Die Henker kamen in der Nacht und weckten die ganze Familie. Der russische Zar Nikolai II., der ein Jahr davor abgedankt hatte, wurde nun als „Bürger Romanow“ angesprochen. Er, seine Frau, fünf Kinder und vier Diener, wurden in den Keller gebracht. In diesem Haus in der Stadt Jekaterinburg am Ural-Gebirge lebte früher der Bauingenieur Ipatjew, der den gleichen Vornamen wie der Zar trug – Nikolai. Nach der Oktoberrevolution musste er sein Haus räumen. Es wurde zu einem Gefängnis für die Zarenfamilie. Hier wurden sie auch in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 erschossen.
Der Revolutionär Jakow Jurowski, der mit der Hinrichtung beauftragt war, erinnerte sich später, wie er die Zarenfamilie und die Diener in einem kleinen Raum an zwei Holzwänden aufstellte. Zar Nikolai stand mit dem Rücken zu ihm. Jurowski verlas das Todesurteil und gab den Schießbefehl. Die ersten Opfer waren der Zar und sein Sohn Alexej. „Das Schießen dauerte sehr lange“, erinnerte sich Jurowski. Dann stellte er fest, dass einige Familienmitglieder noch am Leben waren und führte die Hinrichtung zu Ende.
In Russland finden an diesem Jahrestag keine großen Gedenkaktionen statt. In orthodoxen Kirchen werden Gottesdienste abgehalten, da die ermordete Zarenfamilie jetzt zu den Heiligen gehört. Maria Wladimirowna Romanowa, die sich Großfürstin nennt und das „Haus der Romanows“ leitet, werde aber an diesem Tag nicht nach Russland kommen, teilte der Chef ihrer Kanzlei, Alexander Sakatow, mit. Die Großfürstin sei auf Reisen und werde dort, wo sie sich an dem Tag gerade aufhalte, eine orthodoxe Kirche aufsuchen.
Sonderstatus für die Zarenfamilie
Die 62-jährige Romanowa wurde in Madrid geboren und lebt bis heute in Spanien. Sie ist aber nicht die Einzige, die beansprucht, das Oberhaupt der Zarenfamilie zu sein. Dmitri Romanow, der 89 Jahre alte Fürst, reklamiert das Gleiche für sich. Der Großteil der Familie stimmt ihm zu.
Er leitet die Organisation, die sich Vereinigung der Familienmitglieder der Romanows nennt. Geboren in Paris, wanderte Dmitri Romanow während des Zweiten Weltkrieges nach Ägypten aus, wo er auch als Automechaniker arbeiten musste. Später machte er eine Bankerkarriere in Dänemark.
Maria Romanowa gehört zu den Nachfahren von Kirill Romanow. Der Enkel des Zaren Alexander II. und Cousin des ermordeten Nikolai erklärte sich 1924 als der älteste Vertreter in der Dynastie zum Zaren im Exil, auch wenn nicht alle Mitglieder der Romanow-Familie damit einverstanden waren. Damit begann schon damals der Streit, wer als Thronfolger gelten soll. Fürst Dmitri Romanow gehört zu einem anderen Zweig der russischen Zarenfamilie. Er ist der Ururgroßenkel des Zaren Nikolai I. Derzeit ist er der älteste unter den Nachfahren.
Die Frage nach der Thronfolge interessiert in Russland nur ein paar Monarchisten, ansonsten tauschen Vertreter der beiden Häuser ab und zu Gehässigkeiten aus. So wie vor Kurzem, als das „Haus der Romanows“ erklärte, die Zarenfamilie brauche in Russland einen Sonderstatus.
Der Vertreter der Vereinigung der Familienmitglieder der Romanows nannte diese Ansprüche „absurd“. Das sei eine „Anhäufung von Halbwahrheiten und Fantasien“. „Ihr Zweig gehört nicht prinzipiell zu den russischen Zaren, sondern ist eine Fortsetzung der preußischen Dynastie“, sagte der Sprecher der Organisation, Iwan Arzischewski, über Maria Romanowa.
„Je wilder die Lüge“
Der Kanzleichef der Rivalen „Haus der Romanows“ hat seine eigenen Argumente. „Maria Wladimirowna ist das einzige Oberhaupt der Romanow-Dynastie“, sagt Alexander Sakatow. „Sie hat ein gutes Verhältnis zu allen Verwandten. Das sind ihre Verwandte, auch wenn sie nicht zu der Zarenfamilie gehören.“ Romanowa den Titel abzustreiten sei eine „sinnlose Idee“. Überhaupt würden einige „Goebbels-Propaganda“ verbreiten – „nach dem Prinzip: Je wilder die Lüge, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass man an sie glaubt“.
Das „Haus der Romanows“ strebt seit Jahren einen Sonderstatus in Russland an. Als Privatpersonen dürfen die Romanows Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion jederzeit besuchen. „Die Rückkehr muss aber würdig sein“, sagt Sakatow. Das Haus solle idealerweise als eine „historische Institution“ anerkannt werden. Der Status würde der Familie keine politischen Vollmachten und keine Privilegien bringen.
Zar Nikolaus II. (1868-1918) – Stationen
Auch Geld vom Staat oder das alte Eigentum wollen die Romanows nicht. „Die Großfürstin ist eine konsequente Gegnerin der Restitution, weil es für den bürgerlichen Frieden in Russland gefährlich sein könnte“, sagt Sakatow. Es gehe darum, „das historische Erbe“ der Romanows zu schützen. „Jetzt kann sich jeder Hochstapler und Irre Großfürst nennen“, beschwert sich Sakatow.
Mit einem Sonderstatus würde Maria Romanowa also so etwas wie den Schutz der Marke „Romanow“ bekommen. Das Gesetz, falls es verabschiedet wird, solle außerdem garantieren, dass sich das Haus der Romanows nicht ins politische Leben einmischt.
Zaristische Illusionen
Die beiden Zweige legen Wert auf Wohltätigkeit und erklären, sie seien unpolitisch. Doch sowohl Dmitri Romanow als auch Maria Romanowa haben die Krim-Annexion unterstützt. Dmitri Romanow plant eine Reise auf die Krim. Maria Romanowa hat der jungen und gut aussehenden Staatsanwältin der Krim, Natalia Poklonskaja, sogar einen Orden der heiligen Anastasia verliehen.
Romanowa sehe als ihre Aufgabe, „die Verbindungen zwischen den Völkern zu stärken, die zum Russischen Imperium und später zu der Sowjetunion gehörten“, erklärte ihr Kanzleichef. Man respektiere die Grenzen, aber „es gibt einen Zivilisationsraum, der sich über Jahrhunderte bildete“.
Den meisten Menschen in Russland bleiben allerdings die Streitigkeiten unter den Romanows fern. Nach der Umfrage des Lewada-Zentrums wünschen sich nur zehn Prozent von Russen die Monarchie zurück. „Wer in Russland an den ‚guten Zaren‘ glaubt, unterstützt den jetzigen Präsidenten und träumt über die Wiederherstellung Russlands als Großmacht“, kommentierte die russische Zeitung „Wedomosti“ zum Jahrestag der Ermordung der Zarenfamilie. „Zaristische (oder quasizaristische) Illusionen von Russen verwirklichten sich nach dem Zerfall der Sowjetunion mit Boris Jelzin und später mit Wladimir Putin.“