Schlüsselwörter

1 Einleitung

„War made the state, and states made war“ (Tilly 1975, S. 42) Dieses bekannte Zitat von Charles Tilly, das die Geschichte der europäischen Staatswerdungsprozesse im Mittelalter und in der Neuzeit knapp, aber präzise auf den Punkt bringt, umreißt die enorme Bedeutung der Staaten als Akteure in den internationalen Beziehungen. Ihr Mit- und Gegeneinander bildet auch heute noch den Kernbereich der internationalen Beziehungen, entscheidet noch immer über Krieg oder Frieden, über Gewalt oder Ordnung, über Prosperität oder Unterentwicklung, aber auch über Freiheit oder Unterdrückung und über Wohlfahrt oder Marginalisierung innerhalb von Gesellschaften. Wir leben in einer Epoche der Geschichte, in der die Zerstörung der Zivilisation insgesamt technisch möglich geworden ist; über dieses Zerstörungspotenzial verfügen – bislang – jedoch ausschließlich einige Staaten mit umfangreichen Kernwaffenarsenalen und weitreichenden Trägersystemen, insbesondere die USA und Russland, aber auch Frankreich und Großbritannien sowie vielleicht auch die Volksrepublik China, nicht aber nicht staatliche Akteure.

Staaten sind also grundsätzlich überaus mächtige Akteure – aber sie sind zugleich doch keine wirklichen Akteure, sondern Abstraktionen. Der Staat ist ein mehr oder minder komplexes Gefüge aus zumeist hierarchisch und bürokratisch strukturierten Institutionen, die in der Realität durch Individuen repräsentiert werden, die in ihrem Handeln neben ihren Zielsetzungen als Vertreter des Staates auch persönliche und bürokratische Interessen verfolgen (Allison und Zelikov 1999). Ob und in welchem Umfang das Machtpotenzial von Staaten realisiert werden kann, hängt deshalb nicht nur von den jeweils verfügbaren Machtressourcen ab, sondern auch davon, wie gut es den Entscheidungsträgern als Gruppe gelingt, ihr eigenes Handeln wirksam zu koordinieren und die eigene Bevölkerung, aber auch andere Akteure in den internationalen Beziehungen für ihre Ziele und Strategien zu mobilisieren.

2 Der Staat in den internationalen Beziehungen: Die Grundlagen

Staat und Gewalt sind seit je eng miteinander verknüpft. Herrschaft entstand und entsteht noch immer häufig durch überlegene Gewalt, und sie behauptet sich nach innen wie nach außen unter anderem durch die Androhung und Anwendung von Zwang. Dies macht den Staat zu einer Bedrohung des einzelnen, vielleicht sogar zur größten Quelle der Gefahr für Freiheit, Leib und Leben der Menschen. Aber dies ist nur die eine Seite der Medaille: Wohlgeordnete Staaten bieten ihren Bürgern Schutz vor einander und vor Übergriffen von außen, sie ermöglichen und begünstigen Wohlfahrt und freiheitliche Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen und erlauben ihm, sich politisch selbst zu bestimmen. Der Staat ist also nicht nur eine Quelle der Gefahr, sondern auch die Grundlage jeder gesellschaftlichen Ordnung. Dies gilt auch für die internationalen Beziehungen (Buzan 1983, S. 21 ff.).

2.1 Der Staat als der wichtigste Akteur in den internationalen Beziehungen

Grundlage der Bedeutung des Staates als Akteur in den internationalen Beziehungen ist sein Machtpotenzial – seine Fähigkeit, Menschen und materielle Ressourcen für seine Zwecke zu mobilisieren. Die Basis dieses Machtpotenzials ist Herrschaft von Menschen über Menschen im Kontext einer als Staat politisch verfassten Gesellschaft; sie beruht auf einer – konkret jeweils unterschiedlichen – Mischung von Anerkennung der Herrschaftsordnung und freiwilliger Gefolgschaft durch die Beherrschten (Legitimität) und der Möglichkeit der Herrschenden, durch überlegene Gewalt bzw. ein Gewaltmonopol des Staatsapparates Gefolgschaft zu erzwingen. Herrschaft erlaubt es dem Staat, individuelles Verhalten durch Anordnungen autoritativ zu koordinieren und damit individuelle Anstrengungen zu bündeln, durch Abgaben und Steuern einen Teil des erwirtschafteten Wohlstandes einer Gesellschaft abzuzweigen und von seinen Untertanen bzw. seinen Bürgern Opfer zu verlangen – bis hin zur Bereitschaft, als Soldat das Leben für den Staat zu opfern (Lindblom 1977).

Dieses Machtpotenzial des Staates ist grundsätzlich noch immer den anderen Möglichkeiten, Macht auszuüben – nämlich durch Tausch über Märkte oder durch freiwillige Assoziation auf der Grundlage von Überzeugung – überlegen. Kein anderer Akteur in den internationalen Beziehungen verfügt bislang über ein vergleichbares Potenzial: Internationale Organisationen, aber auch nicht staatliche Akteure wie NROs, islamistische Terrornetzwerke, Transnationale Unternehmen oder die organisierte Kriminalität sind letztlich auf Unterstützung durch Staaten angewiesen.

2.2 Formen und Wandlungen des Staates

Die Welt der Staaten weist historisch eine große Vielfalt von Erscheinungsformen auf, sie zeigt aber auch einen bemerkenswerten Trend zur Homogenisierung. Die Geschichte der internationalen Beziehungen kennt eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen von Staatlichkeit: Stammesstaaten, Großreiche, Fürstentümer, Stadtstaaten und religiös begründete Staaten. Seit dem 16. Jahrhundert hat sich freilich eine bestimmte Form der staatlichen Organisation durchgesetzt: Der moderne (National)staat. Der Siegeszug dieses Staatsmodells begann im Europa des Mittelalters, als sich die Herrschaftsordnungen in einigen großen Flächenstaaten konsolidieren und ihre grundsätzlich überlegenen Ressourcenpotenziale mit Blick auf Territorium und Bevölkerungszahlen nutzten konnten, um sich so gegen Konkurrenten wie das Heilige Römische Reich deutscher Nation oder die mächtigen Stadtstaaten an den Küsten der Europa umgebenden Meere durchzusetzen (van Creveld 1999).

Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 gilt die Genese dieses Typus des Staates in Europa als weitgehend abgeschlossen; der Territorialstaat unter der nach innen wie nach außen formal uneingeschränkten Herrschaftsgewalt des Souveräns hatte sich konsolidiert. Damit beginnt auch die moderne internationale Politik als Mit- und Gegeneinander souveräner Staaten. Grundlage dieses Triumphs der Flächenstaaten war ihre überlegene Fähigkeit, wirtschaftliche Ressourcen zu generieren und diese in militärische und technologische Macht umzumünzen. Dies nutzten sie vom 16. Jahrhundert an dazu, ihren Einfluss über Europa hinaus auszudehnen und ihre Konkurrenten zu beseitigen (McNeill 1984). Heute finden sich weltweit nur noch wenige Relikte anderer Staatsformen, wie der Vatikanstaat als weltlicher Repräsentant einer weltumspannenden Religionsgemeinschaft und Sitz ihres Oberhauptes, des Papstes, Kleinstaaten wie San Marino oder Andorra oder Stadtstaaten wie Singapur oder Monaco. Die Russische Föderation und die Volksrepublik China können als überlebende Großreiche, also als Imperialstaaten betrachtet werden.

Seit seiner Entstehung hat sich der moderne Staat in mehrerer Hinsicht grundlegend verändert. Erstens kam es zu einer immer umfassenderen Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs des Staates in der Gesellschaft (innere Souveränität) und damit zu einer dramatischen Steigerung seiner Machtmöglichkeiten, nach innen gegenüber der eigenen Gesellschaft wie nach außen gegenüber anderen. Zweitens verschmolz seit der französischen Revolution die Idee des modernen Staates mit der der Nation und dem Gedanken der Volkssouveränität zum Konzept des modernen Nationalstaats, das sich über die dominierende Position der europäischen Mächte in der Weltpolitik im Verlauf des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts – zunächst durch Nachahmung (Beispiel: Japan), dann im Kontext des Zusammenbruchs alter Großreiche nach dem Ersten und der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg – weltweit verbreitete. Und schließlich entwickelte sich aus dem umfassenden Herrschaftsanspruch des Staates in der Gesellschaft und der Idee der Machtausübung des Staates im Namen und zum Wohle des Volkes eine immer breitere und umfassende Palette von Staatstätigkeiten und damit auch die Idee und Praxis des Wohlfahrtsstaates (Reinhard 1999, S. 458–466).

2.3 Der moderne Nationalstaat als Baustein und universal verbindliches Modell der internationalen Ordnung

Heute weist die Staatenwelt dementsprechend formal eine bemerkenswerte Homogenität auf: Das Modell des modernen Nationalstaates hat sich grundsätzlich weltweit durchgesetzt; die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Die nunmehr bereits „klassisch“ zu nennenden Attribute dieses Staates sind seine Territorialität (also ein Staatsgebiet mit eindeutigen, allgemein anerkannten Grenzen), eine Herrschaftsordnung mit einer handlungsfähigen Regierung, Souveränität nach außen (Anerkennung durch andere Staaten) und innen (effektive Staatsgewalt, Gewaltmonopol) und schließlich das Staatsvolk, die „Nation“ – konzipiert entweder als die Gemeinschaft der Bürger eines Staates, also all derer, die in den Grenzen des Staates leben, oder als eine vorgängige Kultur- und Schicksalsgemeinschaft, begründet durch gemeinsame Sprache, Kultur oder Geschichte, die sich mittels „ihres“ Staates selbst bestimmt (nationales Selbstbestimmungsrecht).

Zu diesen herkömmlichen Attributen, die sich insgesamt mit Buzan (Buzan 1983, S. 53–69) als die materielle Basis des Staates und seiner Institutionen konzipieren lassen, tritt jedoch als weiteres wichtiges Attribut auch die jeweilige „Idee“ des Staates, seine Begründung in religiösen, historischen, ideologischen oder anderen politischen Mythen (ibid.: 44–52). Der moderne Nationalstaat ist zudem idealtypisch „repräsentativ“ verfasst, seine Regierung verkörpert danach den Willen des Volkes. Selbst in einem so totalitären und brutal repressiven System wie dem Nordkoreas firmiert der Staat offiziell als „Volksdemokratie“. In der politischen Praxis wird dieser Anspruch allerdings inzwischen häufig nicht nur formal, sondern faktisch durch mehr oder minder effektive Formen der politischen Partizipation umgesetzt. Das belegt der Vormarsch der Demokratie als politischer Organisationsform im Weltmaßstab, wenngleich diese Entwicklung sich keineswegs geradlinig, sondern in an- und abschwellenden Wellen zu vollziehen scheint (Huntington 1991). Schließlich ist der moderne Nationalstaat inzwischen – wiederum idealtypisch und dem Anspruche nach – in umfassendem Sinne zum Vorsorgestaat geworden, der durch seine Aktivitäten nicht nur die innere und äußere Sicherheit der Bevölkerung, sondern auch ihre Gesundheit, ihren Bildungsstand und ihre materielle und kulturelle Wohlfahrt befördert (Weltbank 1997).

In der modernen Staatenwelt und im Völkerrecht gelten alle Staaten in ihrer Souveränität als formal gleich. In der Realität wurde diese Norm freilich immer wieder durchbrochen und verletzt, was Stephen Krasner dazu veranlasst hat, die moderne internationale Ordnung als organised hypocrisy zu charakterisieren (Krasner 1999). Problematisch ist aber auch der Begriff der „Nation“ bzw. des Staatsvolkes, solange dieser Begriff nicht ganz pragmatisch einfach auf diejenigen bezogen wird, die zu einem gegebenen Zeitpunkt innerhalb der bestehenden Grenzen eines Staates leben (Staatsbürgerschaft). Konzipiert man „Nation“ als eine wie immer definierte „Gemeinschaft“, dann stellt sich damit einerseits sofort die – heikle und konfliktträchtige – Frage nach den Kriterien der Zugehörigkeit bzw. der Ausgrenzung von Individuen und Kollektiven, andererseits die nach den Grenzen des politischen „Selbstbestimmungsrechtes“ der Völker (Mayall 1990).

Diese Idee des Selbstbestimmungsrechtes ist heute konstitutiver Teil der internationalen Ordnung. Doch was ist ein Volk, und wer gehört dazu? In der Praxis hat sich die Staatengemeinschaft darauf verständigt, das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich nur ehemaligen Kolonien und den Zerfallsprodukten zuzugestehen, die aus der Konkursmasse implodierender „Reiche“ (wie der ehemaligen Sowjetunion oder Jugoslawiens) entstanden: Selbstbestimmungsrechte also für die Kroaten, Tadschiken oder die Bevölkerung von Osttimor, aber nicht für die Kurden oder Basken. Dabei wurde die Existenz von Staatsvölkern gelegentlich auch dann postuliert, wenn dies in der gesellschaftlichen Realität im Sinne klarer, geteilter Gemeinschaftsvorstellungen dubios war. Weltweit existieren Hunderte von politisierten Ethnien, die plausibel Forderungen auf einen eigenen Staat erheben könnten und dies z. T. auch tun (Rosenau 1990, S. 406). In der Praxis handhabt die Staatengemeinschaft das Selbstbestimmungsrecht restriktiv: Es ist – mit wenigen Ausnahmen – ein Recht der Besitzenden geworden, das anderen verwehrt wird, und zwar mit guten Gründen: Die umfassende Verwirklichung dieses Rechtes würde vermutlich zahllose neue binnen- und zwischenstaatliche Konflikte heraufbeschwören und damit auch die gegenwärtige internationale Ordnung sprengen.

Ein weiterer Mythos des modernen Nationalstaates und der gegenwärtigen internationalen Ordnung ist die Annahme, dass Staaten in ihrer Herrschaftsordnung grundsätzlich repräsentativ, also dem Wohl und Willen ihrer Völker verpflichtet seien. In der Praxis war das weder in den Prozessen der Entkolonialisierung noch bei der Auflösung der Sowjetunion und der „Föderativen Republik Jugoslawien“ immer der Fall, wenngleich in diesen letzteren Fällen immerhin versucht wurde, die Anerkennung der neuen Staaten an Normen wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Wahrung der Menschenrechte zu binden (Holsti 1996; Giersch 1998, S. 139–143).

Auch die Homogenität der Staatengesellschaft ist in der Realität in mehrfacher Hinsicht eine Fiktion. Zum einen sind die meisten Staaten erkennbar keine Nationalstaaten, sondern politische Gebilde, die – aus der Sicht ihrer Bürger wie in der Wahrnehmung von außen – mehrere ethnische Gruppen umfassen, sei es nun als Mehrheit, gar als Staatsvolk, und als Minderheiten (wie in der VR China oder in Russland), sei es im Sinne mehrerer Staatsvölker, die in einem Staat zusammen leben, wie etwa in der Schweiz. Zum anderen unterscheiden sich Staaten voneinander ganz offensichtlich nicht nur hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Fläche und ihrer aktuellen und potenziellen Macht, sondern auch hinsichtlich ihrer Stärke im Sinne ihrer inneren Gefestigtheit und ihrer Leistungsfähigkeit bei der Ausübung von Staatsfunktionen.

2.4 Wie agieren Staaten in den internationalen Beziehungen?

In den internationalen Beziehungen – also in der Interaktion mit anderen (staatlichen wie nicht staatlichen) Akteuren – nutzen Staaten ihre Machtpotenziale, um sich selbst und ihre Bevölkerung zu schützen, zu stärken und zu bereichern und um andere Staatszwecke (etwa ideologischer Art) zu verfolgen. Grundlegend ist dabei historisch das Streben nach Sicherheit und Macht mit militärischen Mitteln; der Krieg war zumeist das wichtigste Regulativ der zwischenstaatlichen Beziehungen und der internationalen Ordnung (McNeill 1984; Findlay und O’Rourke 2007). Ohne erfolgreiche Monopolisierung bzw. ohne effektive normative Tabuisierung von Gewaltanwendung tendiert die internationale Politik strukturell dazu, Staaten mit Macht- und Sicherheitsdilemmata zu konfrontieren: Um sich subjektiv effektiv zu schützen und ihre Chancen zu verbessern, ihre Staatsziele zu realisieren, ergreifen Staaten Maßnahmen (wie etwa Aufrüstung), die andere dazu veranlassen, ihrerseits ähnliche Maßnahmen zu treffen. So können Eskalationsprozesse ausgelöst werden (Herz 1950; Buzan 1983).

Dieses Sicherheits- und Machtdilemma impliziert grundsätzlich jedoch nicht nur konfliktförmige Verhaltensmuster (wie Rüstung und Drohungen bzw. Warnungen), sondern auch Formen der Kooperation, etwa durch Allianzen mit anderen Staaten gegen einen gemeinsamen Gegner oder durch Bemühungen, die Dilemma-Situation – etwa durch kooperative Sicherheitspolitik – gemeinsam aufzulösen (Vetschera 2000). Zudem ist die regulative Funktion des Krieges historisch kontingent, also abhängig etwa von spezifischen technologischen und kulturellen Gegebenheiten, die durchaus implizieren können, dass Kriegführung zwischen Staaten nicht mehr als zweckdienlich oder gar als tabu gilt. Einiges spricht dafür, dass Kriege unter den gegenwärtigen technologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen diese Regulativfunktion jedenfalls für die Beziehungen zwischen den Mächten eingebüßt haben könnten (Mueller 1989; Müller 2008, S. 164–201). Die Chancen der Kooperation zur Verbesserung der eigenen Sicherheit wie zur Bearbeitung gemeinsamer oder globaler Problemlagen werden dabei aber gemindert a) durch Souveränitätsvorbehalte der beteiligten Staaten und b) durch die bekannten Probleme kollektiven Handelns unter den Rahmenbedingungen fehlender Zentralgewalt (wie z. B. die Trittbrettfahrer-Problematik, der zufolge Staaten u. U. auch dann in den Genuss von Kooperationsvorteilen kommen können, wenn sie selbst dazu keine Beiträge geleistet haben) (Olson 2004).

Durch die Muster ihrer Interaktionen untereinander gestalten die Staaten (und insbesondere die Großmächte) schließlich implizit oder explizit auch die internationale Staatengesellschaft und ihre Ordnung, also die Prinzipien, Normen und Regeln, die das Verhalten der Staaten bestimmen (Bull 1977; Hurrell 2007). Diese Ordnung setzt dabei jeweils auch Rahmenbedingungen für die transnationalen Aktivitäten nicht staatlicher Akteure, etwa in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen (Findlay und O’Rourke 2007). Die internationale Ordnung kann rudimentär oder hoch entwickelt, gewaltanfällig oder befriedet, formal institutionalisiert und stark verrechtlicht oder informell sein (Anter 2007).

3 Der Staat in den internationalen Beziehungen: Der Stand der Diskussion

Drei wichtige Fragen beherrschen derzeit die wissenschaftliche Diskussion um den Staat als Akteur in den internationalen Beziehungen: Was bestimmt das Verhalten von Staaten? Verliert der Staat seine dominante Position unter den Akteuren in den internationalen Beziehungen? Und: Wie verändert sich der Staat, wie verändert sich Staatlichkeit unter den Bedingungen der Globalisierung? Die ersten beiden Fragen sollen im Folgenden kurz behandelt werden, die dritte etwas ausführlicher im Abschn. 4.

3.1 Was bestimmt das Verhalten von Staaten?

Grob skizziert, finden sich in den Theorien der Disziplin Internationale Beziehungen auf die erste Frage divergierende Antworten, die unterschiedliche Denkschulen repräsentieren (im Überblick: Schieder und Spindler 2009). Die erste Antwort, für die vor allem die Denkschule des Realismus bzw. des Neo-Realismus steht, sieht das Verhalten von Staaten im wesentlichen bestimmt durch die (grundsätzlich unveränderlichen) Eigengesetzlichkeiten der internationalen Politik bzw. durch die Strukturen der Machtverteilung im Staatensystem. (Militärische) Machtpotenziale sowie das Streben nach Sicherheit und Macht sind die zentralen Kategorien dieser Sichtweise (Morgenthau 1948, 19856; Waltz 1979; Masala 2005; Mearsheimer 2001) Die zweite, liberalistische Richtung sieht das Verhalten von Staaten dagegen als das Ergebnis innergesellschaftlicher Strukturen und Aushandlungsprozesse (Moravcsik 1997). Die dritte Antwort, die vor allem von konstruktivistischen Theoretikern gegeben wird, hebt auf internationale Normen ab: Staaten verhalten sich danach nicht nur zweckdienlich, also mit Blick auf die möglichen Folgen ihres Handelns im Sinne der eigenen Interessen, sondern auch „angemessen“, also in Übereinstimmung mit bestimmten Normen und den damit verbundenen Verhaltenserwartungen anderer (Wendt 1999). Während die realistische Schule generell strukturellen und systemischen Faktoren einen hohen erklärenden Stellenwert einräumt, geben die beiden anderen Theorieschulen den wirklichen Akteuren – den außenpolitischen Entscheidungsträgern – größere Bedeutung, ohne freilich systematisch Handlungstheorien zu integrieren. Dies versuchen Entscheidungstheorien, etwa die Zwei-Ebenen-Metapher außenpolitischer Entscheidungsprozesse von Robert Putnam (1988) oder die alternativen Entscheidungsmodelle von Graham Allison (Allison und Zelikov 1999; Breuning 2007; Maull 2010).

3.2 „Just about through“? Zur Position und Bedeutung des Staates als Akteur in den internationalen Beziehungen

Nach einem geflügelten Wort des amerikanischen Soziologien Daniel Bell „… the national state has become too small for the big problems in life, and too big for the small problems“ (Bell 1977, S. 132), er wäre somit, mit einem anderen berühmten Zitat des Nationalökonomen Charles Kindleberger als wichtiger politischer Akteur „just about through“ (Kindleberger 1969, S. 207).Footnote 1 Diese skeptische Diagnose zu den Zukunftschancen des Staates wurde seither in immer neuen Varianten wiederholt und fortgeführt. Angelsächsische Autoren sprechen vom „eclipse“ (Evans 1997), „decline“ oder „retreat“ (Strange 1996) des Staates, andere von seiner „Entzauberung“ (Teusch 2003, S. 70) oder gar von seinem „Untergang“ (van Creveld 1999); Michael Zürn sieht eine postnationale Konstellation (Zürn 1998, 2018).

In der Tat ist unübersehbar, dass im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts die Staaten als die zentralen Akteure in der internationalen Politik durch die exponentielle Proliferation in der Zahl und das wachsende Gewicht anderer, nicht staatlicher Akteure zunehmend in die Defensive gedrängt wurden und um ihren Einfluss ringen mussten. Zu diesen „neuen“ Akteuren gehörten Internationale Organisationen (IO), (transnationale) Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) und Transnationale Unternehmen (TNCs). Heute stellen TNCs unter den hundert größten Wirtschaftseinheiten der Welt bereits die Mehrheit, vergleicht man das Bruttosozialprodukt der Staaten mit dem Umsatz der Unternehmen (Berghoff 2004, S. 27). Diese Zahlen sind keineswegs nur ökonomisch, sondern auch politisch bedeutsam: Die mit der starken Zunahme der Zahl, der Töchter und der Aktivitäten von TNCs einhergehende Globalisierung der Produktion (UNCTAD 1998 ff.) entzieht den Staaten Einfluss über die Wirtschaftsaktivitäten auf ihrem Territorium.

Insgesamt reflektiert der Aufstieg der nicht staatlichen Akteure das wachsende Gewicht der drei – nach Susan Strange – anderen zentralen Strukturen der internationalen Beziehungen neben der Sicherheitsstruktur: Der Produktionsstruktur, der Finanzstruktur und der Wissensstruktur, in denen Staaten keine Schlüsselpositionen einnehmen. Durch die Proliferation von Akteuren und die damit verbundene Machtdiffusion wird die formale Souveränität des Staates in wichtigen Bereichen (wie etwa der Praxis der Einhaltung bzw. Nichteinhaltung der Menschenrechte gegenüber der eigenen Bevölkerung, Risse et al. 1999) herausgefordert und seine faktische Fähigkeit, die Lebensverhältnisse auf dem eigenen Territorium autonom zu gestalten, durch Völkerrecht und Internationale Organisationen mit supranationalen Kompetenzen eingeschränkt und durch gutartige wie bösartige NROs (von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International bis zu den Mafias und dem Terrornetzwerk al-Qaida) bedroht.

Dennoch erscheint die eingangs zitierte These von Daniel Bell weit überzogen. Darauf deutet schon die Tatsache, dass sich – trotz der erwähnten, ausgeprägten Vorbehalte der Staatengemeinschaft gegen neue Staatsgründungen – die Zahl der Staaten im Verlauf der letzten 50 Jahre auf derzeit 200 rund verdreifacht hat. Dies belegt die ungebrochene Nachfrage nach Staatlichkeit, und in der Tat ist der Staat als Vehikel für die politische Selbstbestimmung eines Kollektivs, für gemeinsame Problemlösungen und als Garant der Sicherheit gegen äußere Gewalt bislang und bis auf weiteres ohne wirkliche Alternative: Selbst die einem Staat am nächsten kommende Europäische Union entwickelt sich keineswegs in Richtung einer Auflösung der nationalstaatlichen Fundamente der Integration, sondern bestenfalls im Sinne einer zunehmend ausdifferenzierten und vertieften supranationalen Einbindung und Überwölbung der Mitgliedsstaaten (Link 2006).

Zum zweiten besitzt der Staat durchaus auch strategische Antworten auf die Herausforderungen durch zunehmende Interdependenzen und Machtdiffusion. Denn nach wie vor verfügen allein Staaten über ein Gewaltmonopol auf ihrem Territorium und damit über Autorität gegenüber ihrer Bevölkerung: Sie definieren die Normen und Regeln gesellschaftlicher Aktivitäten und setzen diese notfalls auch gegen Widerstand durch. Sie gewähren und gewährleisten Eigentumsrechte und bestimmen damit wesentliche inhaltliche Aspekte der jeweiligen Ordnung. Damit sind sie auch in der Lage, Rahmenbedingungen für die Interaktion der Akteure in den internationalen Beziehungen zu setzen, und sie haben die Möglichkeit, über Zusammenarbeit mit anderen Staaten und nicht staatlichen Akteuren ihre Macht zu steigern und ihre Einflusschancen zu mehren (Reinicke 1998; Zürn 1998). Kurz: Der Staat ist aus all diesen und anderen Gründen zwar nicht mehr unumstritten der einzig wichtige, aber doch nach wie vor der bedeutsamste Akteur der Weltpolitik, weil es zu ihm als Vehikel zu politischer Selbstbestimmung keine erkennbare Alternative gibt (Maull 2000; Teusch 2003).

4 Staatlichkeit in den Zeiten der Globalisierung: Mutation, Perversion, Zerfall von Staatlichkeit

Diese sich verändernde Position des Staates in den internationalen Beziehungen reflektiert die historische Kontingenz von Staatlichkeit: Ihre Erscheinungsformen sind in vielfältiger Hinsicht Prozessen des Wandels unterworfen. Die treibende Kraft bei diesen Veränderungen sind Phänomene des sozialen Wandels, die wir früher „Modernisierung“ nannten und heute als „Globalisierung“ bezeichnen. Ihre Dynamik beruht auf technologischer Innovation, also auf neuen (wissenschaftlichen) Erkenntnissen und ihrer technischen Umsetzung bei der Lösung sozialer Aufgaben.

Globalisierung impliziert die technologisch induzierte Vertiefung von Interdependenzen über nationale Grenzen hinweg mit tendenziell immer größerer Reichweite, immer höheren Geschwindigkeiten und Eindringtiefen und immer ausgeprägteren Wirkungen (Held et al. 1999, S. 14 ff.). Diese sich verdichtenden Verflechtungen verändern den Staat und die Staatenwelt in vielfältiger Weise, indem sie – erstens – die soziale Konstruktion des Staates und damit sein Selbstverständnis wie auch seine materiellen wie ideellen Grundlagen verändern. Zudem konfrontieren sie – zweitens – den Staat mit neuen Chancen und Machtpotenzialen, aber auch mit neuen Anforderungen und Steuerungsproblemen (Held et al. 1999, S. 32–86).

Dabei verlieren selbst sehr mächtige Staaten zunehmend die Chance, Entwicklungen autonom zu beeinflussen. Diese Autonomieverluste – die nicht zu verwechseln sind mit der kaum je gegebenen Gefährdung der formalen Souveränität des Staates! – führen zum Paradoxon der gegenwärtigen Staatlichkeit: Obwohl der moderne Nationalstaat grundsätzlich im Vergleich zu seinen Vorläufern über eine ausgeprägte Machtfülle verfügt, führen steigende Anforderungen von innen, von außen und aus dem transnationalen Raum faktisch zunehmend zu Symptomen und Problemen der Überlastung und der Verwundbarkeit. Zwar hat der Staat versucht, auf die veränderten Rahmenbedingungen der Globalisierung zu reagieren, indem er seine Steuerungspotenziale auszuweiten suchte, aber die Anforderungen an moderne Staatlichkeit wuchsen und wachsen noch rascher als diese Anpassungsbemühungen. Die Folge ist eine sich öffnende Schere zwischen den Anforderungen an den Staat und seiner Leistungsfähigkeit (Maull 2006).

4.1 Globalisierung, Souveränität und Territorialität

Ein wichtiger Forschungsstrang der Beschäftigung mit dem Staat als Akteur in den internationalen Beziehungen untersucht in diesem Zusammenhang der Globalisierung die Veränderung der Grundlagen des Staates. Dies betrifft vor allem das soziale Konstrukt der Souveränität und die materiellen und sozialen Gegebenheiten der Territorialität des Staates und seines Staatsvolks. Der Begriff der „Souveränität“ unterlag historisch einem weit reichenden Bedeutungswandel (Badie 2002); aktuell geht es bei der Frage „Was bedeutet Souveränität heute“? vor allem um die Beschränkungen staatlicher Hoheitsrechte und -ansprüche durch (völkerrechtlich nicht selten legitimierte oder gar normierte) Einmischungsrechte anderer Staaten und internationaler Organisationen; in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von formaler bzw. rechtlicher und effektiver Souveränität bzw. Autonomie bedeutsam (Teusch 2003, S. 80 ff.).

Ob, wie und unter welchen Voraussetzungen andere Staaten das Recht und möglicherweise sogar die Pflicht haben, im Namen der Völkergemeinschaft militärisch in anderen Staaten zu intervenieren, um dort massive Menschenrechtsverletzungen und Völkermorde zu verhindern, wurde zunächst unter dem Stichwort „Humanitäre Intervention“, dann unter dem der „Schutzverantwortung“, die als responsibility to protect (R2P) inzwischen eine völkerrechtlich etablierte, wenngleich nach wie vor umstrittene Doktrin darstellt, intensiv untersucht, diskutiert und auch in einer Reihe von Staaten praktiziert. Der Doktrin zufolge hat die Staatengemeinschaft unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur das Recht, sondern sogar die Verantwortung, gegen massive Menschenrechtsverletzungen wie Genozide in Staaten vorzugehen (Evans 2008). Praktiziert wurde dies zunächst in Somalia (UNOSOM I und II, 1992–1995), dann in den Zerfallskriegen im ehemaligen Jugoslawien (1995–1999; Giersch 1998; Glaurdić 2011) und in einer Reihe von anderen Staaten. Versäumt wurde dagegen nach verbreiteter Einschätzung eine mögliche Intervention zur Unterbindung des Genozids in Ruanda (1994). Die amerikanisch inspirierten und geführten Interventionen in Afghanistan (2001–2014) und Irak (2003–2012) mit dem Ziel des Regimewechsels, die auch mit Argumenten der humanitären Intervention gerechtfertigt wurden, zeigten die Gefahren des Missbrauchs dieser Doktrin und zugleich die schwierigen Herausforderungen des Staatsaufbaus, die derartigen Interventionen zwangsläufig folgten, wie der damalige US-Außenminister Colin Powell bereits im Vorfeld der Entscheidung für den Krieg in Irak warnte („you break it, you own it“) (Jehl 2004). Und auch ethisch bleibt die militärische Intervention im Sinne der Schutzverantwortung problematisch (Rudolf 2013).

Die jeweilige Bedeutung des Begriffs „Souveränität“ hat natürlich wichtige Handlungsimplikationen. Ein Beispiel hierfür ist der Bedeutungswandel des Begriffs im Kontext der europäischen Integration: Souveränität wird hier als zerlegbar in einzelne konkrete Teilaspekte verstanden, was der Europäischen Union „sovereignty bargains“ (Litfin 1997), also die Verknüpfung von wechselseitigen Übertragungen von Hoheitsrechten und somit sehr weit reichende Formen der Integration und der Supranationalität erlaubte (Mattli 2000).

Schließlich verändert und relativiert sich unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung die Bedeutung von Grenzen und damit auch von Territorialität: Die harte Schale des modernen Staates bricht auf, sie wird durchlässig. Wie dies geschieht und welche Folgerungen daraus abzuleiten sind, ist umstritten (Brenner 1999). Ähnlich vollziehen sich auch – etwa durch Migration und Ethnisierung von Gesellschaften – Veränderungen in dem, was traditionell als Staatsvolk und damit als „Souverän“ i. S. der letztendlichen Entscheidungskompetenz bezeichnet wird. Die Globalisierung stellt deshalb auch eine Herausforderung für den demokratischen Verfassungsstaat dar (Held 1995).

4.2 Wandel von Staatlichkeit

Ein zweiter bedeutsamer aktueller Forschungsstrang beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Erscheinungsformen von Staatlichkeit. Eine fruchtbare Unterscheidung war in diesem Zusammenhang die zwischen prämodernen, modernen und postmodernen Staaten (Cooper 1996): Ausgehend von der Kluft zwischen dem Idealtypus des modernen Nationalstaates und einer vielschichtigen und facettenreichen Wirklichkeit, differenziert diese Sichtweise zwischen „Quasi-Staaten“ (Jackson 1990) (dies sind ehemalige Kolonien der „Zweiten“ (sozialistischen) und der „Dritten“ Welt, die dem Idealtypus nur formal entsprechen, in denen die faktische Machtausübung und Leistungsfähigkeit des Staates aber begrenzt bleibt), modernen Staaten (wie etwa die erfolgreichen Staaten der Dritten Welt, die VR China, aber auch die USA, die die Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und Staat dramatisch steigern konnten, in ihrem Staatsverständnis jedoch noch fest in der Moderne und damit in der Welt der Souveränität und des Nationalismus verhaftet sind) und schließlich postmodernen Staaten, die sich an den neuen, gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungsprofilen an Staatlichkeit orientieren (hierzu gehören viele Mitgliedsstaaten der EU, aber auch andere Staaten wie etwa Singapur (Rosecrance 1999). Kennzeichnende Aspekte postmoderner Staatlichkeit sind die Umorientierung der Wirtschaft von der Industrieproduktion auf Dienstleistungen, die der Politik vom Wohlfahrtsstaat auf den Wettbewerbsstaat (Cerny 1995; Genschel 2003) und eine Souveränitätskonzeption, die sich vom traditionellen, auf Autonomie zielenden Souveränitätsanspruch unterscheidet und mit weit reichenden regionalen und globalen Souveränitätsübertragungen vereinbar ist.

4.3 Zerfall und Perversion von Staatlichkeit

In dem Maße, in dem die Leistungsfähigkeit des Staates nicht ausreicht, um die Gesellschaft von den Chancen der Globalisierung profitieren zu lassen und sie gegen Globalisierungsrisiken und -gefahren zu schützen, kann es zu Staatsschwäche (failing, fragile, precarious states) und Staatszerfall (failed states) kommen. In der Regel überdauern Restelemente von Staatlichkeit freilich auch unter diesen Bedingungen, werden aber dann zumeist zweckentfremdet und zugunsten bestimmter Gruppen und Partikularinteressen instrumentalisiert. Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Implikationen dieser Prozesse des Staatszerfalls bilden deshalb ebenfalls einen wichtigen aktuellen Forschungsschwerpunkt (Gurr 2007; Rotberg 2002, 2007; Schneckener 2006; Zürcher 2005).

Staatlichkeit kann jedoch auch pervertieren, wenn es machtbewussten Cliquen gelingt, die Kontrolle über den Staat zu gewinnen und ihn dann ausschließlich zur Sicherung der eigenen Machtposition und zur persönlichen Bereicherung ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerung auszubeuten (state capture). Die in der amerikanischen Außenpolitik bereits von der Clinton-Administration eingeführte Kategorie des „Schurkenstaates“ (rogue state) ist insofern nicht ohne reale Begründung, wenngleich die Bestimmung der Liste dieser Staaten im einzelnen natürlich außenpolitischen Kalkülen der USA entsprang (Litwak 2000). Verknüpft mit dieser Problematik pervertierter Staatlichkeit ist die Frage nach den Bedingungen, unter denen einzelne Staaten oder die Staatengemeinschaft insgesamt, notfalls auch mit militärischen Mitteln, intervenieren können und dürfen, um eine von einem solchen Staat ausgehende Bedrohung der eigenen Bevölkerung oder anderer abzuwenden (Teusch 2003, S. 235 ff.). Durch die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen erhält diese Frage zusätzliches Gewicht (Cirincione et al. 2005).

Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 setzte sich im Westen insgesamt die Einschätzung durch, dass prekäre bzw. gescheiterte Staatlichkeit zu den drängendsten sicherheitspolitischen Herausforderungen zähle (National Security Strategy 2002; European Security Strategy 2003). Der Aufbau von Staatlichkeit durch konzertiertes Zusammenwirken von Staaten, nicht staatlichen Akteuren und internationalen Organisationen unter dem Dach der Europäischen Union, der NATO oder der Vereinten Nationen wurde danach in diesem Sinne „sekuritisiert“, also zu einer wichtigen Aufgabe der Sicherheitspolitik erklärt und damit in seiner Bedeutung dramatisiert (vergleiche hierzu das berühmte Wort des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck: „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“). Die Ergebnisse der Interventionen erwiesen sich insgesamt allerdings eher als prekär und unzulänglich, wie nicht zuletzt das Beispiel Afghanistan, aber auch die europäischen Erfahrungen in Libyen und der Sahel-Zone belegen (Feichtinger und Jurekovic 2006; Lacher 2020; Paris und Sisk 2009; Dorani 2019).

4.4 State-building als Herausforderung für die internationale Politik

Werfen „Schurkenstaaten“ die Frage nach legitimen Möglichkeiten der antizipatorischen Selbstverteidigung und der militärischen Durchsetzung zentraler internationaler Ordnungsprinzipien auf, so sind es im Gefolge von Prozessen des Staatszerfalls oft humanitäre Katastrophen und/oder Genozide an Minderheiten, die zu „humanitären Interventionen“ der Staatengemeinschaft oder einzelner Staaten führen (Forbes und Hoffmann 1993; Wheeler 2000). Zudem erwiesen sich zerfallende und zerfallende Staaten immer wieder als Operationsbasen transnationaler terroristischer Organisationen, allen voran die Netzwerke von al-Qaida oder des sogenannten ‚Islamischen Staates‘ in Syrien und Irak, in Afghanistan, in Pakistan, in Nord-, Ost- und Westafrika; sie wurden damit zu Herausforderung für die Sicherheit dieser Regionen und des Westens. Freilich: Gleichviel ob die Bemühungen um den Aufbau zerfallender oder zerfallener Staatlichkeit nun humanitär oder sicherheitspolitisch motiviert waren – sie erwiesen sich in der Praxis als außerordentlich schwierig, mühevoll und langwierig (Debiel et al. 2016). Diese Erfahrungen mit derartigen Interventionen deuten darauf hin, dass die unmittelbaren Ziele der Intervention (Entmachtung eines „Schurkenregimes“, Befriedung eines zerfallenes Staates) zwar oft aufgrund überlegener Militärtechnologien der Intervenierenden vergleichsweise leicht zu erreichen sind (Wheeler und Bellamy 2005). Die dauerhafte Befriedung und damit auch eine effektive Konfliktprävention setzen jedoch den Aufbau tragfähiger staatlicher Strukturen voraus. Zudem impliziert die Intervention auch die Verantwortung, den betroffenen Gesellschaften zu helfen, sich selbst erfolgreich zu regieren. Dies erfordert, so der Befund der entsprechenden Untersuchungen, Risikobereitschaft, politisches Stehvermögen, Geduld und Klugheit und nicht zuletzt umfangreiche Ressourcen. Zwar sind die Erfahrungen mit derartigen Bemühungen um Staatsaufbau nicht durchwegs negativ, aber doch insgesamt außerordentlich gemischt. Dies hat sicherlich dazu beigetragen, die Bereitschaft des Westens und der Staatengemeinschaft insgesamt zu militärischen Interventionen spätestens seit der Intervention in Libyen 2011 deutlich zu dämpfen (Lacher 2020). Paradigmatisch hierfür steht das Verhalten der Staatengemeinschaft und der westlichen Mächte gegenüber dem Bürgerkrieg in Syrien.

Wie die Staatengemeinschaft unter den Bedingungen zerfallener bzw. zerstörter Staatlichkeit „Staat machen“ kann, wie sich Staatlichkeit unter internationaler Regie (und das heißt in der Regel: durch die VN) dauerhaft aufbauen lässt, bildet einen vierten und letzten wichtigen Forschungsschwerpunkt im Kontext von Staat und Globalisierung (Paris und Sisk 2009; Debiel et al. 2016). Diese Diskussion ist deutlich abzugrenzen von jener um die Herausforderungen des nation- building in den 1950er- und 1960er-Jahren: Stand damals die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung von Gesellschaften im Mittelpunkt, deren Staatlichkeit kaum problematisiert wurde, so geht es heute darum, essenzielle Staatsleistungen dort zu entwickeln, wo diese nicht mehr funktionieren (und vielleicht noch niemals existierten). Zu den elementarsten Staatsfunktionen gehören dabei die Durchsetzung des Gewaltmonopols, die Steuerhoheit und die Fähigkeit, Recht zu setzen und durchzusetzen. Darüber hinaus braucht dauerhaft funktionierende Staatlichkeit wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung (Weltbank 1997). Wichtige Forschungsfragen in diesem Zusammenhang betreffen die Bedingungen für erfolgreichen Staatsaufbau von außen, aber auch die rechtliche und politische Ausgestaltung des damit verbundenen Protektoratszustandes und die damit verbundenen Gefahren eines neuen „humanitären Kolonialismus“.

5 Fazit

Der Staat verliert also auch im Kontext der Globalisierung seine zentrale Bedeutung als Akteur in den internationalen Beziehungen keineswegs, und er ist demnach auch in seiner Existenz nicht gefährdet. Nach wie vor bildet der Staat die einzige verfügbare Quelle politischer Autorität und der Legitimität von Herrschaft; beides bleibt auch unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung unverzichtbare Voraussetzung für die Ordnung der internationalen Politik und die Bewältigung der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Inneren der Staaten wie international. Die Autonomie des Staates wird freilich weltweit durch die Folgen der Globalisierung zunehmend eingeschränkt, und die Ausgestaltung von Staatlichkeit nimmt neue, deutlich veränderte Formen an. Hierzu gehört auch die Rekonfiguration von Staatlichkeit in neuen territorialen (Regionalismus) und global-funktionalen Zusammenhängen (Strukturen der global governance). Staatlichkeit löst sich damit tendenziell von den fest umrissenen territorialen Bezügen der modernen, nationalstaatlichen Welt. Noch ist freilich offen, ob und wie diese Rekonfiguration von Staatlichkeit jenseits herkömmlicher territorialer Formen in einer Weise geschehen kann, die den veränderten Anforderungen an die Politik unter den Rahmenbedingung der Globalisierung entspricht.