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Helmuth von Moltke – Genie und Wahnsinn im Kriege

Moltke, der Ältere, galt als Genie, der jüngere wurde für verrückt erklärt. Eine neue Deutung der berühmten Heerführer.

Auf den ersten Blick haben Helmuth von Moltke (1800-1891), genannt der Ältere, und sein gleichnamiger Neffe (1848-1916) viele Gemeinsamkeiten. Ohne größere Truppenerfahrung wurden beide preußische Generalstabschefs. Beide Karrieren waren lange Zeit verhalten verlaufen. Dem Älteren drohte um 1855 als Mittfünfziger die Verabschiedung in den Ruhestand im Range eines Obersten. Und selbst als er bald darauf zum General befördert wurde, war er im deutsch-dänischen Krieg von 1864 zunächst nicht an den strategischen Entscheidungen beteiligt. Das änderte sich 1866 im Konflikt mit Österreich-Ungarn und erreichte seinen Höhepunkt im deutsch-französischen Krieg von 1870/71, den auch der jüngere Moltke als Offizier mitmachte. Danach wurde der Ältere zu einer Lichtgestalt der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung.

Obwohl die beiden Moltkes nach heutigen Maßstäben „politische Offiziere“ waren, wurde Moltke der Ältere einer der wichtigsten militärischen Führer der Nation, während sein Neffe vollständig scheiterte. Was waren die Ursachen? Und wie kam es dazu, dass nur gut fünfzehn Jahre nach der Verabschiedung und dem Tod des Älteren ein zweites Mitglied der Familie in die Schlüsselposition eines Generalstabschefs gelangte?

Das hatte mit der familiären Situation des Alten und den Machtstrukturen in Preußen zu tun. Helmuth von Moltke blieb kinderlos. Seine Frau starb bereits 1868. Spätestens von da an galt seine ganze Zuneigung der Familie seines Lieblingsbruders Adolph Erdmann, der die Anfänge in Kreisau, dem in Schlesien gelegenen Familientreffpunkt, das Moltke dank königlicher Dotationen erworben hatte, noch miterlebte, bevor er 1871 starb. Adolph Erdmanns ältestem Sohn vermachte Helmuth schließlich Kreisau. Dessen jüngerem Bruder Helmuth verhalf er zu einer militärischen Karriere. Sie führte den Jungen in schwindelerregende Höhen, bevor im Sommer 1914 binnen sechs Wochen der Absturz erfolgte.

Die Sonderstellung des jüngeren Moltke wurde schon im deutsch-französischen Krieg sichtbar. Im August 1870 sprach sich wie ein Lauffeuer bei der Truppe herum, dass ein Adjutant des Generalstabschefs einen jungen Offiziersanwärter des Liegnitzer Grenadierregiments Nr. 7 suche – nur um ihm auszurichten, dass die Entscheidungsschlacht bei Sedan unmittelbar bevorstehe.

Im weiteren Kriegsverlauf erhielt der junge Offizier immer wieder Sonderurlaub, um seinen berühmten Onkel bei Ausritten und Kutschfahrten zu begleiten. Später diente er dem greisen Generalfeldmarschall als persönlicher Adjutant. Und er machte schnell Karriere. Mit zweiunddreißig Jahren wurde er Mitglied des Generalstabs, 1899 zum General und Ortkommandanten von Potsdam befördert, 1902 übernahm er die erste Division des Gardekorps, 1906 avancierte er als Nachfolger Alfred von Schlieffens zum Chef des Großen Generalstabs und damit zum mächtigsten Offizier im Reich. Gleichwohl war er hellsichtig genug, um zu erkennen, dass er Wilhelm II. im Grund nur als Maskottchen diente. So soll er den Kaiser gefragt haben, „ob er glaube, zweimal in derselben Lotterie gewinnen zu können“? Der Monarch, wie viele in seiner Entourage und übrigens auch der jüngere Moltke selbst ein Anhänger spiritistischen Gedankenguts, muss solche Anwandlungen gehabt haben. Nicht umsonst hielt er sich gleich mehrere Besitzer des legendären Namens. Ein Graf Cuno von Moltke war Flügeladjutant und beriet den Monarchen in allen künstlerischen Fragen.

Helmuth von Moltke litt unter dem Leerlauf im Umfeld des Kaisers. Als er diesen einmal auf einer Nordlandreise begleitete, schrieb er seiner Frau, er gewöhne sich nicht an den „auf den Kalauer gestimmten Grundton unseres Kreises“. Als sich abzeichnete, dass er Generalstabschef werden sollte, sagte er bei einem Ausritt mit Reichskanzler von Bülow im Berliner Tiergarten, er hoffe, „dass dieser Kelch an mir vorübergehen werde“. Aber als es tatsächlich dazu kam, nahm er die in der Generalität durchaus umstrittene Entscheidung des Kaisers widerspruchslos hin.

Moltke erwarb sich in den nun folgenden Jahren die Anerkennung des Monarchen bei großen Manövern. An dem Kriegsplan, den sein Vorgänger für den Fall eines Zweifrontenkrieges gegen Russland und Frankreich entwickelt hatte und der wegen des Einmarsches in das neutrale Belgien den Kriegseintritt des britischen Empires in Kauf nahm, änderte er nichts. Mit einer geradezu fatalistischen Grundhaltung beobachtete er die Politik der Reichsführung, die mehr und mehr den großen Waffengang einkalkulierte.

"Wenn der Krieg kommt, kommt er hoffentlich bald"

Dennoch gehörte er nicht zu den Kriegstreibern. Einem aus Südafrika stammenden Mitglied der Familie Moltke, Dorothy, der Mutter des Hitler-Gegners Helmuth James, blieb es in einem Brief an ihre in Kapstadt lebenden Eltern vorbehalten, das Weltbild von Moltke d. J. auf den Punkt zu bringen. Sie schrieb 1912: „Onkel Helmuth meint, dass es vielleicht Krieg gibt aus dem einfachen Grund, dass alle sich seit langem darauf vorbereitet haben, und solch ungeheure Waffenarsenale sind immer eine Gefahr. Aber er glaubt auch, dass absolut kein Grund zu einem Krieg besteht.“ Dorothy zufolge sagte der Patenonkel des im Januar 1945 von den Nationalsozialisten ermordeten Helmuth James aber auch: „Wenn der Krieg kommt, kommt er hoffentlich bald, bevor ich zu alt bin, die Dinge richtig zu meistern.“

Zu meistern gab es 1914 nicht mehr viel. Der Kaiser fuhr seinem Generalstabschef am 1. August in die Parade und verlangte einen neuen Plan, eine Unmöglichkeit. Von dieser Demütigung erholte sich der jüngere Moltke nicht mehr. Weil er die Geheimwaffen seines Onkels bei der Führung großer Heere, Eisenbahn und Telegrafie, nicht weiterentwickelt hatte, wusste er schon bald nicht mehr, wo seine, geschweige denn, wo die Truppen des Gegners standen. Auch musste er auf Druck des Kaisers Divisionen vom Westen nach Ostpreußen werfen, um den russischen Vormarsch zu stoppen. Das aber verwässerte den Schlieffen-Plan, dessen Kern der überlegene rechte Flügel im Westen gewesen war. Moltke brach die Marne-Schlacht ab und meldete dem Kaiser: „Majestät, wir haben den Krieg verloren!“ Hof und Regierung erklärten ihn für verrückt und ersetzten ihn durch Erich von Falkenhayn. Doch wie Geschichte zeigen sollte, hatte Moltke den Krieg, der folgen sollte, besser begriffen. 1916 starb er während eines Festakts im Berliner Reichstag – an gebrochenem Herzen, wie einer seiner Söhne sagte.

Der Autor ist Verfasser des Buches: „Die Moltkes. Von Königgrätz nach Kreisau. Eine deutsche Familiengeschichte“. Piper, München, 2010. 374 S., 22,95 Euro.

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