurde geboren: Der Film zum Buch zum Tod

Vor 75 Jahren starb Herbert Norkus - und der Mythos vom "Hitlerjungen Quex" wurde geboren: Der Film zum Buch zum Tod

Vor genau 75 Jahren, am 24. Januar 1932, wird im Flur des Hauses Zwinglistraße 4 in Moabit der 15-jährige Herbert Norkus schwer verletzt aufgefunden. Er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Am nächsten Tag erscheint Goebbels' Kampfblatt "Der Angriff" mit dem groß aufgemachten Bericht: "Wie der Hitlerjunge Herbert Norkus von Rotmord gemeuchelt wurde".Was war passiert? Eine Gruppe Hitlerjungen hatte am Sonntagmorgen Flugblätter in Briefkästen verteilt, die mit der Parole "Wir greifen an!" für eine nationalsozialistische Propagandaveranstaltung werben. Junge Kommunisten aus dem Stadtteil wollen die Aktion verhindern. Sie verfolgen den Jungentrupp, Herbert Norkus wird geschlagen, erhält Stichwunden und stirbt. Das jüngste Opfer des Straßenkampfes auf nationalsozialistischer Seite wird in kürzester Zeit zum Märtyrer der Hitler-Jugend stilisiert und ein Mythos.An dessen Schaffung wirkt der Schriftsteller Karl Aloys Schenzinger mit, der gleich nach der Tat den erfolgreichen Jugendroman "Der Hitlerjunge Quex" schreibt. Das Buch erscheint 1932, wird im nationalsozialistischen Parteiblatt "Völkischer Beobachter" abgedruckt und entwickelt sich in der Nazizeit zum Bestseller. Im April 1933 - seit dem 30. Januar ist Hitler Reichskanzler - kauft die Universum Film AG (Ufa) vom Verlag die Rechte an dem Stoff und produziert den Propagandafilm "Hitlerjunge Quex" - auch er wird ein Publikumserfolg. Es hat nur wenige Kinder und Jugendliche gegeben, die den Film nicht im Kino und ab 1934 in "Jugendfilmstunden" gesehen haben, bis er im November 1942 ohne Begründung abgesetzt wird. 1945 verbieten die Alliierten die Aufführung. Heute darf er aufgrund einer Auflage des Ufa-Rechtsnachfolgers "Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung" nur öffentlich gezeigt werden, wenn aufklärende Hintergrundinformationen erfolgen.Wer war der Junge Herbert Norkus, mit dem alles begann? Er wurde am 26. Juli 1916 in Berlin geboren, der Vater soll der SA angehört haben, die Mutter ist ein Jahr vor ihrem Sohn gestorben. Dieser gilt als unscheinbarer und normaler Schüler. Sein Tod macht ihn zu einer öffentlichen Figur, wie die Beisetzung am 28. Januar 1932 auf dem Neuen St. Johannis-Friedhof in Plötzensee zeigt, an der nach Polizeiangaben 5 000 Personen teilnehmen.Die Ereignisse in Moabit hat Schenzinger romanhaft umgestaltet: Der Gymnasiast Herbert Norkus wird zum Tischlerlehrling Heini Völker. Der literarische Text erzählt - im Gegensatz zur Realität - eine Wandlungsgeschichte: Der Sohn eines arbeitslosen Kommunisten - kein SA-Mann, wie es in der Realität gewesen sein soll - schließt sich entgegen der Forderung des Vaters nicht einer kommunistischen Clique an, sondern will Mitglied der Hitler-Jugend werden. Auch die Darstellung der Mutter entspricht nicht den Tatsachen: Aus dem Tod der in Wirklichkeit nervenkranken Mutter wird ein von der Romanmutter initiierter gemeinschaftlicher Selbstmordversuch, welchen nur der Sohn überlebt. Zu einem "arischen Helden" passt es offenbar nicht, wenn die Mutter "genetisch nicht einwandfrei" ist.Das Verteilen von Werbezetteln spielt in dem Roman eine untergeordnete Rolle. Der Held möchte stattdessen ein Theaterstück einüben und lernt bei den Proben - etwas unbeholfen - das Küssen. Nach seinem ersten Kuss geht der verliebte Junge nach Hause, wird von Kommunisten überfallen und von einem Schlagring so schwer verletzt, dass er eine Woche später stirbt.Der Roman ist sicherlich auch deshalb erfolgreich, weil die differenzierte Darstellung sich eignet, die Distanz zwischen den Milieus der kommunistischen und nationalsozialistischen Jugendlichen zu verringern. Die Beschreibung geht über eine Schwarz-Weiß-Darstellung hinaus. Das Buch verkauft sich sehr gut, was - neben dessen Qualität - auch an dem Film "Hitlerjunge Quex" liegt.Die Besetzung ist hervorragend: Der Filmstar Heinrich George spielt den Vater, Bertha Drews die Mutter. Der jugendliche Hauptdarsteller Jürgen Ohlsen und die anderen Jugendlichen werden nur anonym als "Hitlerjunge" und "Hitlermädchen" genannt. Der wegen seinem quecksilbrigen Aktionismus "Quex" genannte Hitlerjunge Heini - faktisch ein Schüler und im Roman ein Tischlerlehrling - ist zum Druckerlehrling geworden.Sonst bleibt es wie bei der Romanfassung: Der Junge entscheidet sich gegen den Wunsch des Vaters nicht für eine kommunistische Clique und engagiert sich stattdessen in der Hitler-Jugend. Nachdem durch den Verrat eines anderen Hitlerjungen Flugblätter verloren gegangen sind, druckt Heini sie mit einem BDM-Mädchen heimlich in der Druckerei seines Meisters nach. Als die Zettel fertig sind, gibt sie ihm - wie im Roman - einen Kuss auf den Mund. Heini ist verliebt und geht nach Moabit in den Beussel-Kiez, um die frisch gedruckten Werbezettel zu verteilen.Dabei wird er von einem kommunistischen "Rollkommando" verfolgt und ermordet. Im letzten Bild des Films haucht der sterbende Junge den Titel der Filmmelodie "Unsere Fahne flattert uns voran" - die mit den Worten endet: "Die Fahne ist mehr als der Tod".Der von einem fähigen Regisseur handwerklich gut gemachte Film dient wie der Roman als Integrationsangebot für die sich ab 1933 zur Massenorganisation entwickelnde Hitler-Jugend und propagiert die Idee der werdenden "Volksgemeinschaft": Es wird an die abseits Stehenden bis hin zur gegnerischen kommunistischen Jugend appelliert, sich der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen.Der Mythos hat das Jahr 1945 überdauert und zeigt bis ins 21. Jahrhundert Wirkung: Dem sächsischen Verfassungsschutz ist eine "Kameradschaft Norkus" bekannt, ein Zusammenschluss von Jugendlichen, "die sich für nationale Interessen aktiv einsetzen." Das Lied aus dem Film hat Fans in der Black Metal Szene, die nach einer instrumentalen Rockversion von "Unsre Fahne flattert uns voran!" der Band "Aryan Blood" tanzen können.Der Autor ist Sozialhistoriker. Er forscht an der Universität Siegen über den Mythos "Hitlerjunge Quex".------------------------------"Hitlerjunge Quex"1932 gerät der Hitlerjunge Herbert Norkus beim Verteilen von NS-Werbezetteln in einen Straßenkampf mit Kommunisten und stirbt.Karl Aloys Schenzinger schreibt darüber den Jugendroman "Der Hitlerjunge Quex" - im NS ein Bestseller.Die Ufa verfilmt 1933 das Buch, u.a. mit Heinrich George als Quex' Vater. Buch und Film machen aus dem unscheinbaren Schüler Norkus einen Propagandahelden.------------------------------Foto: Herbert Norkus (1916-1932)------------------------------Foto: Der von Kommunisten getötete Hitlerjunge Herbert Norkus galt als "Blutzeuge der Bewegung". Sein Name war 1938 auch im Ostseebad Schönberger Strand präsent.