Jeanne Mammen. Die Beobachterin.

Schon zum zweiten Mal stand sie vor den Scherben ihrer Existenz. Kaum hatte sich Jeanne Mammen von den Folgen des ersten Krieges erholt und sich erfolgreich als Künstlerin etabliert, entriss ihr der zweite erneut alles, was sie hatte: „Keine Fenster, keine Heizung, weder Gas noch elektrisches Licht, keine Lebens­mittel. Bilder, Lithos, Zeichnungen, Möbel zum großen Teil verbrannt, abgesoffen, gestohlen.“ Ihr Berliner Atelier am Kurfürstendamm 29 glich 1945 einem Trümmerfeld. Doch die Künstlerin gab auch diesmal nicht auf, konzentrierte sich auf die Arbeit, inte­grierte neue Materialien in ihre Bilder, verwendete Kordeln von Care-Paketen, Drähte und Papierfetzen, formte ihren Stil immer weiter und fasste wieder Fuß. Bis zu ihrem Tod 1976 arbeitete Jeanne Mammen als Malerin und Zeichnerin – und hinterließ so ein Werk, das vielseitiger kaum sein könnte. Und doch blieb sie bis heute für viele die Chronistin Berlins  der 1920er-Jahre, die Schöpferin mondäner wie frivoler Großstadtfiguren auf Papier und Leinwand.

Die Berlinische Galerie möchte dieses einseitige Bild nun aufbrechen und widmet der Künstlerin eine umfassende Retrospektive. Mit rund 170 Arbeiten aus über 60 Schaffensjahren zeichnet die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung Leben und Werk Jeanne Mammens nach und präsentiert die Künstlerin als Einzelgängerin und scharfsinnige Beobachterin, die weder Milieu noch Erfahrung scheute.

1890 in Berlin geboren, wuchs Jeanne Mammen ab 1900 in Paris auf, ehe der Erste Weltkrieg sie und ihre Familie zwang, Frankreich zu verlassen. Als ausgebildete Künstlerin strandete sie 1915 in ihrer Geburtsstadt, nur ihre Eltern und Geschwister an ihrer Seite. Mittellos versuchte sie, sich als Gebrauchsgraphikerin über Wasser zu halten, veröffentlichte erstmals Arbeiten im Kunstgewerbeblatt von 1915/16. Mit Buchillustrationen und Kinoplakaten beginnt Mammens Karriere als eine der gefragtesten Zeichnerinnen der 1920er-Jahre. In Zeitschriften wie „Der Jung­geselle“, „Styl“, „Ulk“ und „Simplicissimus“ erschienen Mammens Skizzen aus dem Pariser Großstadtleben, aktuelle Modeillustrationen, gesellschaftskritische Motive, Aquarelle und Federzeichnungen. Selbst Kurt Tucholsky brachten ihre gezeichneten Figuren – „anmutig und herb“, um vieles besser als „das Geschmier der meisten [i]hrer Zunftkollegen“ – zum Schwärmen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten sollte sich für Jeanne Mammen jedoch wieder alles ändern: Das Verbot oder die Gleichschaltung aller Zeitschriften, für die sie gearbeitet hatte, beraubte die Künstlerin ihrer Existenzgrundlage. Doch auch in jener Zeit blieb sie produktiv, schuf kubistisch anmutende Gemälde wie „Kind im Luftschutzkeller“, „Soldat“ oder „Würge­engel“.

Es sind Mammens Bilder aus jener Zeit, mit denen die Berlinische Galerie einen besonderen Akzent setzen und ihren künstlerischen Widerstand zur Diskussion stellen möchte. Doch auch ihre plastischen Arbeiten der Nachkriegszeit – Köpfe aus Gips und Materialbilder –,  zart gemalte Gespinste der 1950er- und 1960er-Jahre ebenso wie die von phantastischen Motiven dominierten Kompositionen des Spätwerks finden in der Ausstellung ihren gebührenden Platz und ermöglichen so einen umfassenden Blick auf das spannende und heterogene Œuvre der Berliner Künstlerin.

Widmete die Berlinische Galerie Jeanne Mammen erstmalig 1997 eine Ausstellung, lädt das Museum nun – zwanzig Jahre später – dazu ein, das Gesamtwerk einer der sperrigsten und schillerndsten Figuren der jüngeren Kunstgeschichte neu zu bewerten.