1 Die Zielsetzung dieses Sammelbands

Unter dem Akronym MINT versteht man die Gesamtheit der Disziplinen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Mit MINT sind in der öffentlichen Wahrnehmung neben vielen positiven Assoziationen leider aber auch Schlagworte wie Studienabbruchquote oder Fachkräftemangel verbunden. Daher ist es nachvollziehbar, dass zahlreiche Initiativen dafür einstehen, die Bildung im MINT-Bereich zu stärken, um negativen Entwicklungen entgegenzuwirken. Hier ist beispielsweise das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit seinem Aktionsplan zu nennen (BMBF, 2022). Auch aus fachdidaktischer Perspektive ist die MINT-Bildung von großem Interesse. Der vorliegende Band greift dieses Interesse auf, nimmt dabei aber nicht die Perspektiven einzelner Fachdidaktiken in den Blick, sondern insbesondere solche Vorhaben, die aus der Perspektive zweier oder mehrerer MINT-Didaktiken heraus entstanden sind. Diese interdisziplinäre didaktische Sicht nennen wir fachdidaktischverbindend (Holten & Witzke, 2017); dies beschreibt eine interdisziplinäre Kooperation der Fachdidaktiken in Forschung oder Lehre und bedeutet gemeinsam formulierten, interdisziplinären Fragestellungen in Form konkreter Vorhaben nachzugehen. Zielsetzung dieses Bandes ist eine Sammlung an Beiträgen zu fachdidaktischverbindender Forschung und Lehre in den MINT-Fächern an der Schule oder Hochschule, um

  • Impulse für die gemeinsame Forschung der MINT-Fachdidaktiken zu übergreifenden Themenbereichen zu setzen,

  • neue Perspektiven auf fächerverbindenden bzw. fachübergreifenden Unterricht im MINT-Bereich durch die Integration verwandter Fachdidaktiken einzunehmen,

  • empirische und theoretische Perspektiven auf Lehr- und Lernprozesse in den MINT-Fächern an der Schule oder Hochschule aus fachdidaktischverbindender Perspektive zu eröffnen und

  • das Konzept sog. fachdidaktischverbindender Forschung und Lehre in der Lehramtsausbildung zu diskutieren.

2 Die Perspektive der Mathematik

Die Initiative für diesen Band und auch ein Großteil der Autor*innen kommt aus dem Bereich der Mathematikdidaktik. Der Fokus auf die Mathematik lässt sich auch an den einzelnen Beiträgen unmittelbar erkennen. Nun mögen Leser*innen zurecht darüber verwundert sein, dass sich Mathematikdidaktiker*innen mit Fragen aus dem MINT-Bereich beschäftigen. So handelt es sich bei der Mathematik, der Informatik, den Naturwissenschaften und der Technik doch um teilweise sehr unterschiedliche Disziplinen, die in der Schule auch getrennt voneinander unterrichtet werden. Der theoretische Hintergrund der Siegener Arbeitsgruppe für Mathematikdidaktik legt jedoch die folgende Sichtweise nahe: „Blickt man auf den arbeitenden (forschenden) Mathematiker, so verschwimmt der Unterschied zwischen ihm und seinen naturwissenschaftlichen Kollegen zunehmend“ (Burscheid & Struve, 2009, S. 1). Wir gehen noch einen Schritt zurück und blicken von den Wissenschaftler*innen zu den Lernenden. Denn wir folgen der These, dass Schüler*innen sich im Mathematikunterricht so verhalten, als würden sie über empirische (d. h. naturwissenschaftliche) Theorien verfügen (vgl. Burscheid & Struve, 2009; Witzke, 2009; Pielsticker, 2020; Stoffels, 2020; Dilling, 2022; Schneider, 2023). Die empirischen Theorien der Lernenden sind Theorien über die im Unterricht eingesetzten Lehr-Lern-Mittel (Struve 1990). Das Wissen der Schüler*innen ist durch das verwendete Material – wir würden sagen durch die empirischen Objekte – ontologisch gebunden an die uns umgebende Realität. Der Begriff empirisch bedeutet in unserer Sprechweise, dass sowohl die Phase der Hypothesenbildung als auch die Phase der Wissenssicherung, d. h. dass ein mathematischer Sachverhalt gilt, im Mathematikunterricht zunächst anschauungsgebunden und experimentell, beispielsweise an Zeichenblattfiguren erfolgt. Die Wissenserklärung, d. h. warum ein mathematischer Sachverhalt gilt, geschieht durch das Zurückführen auf bekanntes Wissen durch logische Schlüsse. Wir bezeichnen solche Settings, die die drei genannten Phasen beinhalten, als förderlich für eine tragfähige Wissensentwicklung in einem empirischen Mathematikunterricht.

Folgt man dieser Annahme, so unterscheiden sich die MINT-Fächer auf erkenntnistheoretischer Ebene nicht in Bezug auf die Herangehensweisen und Prozesse. Das Bilden von Hypothesen, das Überprüfen der Hypothesen in realistischen Experimenten und die Entwicklung eines präzisen Begriffssystems verbunden durch logische Schlüsse ist für die (Schul-)Mathematik genauso wie für die Informatik, die Naturwissenschaften und auch die Technik prinzipiell ähnlich, wenngleich sich die Inhaltsbereiche bzw. Phänomenbereiche selbstverständlich deutlich unterscheiden: Während in der Mathematik beispielsweise Zeichenblattfiguren (Geometrie), Glücksspiele (Wahrscheinlichkeitsrechnung) oder Kurven (Analysis) betrachtet werden, sind es beispielsweise in der Informatik Programme, in den Naturwissenschaften das Zusammenwirken von Teilchen oder die Beziehungen von Tieren innerhalb von Ökosystemen, in der Technik schließlich Mechanismen und Maschinen. Zwischen den einzelnen Phänomenbereichen gibt es selbstverständlich Überschneidungen, die sich im Unterricht produktiv zur Vernetzung von Wissen nutzen lassen (vgl. z. B. Beckmann, 2003; Dilling et al., 2022; Dilling & Kraus, 2023). So verlangen auch die Bildungsstandards, reale Anwendungen „aus Natur, Gesellschaft und Kultur“ (Winter, 1995, S. 37) adäquat in den Mathematikunterricht zu integrieren. Diese verschiedenen außermathematischen Kontexte bieten über die bloße Anwendung von Mathematik hinaus zahlreiche Möglichkeiten, einen Begriff in unterschiedlichen Erfahrungsbereichen zu verwenden und Begriffsbildungsprozesse anzuregen. Dies stellt Lehrer*innen und Schüler*innen aber durchaus vor große Herausforderungen, da es zusätzlichen außermathematischen kontextspezifischen Wissens bedarf, um authentische Zugänge anbieten zu können und das reine Einkleiden in Sachkontexte zu vermeiden. Die Aufgabe, wesentliche Begriffe aus mathematikhaltigen INT-Kontexten zu identifizieren und im Mathematikunterricht aufzugreifen, sollten Mathematiklehrkräfte dennoch wahrnehmen, um eine kontextspezifische inhaltliche Bedeutungszuweisung überhaupt erst zu ermöglichen.

Daher liegt es aus mathematikdidaktischer Sicht nahe, zur Beschreibung der Wissensentwicklungsprozesse der Lernenden auch die fachdidaktischen Erkenntnisse benachbarter Disziplinen, also der INT-Fachdidaktiken zu konsultieren. Umgekehrt scheint es auch aus einer INT-didaktischen Perspektive heraus lohnenswert, mathematikdidaktische Erkenntnisse einzubeziehen (vgl. bspw. Geyer & Kuske-Janßen, 2019; Pospiech & Karam, 2016; Uhden, 2012). Neben den außermathematischen Kontexten, die zusätzliche inhaltliche Fähigkeiten erfordern, ist auch unsere Beobachtung zu nennen, dass Methoden, insbesondere aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht für den Mathematikunterricht zunehmend an Bedeutung gewinnen (Goy & Kleine, 2015; Philipp, 2013) und daher auch entsprechend naturwissenschaftsdidaktische Fertigkeiten für die Vermittlung gefordert sind.

3 Fachdidaktischverbindendes Forschen und Lehren

Eine Methodologie zur interdisziplinären Kooperation der Fachdidaktiken bietet Holten (2022) in Form einer Handlungsfolge an, die an einem konkreten Vorhaben aus den Disziplinen Mathematikdidaktik und Physikdidaktik heraus abgeleitet wurde.

„Fachdidaktischverbindende Arbeit scheint demnach zu gelingen, indem die folgenden Schritte ausgeführt werden:

[1] Ein gemeinsames Ziel z. B. in Form eines gemeinsamen Erkenntnisinteresses formulieren.

→ Eine geeignete Kooperationsform wählen.

[2] Den die Disziplingrenzen überschreitenden Anwendungsbereich im Rahmen des Erkenntnisinteresses festlegen.

[3] Eigenheiten der einzelnen fachdidaktischen Begriffe, Denkweisen und Methoden innerhalb des Anwendungsbereichs sukzessive erkunden.

→ Eigenaspekte der beteiligten Disziplinen identifizieren.

[4] Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den dargestellten fachdidaktischen Begriffen, Denkweisen und Methoden herausstellen als Ausgangspunkte der Kooperation.

→ Fremdaspekte der jeweils benachbarten Disziplin erkennen und erklären können.

[5] Verbindende Sichtweise formulieren.

→ Im Aushandlungsprozess Einigung auf gemeinsam zu verwendende disziplinäre Begriffe, Denkweisen und Methoden und ggf. Konstruktion verbindender Begriffe, Denkweisen und Methoden.

[6] Anwendung der fachdidaktischverbindenden Sichtweise zur Erreichung des gemeinsamen Ziels.

[7] Geltungsbereich der fachdidaktischverbindenden Sichtweise abstecken.

[8] Metaperspektive einnehmen und Passung von Erkenntnisinteresse, fachdidaktischverbindender Sichtweise und Geltungsbereich überprüfen; ggf. zurück zu Schritt [1], um durch Erreichen des gemeinsamen Ziels eine Bereicherung der Fachdidaktiken zu erzielen.“ (Holten, 2022, S. 216).

Dieser Leitfaden zur Durchführung interdisziplinärer Kooperationen der Fachdidaktiken wurde bereits erfolgreich im Projekt InterTeTra umgesetzt, in dem Didaktiker*innen der Mathematik und der Physik an der Universität Siegen und der Hanoi National University of Education an gemeinsamen Themen geforscht haben und diese in die Lehrer*innenbildung eingebracht haben (Kraus & Krause, 2020; Dilling & Kraus, 2022; Dilling et al., 2019). Auch im Kontext der interdisziplinären Vorhaben, die in diesem Sammelband vorgestellt werden, konnte der Leitfaden eine sinnvolle Herangehensweise bieten.

4 Ein Blick in den Sammelband

Die beiden Facetten Forschung und Lehrer*innenbildung von fachdidaktischverbindender Kooperation spielen in den Beträgen dieses Sammelbandes eine gleichsam bedeutende Rolle. In diesem Sammelband werden verschiedene interdisziplinäre Perspektiven auf Forschung und Lehre im MINT-Bereich eröffnet, wobei die Mathematikdidaktik als Hauptbezugsdisziplin dieses Bandes in allen Beiträgen auftaucht.

Der erste Artikel in diesem Band stammt von Gero Stoffels. Er befasst sich am Beispiel der sogenannten „Flat-Earthers“-Bewegung mit der wissenschaftlichen Diskussion und Infragestellung von Verschwörungstheorien. Ausgehend von einem Ausschnitt aus einem Physikbuch werden Aspekte der Verschwörungstheorie mathematisch analysiert und kritisch geprüft. Diese Aktivitäten können im Unterricht einen Ausgangspunkt für die Entwicklung eines adäquaten Verständnisses der Mathematik und der Naturwissenschaften im Sinne des Auffassungs- und „Nature of Science“-Konzepts bilden.

Auch der zweite Beitrag nimmt die Verbindung zwischen der Mathematik und der Physik in den Blick. Frederik Dilling erörtert ausgehend von verschiedenen Erkenntnismodellen der Naturwissenschaften, welchen Status Begründungen in einem empirischen Mathematikunterricht haben können. Dabei spielen die einleitend bereits erwähnten Phasen der Hypothesenbildung, der Wissenssicherung und der Wissenserklärung, aber auch die Verwendung sogenannter theoretischer Begriffe eine besondere Rolle. Die entwickelte Konzeption wird anschließend genutzt, um drei Ausschnitte aus einem Mathematikschulbuch zu analysieren und Implikationen für die Unterrichtspraxis zu formulieren.

Im dritten Beitrag wird ein gemeinsames Vorhaben des Physikdidaktikers Simon Kraus und des Mathematikdidaktikers Frederik Dilling vorgestellt. Im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie haben die Autoren Beliefs von Lehrkräften der Fächer Mathematik und Physik zu dem für beide Fächer fundamentalen Begriff des Modells bzw. dem zugehörigen Prozess des Modellierens erhoben. Aus der Perspektive der Lehrkräfte konnten vier Funktionen von Modellen im Mathematik- und Physikunterricht identifiziert werden, die im Beitrag ausgiebig diskutiert werden: eine didaktische Funktion, eine erkenntnistheoretische Funktion, eine problemlösende Funktion und eine fachkulturelle Funktion.

Heiko Etzold geht im vierten Beitrag gezielt auf die universitäre Lehrer*innenbildung in der Mathematik und der Physik ein. Seit dem Wintersemester 2020/2021 findet das Studium für das Lehramt in den Fächern Mathematik und Physik an der Universität Potsdam in einem verbindenden Studiengang mit engen inhaltlichen und organisatorischen Abstimmungen zwischen den Fächern statt. Der Beitrag zeigt Chancen und Herausforderungen einer solchen grundlegenden Neukonzeption im Bereich der Lehre auf.

Der fünfte Beitrag von Kathrin Holten und Amelie Vogler beschäftigt sich mit einem fächerverbindenden Zugang zu zweidimensionalen Darstellungen von Körpern in der Primarstufe. Anhand eines Lernsettings, das die Entstehung von Schatten thematisiert, wird konkret aufgezeigt, welches Potenzial physikalische Kontexte aus der Erfahrungswelt der Schüler*innen für mathematische Wissensentwicklungsprozesse bieten. Die fachdidaktischverbindende Reflexion des Lernsettings und die Analyse eines Fallbeispiels zeigen aber auch auf, wie herausfordernd der ehrliche Umgang mit Kontexten für Schüler*innen und Lehrpersonen sein kann.

Auch der sechste Beitrag von Rebecca Schneider und Ingo Witzke zeigt Verbindungen zum Sachunterricht. In einer Fallstudie arbeiteten Schüler*innen an der Aufgabe, Möbel ihres Klassenraumes maßstabsgetreu auf einem Plan abzubilden. Die Bearbeitungsprozesse einer Schülerinnengruppe werden vor dem Hintergrund des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus tiefgehend analysiert, sodass empirische Schüler*innentheorien zum Maßstabsbegriff formal rekonstruiert werden konnten. Diese legen nahe, dass mit Blick auf die Schüler*innentheorien neben einem arithmetischen auch ein geometrischer Maßstabsbegriff im Mathematikunterricht adressiert werden sollte. Die Ergebnisse werden in Bezug auf den Mathematik- und den Sachunterricht der Primarstufe eingeordnet.

Julian Plack untersucht in Beitrag 7 den Übergang von der Schule in ein ingenieurwissenschaftliches Studium. Im Rahmen einer quantitativen Studie geht er der Frage nach, welche schulischen Eingangsparameter und schulmathematischen Kenntnisse Einfluss auf den Studienerfolg im ersten Semester haben. Ein Ergebnis ist, dass die untersuchten Studierenden grundlegende Probleme mit mathematischen Inhalten der Sekundarstufe I haben und sich dies stark auf die Klausurergebnisse in der Mathematik-Veranstaltung des ersten Semesters auswirkt.

Die Beiträge 8 und 9 in dem Band stammen aus einer interdisziplinären Kooperation der Mathematikdidaktikerin Felicitas Pielsticker, des Mathematikdidaktikers Ingo Witzke und des Radiologen Christoph Pielsticker. Gemeinsam betrachten sie neurowissenschaftlich-radiologische Befunde mit Bezug auf das Mathematiklernen. Dabei geht es zum einen um das automatisierende Üben, welches insbesondere im Bereich der Arithmetik und Algebra eine bedeutende Rolle spielt. Zum anderen wird das Thema Rechenschwierigkeiten vor einem neurowissenschaftlichen Hintergrund beleuchtet.

Der zehnte und letzte Beitrag des Bands von Felicitas Pielsticker und Ingo Witzke thematisiert die Verbindung von Mathematik und Realität durch einen vergleichenden Blick auf zwei verschiedenen Ansätze: Einerseits das Modellieren im Mathematikunterricht, welches analytisch Mathematik und Realität voneinander trennt, und andererseits empirische mathematische Theorien, welche analytisch Mathematik und Empirie als Einheit begreifen. Am Beispiel einer Fallsituation zum „manipulierten Spielwürfel“ in der Wahrscheinlichkeitsrechnung werden die Potenziale der beiden Ansätze zur Beschreibung von Wissensentwicklungs- und Wissensanwendungsprozessen erörtert sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert.

Wir freuen uns, dass dieser Band mit den zusammengetragenen Beiträgen vielfältige Einsichten in die Anwendung und Weiterentwicklung fachdidaktischverbindender Ansätze im Bereich der MINT-Fächer liefern kann und dabei Impulse für eine verstärkte Zusammenarbeit der MINT-Fachdidaktiken in den Bereichen Forschung und Lehre gibt. Wir wünschen viel Freude beim Lesen und hoffen, dass wir auf nachfolgende Sammelwerke zu weiteren und neuen Themenbereichen neugierig machen können.

Siegen, September 2023

Frederik Dilling, Kathrin Holten und Ingo Witzke