„The Last Dance“: Was die Michael-Jordan-Doku über die 80er verrät - WELT
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Kultur „The Last Dance“

1984. George Orwell? Michael Jordan!

Ressortleiter Außenpolitik
Michael Jordan und die Chicago Bulls Michael Jordan und die Chicago Bulls
Michael Jordan und die Chicago Bulls
Die Netflix-Serie „The Last Dance“ ist global extrem erfolgreich. Für eine ganze Generation ist sie nostalgischer Rückblick auf die Basketball-Legende Michael Jordan und seine Chicago Bulls. Dabei erzählt sie auch eine ganz andere Geschichte.

Auf einer kargen Insel vor Schottlands Küste, wo es viele Rothirsche und wenige Menschen gab, vollendete George Orwell 1948 sein berühmtes Buch. Für den Titel seiner Dystopie vertauschte er kurzerhand zwei Ziffern. Aus dem Entstehungsjahr 1948 wurde „1984“, das Buch wurde Weltliteratur – und 1984 zur Chiffre für Unfreiheit und Unterdrückung.

Aber die Weltgeschichte erlaubte sich einen Spaß mit George Orwell. Als nach 36 Jahren das Jahr 1984 kam, war es eine Geburtsstunde von Freiheit und Individualismus – und einer Kultur, die heute die globalisierte Welt dominiert.

Super Bowl 1984

Es ist nicht so, als hätte es niemand bemerkt. Am 22. Januar 1984 sahen 96 Millionen Zuschauer in der Halbzeitpause des Super Bowl – des Endspiels der US-Profiliga im American Football – einen Werbespot. Er zeigt eine Armee fahlgesichtiger Menschen in grauen Uniformen in einer endzeitlich-düsteren Halle. Sie blicken auf einen riesigen Bildschirm, wo der „Big Brother“ aus Orwells Roman eine Rede hält. Da stürmt eine junge Frau mit blonden Haaren, roten Shorts und weißem Tanktop in die Halle, einen Vorschlaghammer in den Händen. Sie schleudert den Hammer auf den Bildschirm, der dumpf donnernd explodiert.

Am Ende des Spots erscheint der Schriftzug: „Am 24. Januar wird Apple Computer den Macintosh auf den Markt bringen. Und Sie werden sehen, warum 1984 nicht ‚1984‘ sein wird.“ Der Apple Macintosh war der erste Computer mit grafischer Benutzeroberfläche, der für die breite Masse erschwinglich und auch ohne Informatik-Spezialkenntnisse bedienbar war. Der „Mac“ demokratisierte den Computer. Seither kann sich jeder das Wissen und Rechenkraft kaufen, deren Besitz einst das Privileg von Staaten und Konzernen war.

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Am 17. November 1984 kam das zweite Produkt auf den Markt, das George Orwell zu widerlegen schien. Nike stellte den Air Jordan I vor, den ersten Schuh von der Art, die wir heute als „Sneaker“ bezeichnen. Jene Turnschuhe, die von den Basketball-Courts der Welt in die Alltagskultur sickern sollten und heute das Symbol eines globalen Individualismus sind.

In Deutschland änderte sich zunächst wenig. 1984 war das Jahr des Waldsterbens, das gerade die Angst vor dem Atomtod abgelöst hatte. Niemand bemerkte, dass 1984 die Stunde null einer neuen Generation war, die ab 1990 die Chance hatte, in Freiheit zu leben.

Rendezvous für die Nach-Kalter-Kriegs-Generation

Die Netflix-Doku „The Last Dance“ handelt genau davon. Auf den ersten Blick ist die zehnteilige Serie eine Sportdokumentation über US-Basketballteam Chicago Bulls und seinen Superstar Michael Jordan, der übrigens im Jahr 1984 seine Profikarriere als Rookie begann.

Für eine ganze Generation geht es dabei nicht in erster Linie um Basketball, sondern um die Neuentdeckung der Welt. Der Film erzählt vom Beginn jener globalen Vernetzung, die für Unter-30-Jährige heute selbstverständlich ist, für die Nach-Kalter-Kriegs-Generation aber das erste faszinierende Rendezvous mit der Globalisierung.

Bis dahin war die Welt stark parzelliert, auch jene des Sports. Fußballer, die in Italien in der damals lukrativsten Liga Europas spielten, nannte man „Legionäre“ – und man bekam sie kaum noch zu Gesicht. Die amerikanischen Profiligen waren gefühlt so weit weg wie heute der Mars.

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Die Bundesrepublik und der Rest der westlichen Welt hatten bereits vier Jahrzehnte amerikanischer Popkultur hinter sich. Aber nun sorgten Kabelfernsehen und weltweites Merchandising für eine neue Ära. Und für die Menschen in den Schwellenländern Lateinamerikas, Asiens und Afrikas waren Air-Jordan-Schuhe oder ein Trikot mit der Nummer 23 die ersten tragbaren Accessoires des American Dream, an dem sie nun teilhaben konnten und wollten.

Role Model: der gealterte Michael Jordan in der Netflix-Doku
Role Model: der gealterte Michael Jordan in der Netflix-Doku

Die Chicago Bulls waren Role Models der Globalisierung, was die Netflix-Doku mit vielen Interviews und Filmmaterial nachzeichnet. Da war der warmherzig-strenge Chefcoach Phil Jackson, der seine Spieler mit buddhistischer Philosophie und Achtsamkeit (als es das Wort noch nicht gab) coachte. Da war der aus ärmsten Verhältnissen stammende Scottie Pippen, der sich nach oben geboxt hatte und nun neben Jordan schweigsam und verlässlich seinen Dienst versah. Da war Dennis Rodman, der radikalste Freigeist, den der Profisport je gesehen hatte. Und da war jener 1,98 Meter große, schwebende Superathlet. Air Jordan.

„Be like Mike“ – der Werbeslogan war das Versprechen, frei zu sein und alles erreichen zu können. Michael Jordan wurde zur Marke – und ist es geblieben. Das „Jumpman“-Zeichen, das ihn seitlich mit in der Luft gespreizten Beinen zeigt, den Ball in der Hand, im Anflug auf den Korb, hat bis heute überdauert. Das Magazin „Forbes“ schätzt das Vermögen von Michael Jordan auf inzwischen rund zwei Milliarden Euro, kein Sportler ist reicher.

„Dream Team“

George Orwell wollte mit „1984“ vor einem Sieg des Sowjetkommunismus warnen. Aber der kam exakt 1984 an sein Ende. Im Kreml regierte der sieche Generalsekretär Konstantin Tschernenko für elf Monate. Als er Anfang 1985 starb, übernahm Michail Gorbatschow die Macht. Dann ging alles schnell. Im Jahr 1992, als das „Dream Team“ um Michael Jordan bei Olympia seine Gegner vom Platz fegte, erschien der Aufsatz des Politologen Francis Fukuyama, der das „Ende der Geschichte“ proklamierte. Marktwirtschaft und Demokratie hatten gewonnen. 1984 war nicht „1984“.

Fukuyama hat sich bekanntlich geirrt. Und die Weltgeschichte scheint sich gerade eine weitere Volte zu erlauben. Auch hier liegen die Wurzeln wiederum im Jahr 1984: Damals erschien ein Aufsatz von Chinas damaligem Herrscher Deng Xiaoping mit dem Titel: „Einen Sozialismus chinesischer Prägung aufbauen.“ Im Kern skizziert der Aufsatz die Idee, die Menschen künftig Air Jordans kaufen zu lassen – und „1984“ doch noch zu verwirklichen.

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Heute macht die NBA in China eine halbe Milliarde Dollar Umsatz jährlich. Als der Manager eines NBA-Teams im vergangenen Jahr das Vorgehen Chinas in Hongkong kritisierte, orchestrierte die chinesische Führung einen Boykott der US-Profiliga. LeBron James, der heutige Superstar des Spiels, schlug sich anschließend auf Chinas Seite. Und Michael Jordan: Sagte wieder einmal nichts. Wie schon immer, wenn es um politische Fragen geht.

Im Jahr 2007, ein Vierteljahrhundert nach dem Macintosh, revolutionierte Steve Jobs die Welt mit der Erfindung des iPhones. Ein solches oder ähnliches besitzt heute ebenfalls fast jeder Chinese. Nur dass es in der Volksrepublik nicht mehr nur das Tor zur Freiheit ist, sondern ein Instrument staatlicher Überwachung. 1984 ist Vergangenheit, „1984“ noch längst nicht.

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