"The Village Next to Paradise" spielt in einem somalischen Dorf und porträtiert das Leben eines Vaters und seines Sohnes. Am 21. Mai ist die Weltpremiere in Cannes.
Freibeuterfilm

Mit dem Debütfilm nach Cannes eingeladen zu werden ist ein großer Wurf. In Österreich ist das bislang nicht vielen gelungen. Michael Haneke hat es 1989 mit seinem ersten Kinofilm Der siebente Kontinent geschafft, Jessica Hausner 2001 mit Lovely Rita. Beide wurden daraufhin zu regelmäßigen Gästen des prestigereichen Filmfestivals an der Côte d'Azur, das vom 14. bis 25. Mai zum 77. Mal stattfindet. Heuer ist Mo Harawe eingeladen worden. Sein Langfilmdebüt The Village Next to Paradise wird am 21. Mai im Wettbewerb "Un Certain Regard" gezeigt, gemeinsam mit Filmen, die nicht im Hauptwettbewerb gezeigt werden – entweder weil sie von angehenden Filmschaffenden stammen oder weil die Filmsprache zu experimentell ist. Schon aufgeregt? "Nein", sagt der Anfang dreißigjährige Regisseur entspannt, "ich freue mich".

Das Treffen mit dem Regisseur findet an einem Nachmittag eine Woche vor Festivalbeginn statt. Gerade wurde im Votivkino der hiesigen Presse sein Film gezeigt, über den man vor der Weltpremiere nichts schreiben darf. Das sind die Statuten eines A-Festivals. Nur so viel: The Village Next to Paradise porträtiert den herausfordernden Alltag einer Patchwork-Familie in Somalia, dem Herkunftsland Harawes. Thierry Frémaux, der Programmleiter von Cannes, hat diesen Aspekt besonders betont: Denn Harawe ist der erste somalische Regisseur, der in Cannes einen großen Auftritt bekommt. Eine besondere Ehre? "Man kann es auch anders wahrnehmen: dass es schade ist, dass ich der erste Somalier in Cannes bin", meint Harawe. Dass er mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft hat, hat Frémaux nicht erwähnt.

Keine Vorgeschichten

Der 1992 in Mogadischu geborene Mo Harawe ist 2009 mit knapp 18 Jahren nach Österreich geflohen. Wie ist Harawe also mit Film in Berührung gekommen? "Ich war kein normaler Filmkonsument wie hier in Österreich. In Somalia gibt es keine Kinos. Man sieht sich Filme gemeinsam im Fernsehen an und bezahlt dafür. Es ist eine Art Kino, aber ohne Leinwand", sagt er. Er kann sich weder an Filmtitel noch an Schauspielernamen erinnern, das falle ihm auch heute noch schwer. Geschichten und Gesichter bleiben ihm besser in Erinnerung.

Mo Harawe wurde 1992 in Mogadischu geboren und floh mit knapp 18 Jahren nach Österreich. Zum Film kam er, um eine universelle Sprache zu finden.
Mo Harawe wurde 1992 in Mogadischu geboren und floh mit knapp 18 Jahren nach Österreich. Zum Film kam er, um eine universelle Sprache zu finden.
Doris Erben

Der Grund, selbst eine Kamera in die Hand zu nehmen, sei vielleicht der gewesen, dass er als junger Geflüchteter in Österreich nach einer universellen Sprache gesucht habe, die keine Grenzen kennt. Bald schon begann er, Videos zu drehen. Als seinen ersten Film würde er den 28-Minüter Die Geschichte vom Eisbär, der nach Afrika wollte von 2017 bezeichnen – einen Kurzfilm über die Beziehung zweier Geflüchteter, deren Fluchterfahrung selbst nicht ausbuchstabiert wird. Denn deren Leben besteht nicht nur aus Krieg und Flucht, es gibt auch den Alltag, der allzu oft vergessen wird.

Politische Ursachen nur anzudeuten ist ein narrativer Trick, den Harawe in seinen Filmen oft anwendet. In seinen jüngsten Kurzfilmen, die ebenfalls in Somalia spielen, einem Land, das seit Jahrzehnten von Kriegen, islamistischem Terror und humanitären Krisen betroffen ist, bildet die Politik stets nur den Hintergrund. Im Vordergrund geht es um zwischenmenschliche Beziehungen. Das macht die Probleme aber nicht weniger gewichtig. Einmal ist es der Giftmüll, der ans Horn von Afrika gespült wird, einmal ist es islamistische Radikalisierung, die einen jungen Mann ins Gefängnis bringt.

Ebendas ist das Thema von Will My Parents Come to See Me?, mit dem Harawe 2022 den deutschen und ein Jahr darauf den österreichischen Filmpreis für den besten Kurzfilm gewann. Dass der junge Mann dabei so gar nicht radikal wirkt, soll ein Hinweis auf die Verantwortungslosigkeit des somalischen Staates gegenüber seinen Bürgern sein. "Der Staat hat den jungen Mann nicht vor Ideologien geschützt und dann noch mal einen Fehler begangen, indem er ihn zum Tode verurteilt", sagt Harawe.

Erfolg ohne Filmakademie

Erst nachdem Harawe und sein Produzent Alexander von Piechowski, mit dem er all seine Kurzfilme gedreht hat, auf die Idee kamen, auf internationalen Festivals einzureichen, seien sie auch in der österreichischen Filmszene akzeptiert worden: "Filme müssen erst draußen sein, damit es drinnen klappt", erklärt er. Doch der Weg dorthin sei mit Rückschlägen gepflastert gewesen. Das liege am System, sagt Harawe. "Als junger Filmemacher ist der normale Weg, auf die Filmakademie zu gehen. Das heißt nicht, dass man es dann schafft, aber wenn du außerhalb des Systems Filme machst, wirst du es schwerer haben. Dann bist du das uneheliche Kind der Familie."

Die Ursache für die vieldiskutierte mangelnde Diversität in der Branche beginnt laut Harawe schon vor der Frage, ob man sich ein Filmstudium überhaupt leisten kann: "Wer kann überhaupt diesen Traum haben, Filme zu machen? Du musst schon als Kind in einem Umfeld sein, wo es möglich ist, auf die Idee zu kommen. Träumen ist schon die erste Tür", sagt er. Film studierte Harawe 2020 dann doch noch. Oder, besser: visuelle Kommunikation in Kassel. Die künstlerische Ausrichtung habe ihm geholfen, seinen Horizont zu öffnen, er sei mutiger geworden.

Jetzt, nach 15 Jahren in Österreich, als Regisseur nach Somalia zurückzukehren empfindet er als bereichernd, weil er nicht als Tourist dort sei. "Ein Teil von mir ist hier, ein Teil ist dort. Es ist kein Weder-noch. Ich bin sowohl von Österreich geprägt als auch von Somalia, in unterschiedlichen Phasen meines Lebens. Und das ist auch ein Gewinn, weil ich je nach Kontext Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven sehen kann: aus der österreichischen und aus der somalischen." (Valerie Dirk, 14.5.2024)