Azubi aus der Ukraine: Kfz-Meister denkt um und bildet aus
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Azubi aus der Ukraine: Kfz-Meister denkt um und bildet aus

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Das Werkstatt-Team mit ukrainischer Verstärkung (von links). Alexander und Danylo Zborshchyk, Firmenchef Matthias Gedig, Alexander Gräfenstein und Dominik Küstner. Insgesamt zählt die Belegschaft der Kfz-Werkstatt acht Köpfe.
Das Werkstatt-Team mit ukrainischer Verstärkung (von links). Alexander und Danylo Zborshchyk, Firmenchef Matthias Gedig, Alexander Gräfenstein und Dominik Küstner. Insgesamt zählt die Belegschaft der Kfz-Werkstatt acht Köpfe. © Hüttenbrink

Eigentlich wollte Werkstattchef Matthias Gedig keine Praktikanten und keine Azubis mehr. Aber Ukraine-Flüchtling Danylo Zborshchyk hat bei ihm zu einem Umdenken geführt.

Wickede – Eigentlich hatte Matthias Gedig das Thema Ausbildung ad acta gelegt. „Für eine kleine Werkstatt nicht leistbar“, so die Erfahrung des seit 2018 selbstständigen Meisters. Dann kam Danylo, geflüchtet aus der Ukraine. Und Matthias Gedig revidierte seine Meinung. Jetzt bildet er den jungen Ukrainer zum Kfz-Mechatroniker aus.

Pokrovsk im Osten der Ukraine ist keine 100 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Im August 2023 lässt Putin eine Wohnanlage der Stadt mit Raketen beschießen – die Angriffe sind genau so geplant, dass der zweite Schlag erfolgt, als gerade die Helfer den Opfern des ersten Angriffs helfen. Neun Tote, 82 Verletzte. Es ist längst nicht der erste und nicht der letzte Terrorschlag Putins.

Wohnung in Wickede gefunden: Flucht durch mehrere Länder

Zu diesem Zeitpunkt hat Danylo die Heimat längst verlassen. Zwei Monate nach Kriegsbeginn mit Beschuss der Stadt, mit Stromausfall, Luftalarm und näherrückendem Kampflärm packt Vater Alexander die Familie ins Auto. Vater, Mutter, Oma, der 15-jährige Danylo und seine jüngeren Brüder, den elfjährigen Dimitro und den dreijährigen David.

Eine Woche Rumänien, drei Wochen Budapest – durch den Kontakt mit alten Freunden verschlägt es sie nach Rhede. Ein Zimmer, drei Betten, sechs Menschen – aber sie sind in Sicherheit. Bekannte der Oma wohnen seit den 90er Jahren in Hamm, begeben sich auf die Suche nach einer Wohnung. In Wickede werden sie fündig, das Gespräch mit dem Vermieter läuft gut. Endlich findet die Familie nach den vielen Wochen der Kriegsschrecken und der Flucht einen Ruhepunkt.

Vom Gegenteil überzeugt: Gedig bildet Ukrainer aus

Danylo geht zur Sekundarschule, ein Praktikum steht an. Wie bei vielen anderen Belangen hilft auch hier der Vermieter. Der Kontakt zu Matthias Gedig und seiner Werkstatt an der Hauptstraße kommt zustande. Dass der junge Ukrainer erst seit kurzem Deutsch lernt und noch erhebliche Sprachprobleme hat, ist für Gedig kein Problem: Mitarbeiter Alex, 1994 aus Kasachstan übergesiedelt, spricht russisch, kann übersetzen.

Der Wickeder Kfz-Mechatronikmeister ist durchaus angetan von dem jungen Ukrainer. „Das war ein Riesenunterschied zu den vielen Praktikanten der letzten Jahre“. Mehrfach hatte er sich schon gesagt, „wir nehmen keine mehr“. Sowohl Praktikanten als auch Azubis. Danylo überzeugte Gedig vom Gegenteil.

Auch Vater Alexander ist im Team

Übrigens hat auch Danylos Vater Alexander mit seinen 41 Jahren einstweilen einen Mini-Job in der Autowerkstatt an der unteren Hauptstraße angenommen. Und auch da zählt für Werkstatt-Chef Gedig Engagement und Einsatzbereitschaft. Das lässt sich sogar in Zahlen ausdrücken: Die Mini-Job-Vergütung für den 41-Jährigen wird vom Staat von seiner sozialen Unterstützung abgezogen. Unterm Strich arbeitet er als Fachkraft für vier Euro die Stunde. Sicher kein Fall für die Verallgemeinerung, aber ein Beispiel dafür, wie der Arbeitskraft-Import durch Flucht der Work-Live-Balance-Szene aus früheren Friedensdividende-Jahren den Blick auf gewandelte Realitäten eröffnet...

Seit zehn Monaten in der Kfz-Werkstatt

Als es dann um die Frage ging, ob der junge Ukrainer vielleicht eine Ausbildung in der Kfz-Werkstatt antreten könnte, verwarf Matthias Gedig seine bisherigen Bedenken. „Das hat uns so gut gefallen, dass er auch nach dem Praktikum immer wieder zu uns kam“. Und so kam es schließlich, dass Matthias Gedig sein Team um den Azubi Danylo Zborshchyk ergänzte und ihn auch zur Berufsschule anmeldete – mit Blick auf den Status des jungen Mannes als Flüchtling übriges ohne jedes Problem.

Das durch die fehlenden Sprachkenntnisse gekennzeichnete Zeugnis – geschenkt. Gedig konnte mittlerweile beurteilen, welche Auffassungsgabe Danylo mitbringt. „Man zeigt ihm etwas zweimal – dann hat er das verinnerlicht“. Mittlerweile ist Danylo nun seit rund zehn Monaten im Team der Gedig-Mannschaft, sein Deutsch wird immer besser, seine Auffassungsgabe, seine Arbeitseinstellung, seine Leistungen – er macht seinem Lehrherrn Freude.

Bomben jeden Tag: Kontakt zu Freunden in der Heimat

Und der junge Mann selbst? Wie geht es einem Teenager, eben noch daheim in einer 65 000 Einwohner großen Industrie- und Bergbaustadt in der Oblast Donezk im Osten der Ukraine? Er musste sich verabschieden, aus seiner Szene, von seinen Freunden, ein jugendliches Sozialgeflecht – von Putin zerrissen. Klar: Er habe Kontakt mit denen, die geblieben sind. „Wir schreiben“, sagt er, die Freunde berichten von Bomben fast jeden Tag.

Trennung, Abschied, Flucht, Entwurzelung – für Danylo eine emotionale Belastung. Aber der junge Mann guckt auch nach vorne. Vermieter, Schulkameraden, jetzt die Ausbildung bei Gedig – Danylo wirkt, als wolle er den gegenwärtigen Zustand mit einem Wort charakterisieren: angekommen!

Zukunft in Deutschland: Potenzial im Azubi gesehen

Dass er dereinst wieder zurückkehrt in die Ukraine – höchst unwahrscheinlich, wie der junge Mann zu erkennen gibt. Seine Ziele vielmehr: Im Ausbildungsberuf weiterkommen, vielleicht den Meister machen, später möglicherweise ein eigener Betrieb?

Der junge Ukrainer jedenfalls sieht seine Zukunft ganz klar in Deutschland, nicht mehr in Prokovsk, wo niemand weiß, was die Zerstörungswut des Imperialisten und Revanchisten Putin überhaupt noch stehen lässt. So oder so: Der Flüchtlingszugang hochmotivierter Fachkräfte kommt der Bundesrepublik entgegen. Die Menschen füllen Bedarfslücken auf dem Arbeitsmarkt, stützen die Wirtschaft, zahlen Steuern. Auch das zählt zum Potenzial, das Matthias Gedig in seinem Azubi Danylo erkennt.

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