1 Interferenzen

Die vorigen beiden Kapitel sind vergleichend vorgegangen, indem sie zur gleichen Zeit entstandene, inhaltlich affine Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen unter dem Stichwort der Institutionenkritik nebeneinandergelegt bzw. die verschlungenen Wege der medialen Formation des score in und durch verschiedene künstlerische Disziplinen nachgezeichnet haben. Beide legten ihren Fokus auf die 1960er- und 70er-Jahre. In diesem Kapitel soll es nun um die Gegenwart gehen, und zwar um den Wechsel einzelner Künstler*innen oder ganzer künstlerischer Bewegungen an andere disziplinäre Orte. Man könnte hier allgemein zwischen Touristen, Überläufern und Nomaden unterscheiden: Manche kommen als Gäste, andere richten sich auf Dauer ein; einige wenige führen eine nomadische Existenz, die sich keinem Ort wirklich zuordnen lässt und so den immer wieder neu zu kalibrierenden Umgang mit den unterschiedlichen Vorstellungen, Normen und Genealogien zur eigenen Normalität gemacht hat.

Während der Blick auf andere künstlerische Felder von Faszination, Irritation, Neid, Bewunderung, Abwertung, verschiedensten Projektionen oder auch schlicht Desinteresse geprägt sein kann, die mindestens so viel über die eigene Lage wie über diejenige der beobachteten Praktiken aussagt, ist der tatsächliche Wechsel oft von beiden Seiten aus von großen Erwartungen begleitet. Der Wechsel aus verschiedenen Disziplinen ins MuseumFootnote 1 als dem Ort mit den stärksten universalen Ambitionen, der gleichwohl seine eigene Spezifität nicht verleugnen kann, ist dabei heute der paradigmatische Fall, der hier anhand einiger Beispiele behandelt werden soll. Dabei wird der Tanz im Mittelpunkt stehen.

Bei einem solchen Wechsel legen sich die Leitbegriffe von Material und Ort von alleine nahe; man kann sagen, dass im Grunde keine theoretische Aufarbeitung von Tanz im Museum um sie herumkommt, auch wenn sie nicht explizit gemacht werden. Trotzdem verspricht ihre explizite Thematisierung eine veränderte Perspektive, insofern sie besonderes Augenmerk auf die Differenzen und Kontexte der jeweiligen Arbeiten und Bewegungen legt. Ihr Ausgangspunkt ist weder eine Genealogie von Tanz und Performance noch eine Institutionenkritik des Museums, sondern sie nähert sich beiden Themen vom spezifischen Phänomen des Übergangs und der Interferenzen, die sich hier ergeben. Dabei stößt man auf kaum kompatible Perspektiven, die wesentlich mit den jeweiligen disziplinären Hintergründen und Interessen zu tun haben. Sie können nicht einfach ausgeräumt werden, sondern müssen als Dimension der in Frage stehenden Bewegung selbst begriffen werden.

Eine prägnante Selbstbeschreibung von Xavier Le Roy bringt einige der genannten Interferenzen auf den Punkt: „I am non-dance in the dance world, but in the art world, I’m dance.“Footnote 2 Le Roys Aussage umschreibt einen Raum von Erwartungen und Zuschreibungen, der einiges an Widersprüchlichkeit enthält. Als Choreograph und Performer ist Le Roy anerkannt, wird aber vielfach eher als Vertreter konzeptueller Performance wahrgenommen denn als Tänzer.Footnote 3 Wenn er im Museum arbeitet, verschiebt sich diese Wahrnehmung, denn hier erscheinen Material und Verfahren des diszipliniert körperlich agierenden und Körper gezielt in Bewegung bringenden Künstlers fast unvermeidlich als tänzerisch. Der disziplinäre Hintergrund, von dem er abweicht, wird bei diesem Ortswechsel in gewisser Weise mittransportiert und tritt als solcher in Erscheinung – für seine eigene Disziplin mag er „non-dance“ sein, aber hier ist er es als Tänzer.

Diese Wahrnehmung hat auch einiges damit zu tun, was das Museum von dem Tänzer und Choreographen will, was es sich von ihm erhofft. Hier wird die Sache etwas komplizierter. Die Motivationen dahinter, Tanz heute im Museum zu platzieren, können sehr verschieden sein, von einem genuinen künstlerischen Interesse an genau den Interferenzen, um die es hier geht, bis zur Hoffnung, dadurch die Sammlung zu beleben und die Institution mit ein wenig frischem Blut zu versorgen. Zu einer von mehreren Möglichkeiten im postmedialen Raum, also zu möglichem Material einer künstlerischen Gestaltung, die sich von Vorstellungen wie Medienspezifität oder Materialgerechtigkeit verabschiedet hat, ist Tanz heute eher noch nicht geworden. In der Regel will das zeitgenössische Museum nicht die Tänzerin als Nicht-Tänzerin, sondern es will auch die Nicht-Tänzerin als Tänzerin. Die Tänzerin selbst wiederum mag sehr Verschiedenes wollen und sich erhoffen. Sie mag von den neuen Möglichkeiten begeistert oder von den Erwartungen und Kategorisierungen irritiert oder abgestoßen sein, aber sie wird sich dem Ruf dieser Kunstinstitution mit ihrem Versprechen auf Wahrnehmbarkeit und kulturelles Kapital kaum entziehen können. In dieser Hinsicht hat das Museum etwas von einem „irresistible empire“,Footnote 4 einem Hegemon, dessen Attraktivität ihn so erfolgreich macht.

Am Ende wird diese Logik der Negation und das Spiel mit ihr aber der tatsächlichen Situation nicht gerecht. Als was Tanz und was als Tanz wahrgenommen wird, entzieht sich offensichtlich einer Logik des Entweder-Oder, es ist aber auch nicht vollständig mit der Figur der bestimmten Negation zu fassen. Die Einbeziehung der Kategorie der Performance, die verschiedene Quellen hat und bei allen Überschreitungsbewegungen und manchmal diffusen Verallgemeinerungen ihre innere Diversifizierung behalten hat, verkompliziert die Sache noch, denn die Frage der Kategorisierung künstlerischer Arbeiten wie denjenigen von Le Roy und der Abgrenzbarkeit der Kategorien hängt entscheidend davon ab, wo sie stattfinden und von wo aus die Frage gestellt wird.

Man könnte meinen, dass für die (Kunst-)Musik ganz ähnliches wie für den Tanz gelten sollte. Wenn wir noch einmal auf die im vorigen Kapitel behandelten Bewegungen der 1960er-Jahre blicken, in denen Tanz, Musik, Literatur und bildende Kunst in einem ständigen Austausch standen und für die die New Yorker Galerien als vergleichsweise neutrale Orte erschienen, in denen sich der damalige Aufbruch artikulieren konnte, der verschiedene Disziplinen zusammenbrachte bzw. zwischen ihnen zirkulierte, so sind die beiden Disziplinen hier gleichermaßen beteiligt gewesen. Heute ist die Lage eine deutlich andere: Weder hat es in gleichem Maße und mit vergleichbarer Resonanz musikalische Arbeiten im Museum gegeben, noch haben derartige Ortswechsel auf ähnliche Weise das Selbstverständnis und den Diskurs auf beiden Seiten verändert.

Bojana Cvejić bemerkt dazu: „The ideal music was for art and its culture in the XIXth century is dance in the end of the XXth century and today. The ineffable, inexpressible, universal, infinite in the finite form, transfigure the values (Romantic illusion) that dance promises in the age of liberal capitalism.“Footnote 5 Die Eigenschaften, die hier mit dem Tanz verbunden werden, sind genau dieselben, die mit der Musik verbunden worden sind; offenbar kann diese die entsprechende Rolle nicht mehr ausfüllen. Um es etwas unfreundlich zu formulieren: Die Tendenz zur Fetischisierung des beweglichen menschlichen Körpers ist heute offenbar stärker als die Faszination der scheinbar körperlosen Musik. Vielleicht blickt man so aber auch an den falschen Ort, denn die Idee einer absoluten, reinen Musik gehört einer anderen Zeit an. Wenn heutige Künstler*innen sich auf Musik beziehen, so ist es in der Regel Popmusik, wobei es immer auch um die Momente des Performativen und Medialen und um die Inszenierung geht. Die Neue Musik, also die zeitgenössische Kunstmusik, spielt demgegenüber kaum eine Rolle. Das Feld ist kompliziert, und da wir im Zusammenhang mit Tanz im Museum auf zahlreiche Beispiele und eine einigermaßen umfangreiche Literatur zurückgreifen können, wird dieser Bereich im Mittelpunkt stehen, während ich der Frage der Musik nur einige Nebenbemerkungen widmen werde. Eine genauere Auseinandersetzung damit bleibt ein Desiderat.

Wenn hier von Tanz im Museum die Rede ist, so geht es primär um sein Stattfinden unter den Bedingungen des Museums – bei Tageslicht, mit einem beweglichen Publikum, in offenen Räumen, in denen es keine akustische Isolierung gibt – und nicht um den bloßen Transfer des Dispositivs einer Tanzaufführung oder auch eines Konzerts ins Museum. Nur mein letztes Beispiel weicht davon ein wenig ab. All dies bedeutet eine drastische Veränderung der Aufführungsbedingungen, mit denen die jeweils herrschenden institutionellen Normen eng verbunden sind. Und es ist in beiden Fällen eine Beziehung ungleicher Partner: Von einer nennenswerten Bewegung in die andere Richtung, aus der bildenden Kunst in die Konzertsäle und Theater, kann keine Rede sein.

Le Roys pointierte Aussage macht deutlich, dass bei all dem eine Fokussierung auf die realen Bedingungen des jeweiligen Stattfindens, vor allem die räumliche und zeitliche Organisation, nicht ausreicht, sondern es auch wesentlich um die Begriffe gehen muss, unter denen die verschiedenen Beispiele verhandelt werden. „Unter den Bedingungen des Museums“ heißt dann oft auch: mit den Begriffen der bildenden Kunst, die an anderen Materialien und Praktiken gebildet wurden und deren Schärfe und Unterscheidungskraft auf diese Praktiken bezogen bleibt. Tanz, Performance, Bewegung, Musik, Sound, zeitbasierte Künste – keiner dieser Begriffe ist eindeutig oder unschuldig, und sie verändern ihren Sinn an verschiedenen Orten ebenso sehr, wie die künstlerischen Arbeiten selbst ihren Sinn verändern. Wie sehr diese Begriffe die künstlerische Arbeit und ihre Auffassung prägen, weist noch einmal darauf hin, dass das Material durch und durch von Begriffen geprägt ist, auch ohne dass Begriffe zum Material werden.

Die Präsenz tänzerischer Arbeiten in Museen und Galerien erlebte, zumindest was öffentliche Wahrnehmung und diskursive Begleitung angeht, Mitte der 2010er Jahre einen Höhepunkt.Footnote 6 Inzwischen scheint sie sich in gewisser Weise normalisiert zu haben, und die Zahl von Choreograph*innen, die ihren künstlerischen Schwerpunkt ins Museum verlagert haben, wächst. Dies hat eine lange Vorgeschichte, die allerdings keine kontinuierliche Genealogie ergibt, und es hat einen Kontext, der durch das Auftauchen performativer Elemente in die bildende Kunst geprägt ist, die keinen Bezug zum Tanz haben. Beiden Dimensionen möchte ich im folgenden Abschnitt nachgehen, ehe ich mich im dritten einigen Beispielen zuwende. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um die Fragen, was für Materiallinien hier unterschieden werden müssen und was der Kontext jeweils sehr verschiedener Museen für den Tanz bedeutet. Daher werde ich mich auf wenige prominente, aber als solche exemplarische Fälle beziehen: Von einigen Seitenblicken abgesehen wird es um die maßstabsetzende „Choreographierte Ausstellung“ von Mathieu Copeland an der Kunsthalle St. Gallen und um einige Arbeiten gehen, die Anne Teresa De Keersmaker an verschiedenen Orten realisiert hat.

Bei all dem muss noch einmal daran erinnert werden, dass hier nicht disziplinäre Zuordnungen und Normen festgeschrieben werden sollen, als bewegten wir uns noch in einem Raum der Künste, in denen Überschreitungen und Hybridisierungen mit Argwohn betrachtet werden und jede künstlerische Arbeit sich einer quasi polizeilichen Identitätskontrolle zu unterziehen hat. Vielmehr bleibt die Logik von Materialien und Orten bedeutsam für die Frage, worauf sich etwas bezieht, mit welchen Hintergründen es umgeht, welche Genealogien es in Anspruch nimmt und verschiebt und schließlich in welchem Kontext es sich mit all dem situiert. Berücksichtigt man dies nicht, wird man einen großen Teil der künstlerischen Arbeiten der Gegenwart in Wahrnehmung und Urteil verfehlen und das reale Nachleben der Künste ignorieren. Gegenüber diesem Anspruch wird das im Folgenden Ausgeführte insofern zurückbleiben, als es mit relativ groben Kategorien agiert, die eher zum allgemeinen Sortieren der Lage dienen.

2 Welche Bewegung?

Im Rückblick auf seine „choreographierte“ Ausstellung formulierte Copeland einen Satz, an dem sich die Notwendigkeit von Differenzierungen besonders deutlich zeigt: „Movements produce a critical experience of the ephemeral […].“Footnote 7 Die Kategorien, die er hier verwendet, sind alle von größtmöglicher Allgemeinheit. Zuerst einmal Bewegung als solche, ohne jede weitere Spezifikation: Festzustellen, dass eine künstlerische Arbeit Körper und Bewegung als Material verwendet, sagt wenig, denn es geht immer um spezifische Körper, mehr noch um ganz verschiedene Modi von Bewegung und auch körperliche Aktionen, in denen die Form der Bewegung überhaupt nicht im Mittelpunkt steht, sowie um je verschiedene räumliche und zeitliche Konstellationen. Ähnliches gilt für das Attribut des Kritischen, das jener entqualifizierten Bewegung zugesprochen wird. Nicht einmal in Bezug auf das Museum, das hier ja im Fokus steht, ist die Anwesenheit körperlicher Bewegung per se kritisch, und ob die Interferenzen bei einem Ortswechsel wie diesem tatsächlich eine kritische Funktion haben, ob sie so gemeint und/oder aufgefasst werden, hängt von der konkreten Arbeit und vielleicht noch mehr von den spezifischen institutionellen Bedingungen ab. Die Kategorie des Ephemeren schließlich, die hier als Eigenschaft der Bewegung schlechthin ins Spiel gebracht wird, zirkuliert zwischen Tanz und Performance, bleibt aber in beiden Bereichen problematisch. Ich werde im Folgenden den Fragen nachgehen, die sich aus Copelands Aussage ergeben: Von was für einer Bewegung ist die Rede, auf was für eine Tradition und was für einen Kontext bezieht sie sich? Nur dann kann die Frage, ob sich mit ihr potentiell ein kritisches Potential verbindet, sinnvoll beantwortet werden. Nebenbei ergeben sich daraus auch Hinweise darauf, wieso und für wen eine solche Aussage heute plausibel erscheinen kann.

Als erster Ansatzpunkt kann mit Claire Bishop zwischen „performing arts“ und „visual art performance“ unterschieden werden, um nicht sehr verschiedene Traditionen mit dem gleichen Maßstab zu messen.Footnote 8 Aber auch dies ist noch deutlich zu grob und unterschlägt die Komplexität der Genealogien und suggeriert einmal mehr, dass Performance primär eine Sache der bildenden Kunst ist. Es gibt aber zumindest zwei unterschiedliche Traditionslinien, die zwar nicht immer klar gegeneinander abgegrenzt sind, aber doch aufgrund ihrer Ausgangspunkte in der bildenden Kunst auf der einen und in Tanz und Theater auf der anderen Seite andere Ansätze verkörpern und andere Begriffe von Performance ausgebildet haben. Wenn Bonnie Marranca konstatiert, „it is time that the two different histories of performance that now exist – one in the artworld and the other in the theatre – are brought together for an integrated approach to research“,Footnote 9 so kann damit keine vereinheitlichende Geschichte gemeint sein, die die Differenzen überspielt, sondern eine Aufarbeitung, die das Feld in seiner Heterogenität beschreibt und dabei Unterschieden genauso viel Aufmerksamkeit widmet wie Verbindungen. Ein einheitlicher Begriff von Performance wird dabei nicht herausspringen. Ob es hilfreich ist, von einer Performativität aller Kunst bis hin zur „Performativität des Museums“ zu sprechen, ist eine andere Diskussion; im hier zur Debatte stehenden Kontext ist diese Erweiterung allerdings eher geeignet, die Sache endgültig zu verunklaren.Footnote 10 Wenn ich hier einen skizzenhaften Blick auf diese Genealogien werfe, so wird dies anhand von drei Motiven geschehen: dem Theatralen, dem Ephemeren und dem Choreographischen.

Das Theatrale ist vielleicht der schillerndste der drei, weil es über die Jahre von verschiedenen Positionen für ganz unterschiedliche Dinge in Anspruch genommen worden ist: als Situation geteilter Räumlichkeit und Zeitlichkeit, als Illusion, als realer disziplinärer Ort und als Inbegriff des Dazwischen und der Hybridität. Allan Kaprow, dessen Happenings für gewöhnlich als Teil der Vorgeschichte der Performance angesehen werden, hatte noch kein Problem mit dem Theater: Er nannte die Happenings „essentially theater pieces, however unconventional“.Footnote 11 Voraussetzung dafür, sich auf eine so allgemeine wie unverfängliche Weise auf Theater zu beziehen, ist, dass sich damit kein weiteres Interesse verbindet – weder geht es um Identifikation noch um Abwehr, noch auch um eine Arbeit am Theaterbegriff selbst.

Die Haltung ändert sich grundlegend mit Michael Frieds bekanntem Frontalangriff auf die Minimal Art, auch wenn er eher noch weniger Interesse an der realen künstlerischen Disziplin des Theaters hatte. Im „Kriegszustand“Footnote 12 zwischen Theater und wahrer Kunst, so Fried, hat die Minimal Art die Seiten gewechselt und ist „vom Theater korrumpiert und pervertiert“Footnote 13 worden. Theatralität wird hier zu einer Figur, auf die all das projiziert wird, was er an den behandelten Künstlern ablehnt, und das ist in erster Linie die Tatsache, dass sie die Betrachter*innen in eine Situation verwickeln, die sowohl sie selbst als körperliche Wesen als auch die Arbeiten in ihrer Objekthaftigkeit umfasst und die eine potentiell unendliche Dauer hat. Das trennt sie grundlegend von der modernen Malerei, die sich in der Distanz hält und, so Fried, auf einen Schlag erfahren werden kann. Dass beides am klassischen Theater mit seiner klaren Trennung von Bühne und Zuschauerraum und seiner narrativen, teleologischen Zeitlichkeit vorbeigeht, steht auf einem anderen Blatt, und entscheidend für uns heute ist weniger Frieds idiosynkratische Rekonstruktion als die klarsichtige Diagnose der Einführung eines geteilten Raums in einer geteilten Zeit, innerhalb derer mediale Reinheit nicht mehr möglich ist. Man könnte aus dieser Perspektive sagen, dass die Minimal Art gerade nicht medial bestimmt ist, sondern als Situation oder auch als räumlich-zeitlich bestimmter Ort, und dass genau dafür Theater als Chiffre fungiert. Überdies kann sie bereits „zeitbasiert“ genannt werden, denn Zeit kommt in der Erfahrung der minimalistischen Objekte ins Spiel und entfaltet sich so zwischen Objekt und Betrachter*in. Es sind eben diese Bestimmungen, „the embodied, temporal quality of the experience of art“,Footnote 14 die von der aus der bildenden Kunst stammenden Performancekunst aufgegriffen wurden.

Im Hinblick auf den geteilten Raum wird die konstatierte Situation von den in Frazer Wards Aufarbeitung der Performance in der bildenden Kunst vor allem der 1970er-Jahre behandelten Künstler*innen – Vito Acconci, Chris Burden, Marina Abramović und Tehching Hsieh – noch einmal verschärft, indem ihre Arbeiten das Publikum ganz unmittelbar angehen und keine unbeteiligten bzw., wie der englische Begriff treffend lautet, unschuldigen Zuschauer mehr zulassen. Nicht zufällig scheint Frazers Titel No innocent bystanders eher auf die Zeug*innen einer Schlägerei oder eines Verkehrsunfalls als auf die distanzierten Betrachter*innen einer ästhetischen Darbietung zu verweisen. All dies verstand sich als kritisch und wurde auch so aufgefasst – allerdings ist es kaum plausibel, „Bewegung“ als gemeinsamen Nenner zu beschreiben.

Zudem wurde das Theatrale nun nicht etwa, wie man vom Bezug zur Minimal Art her vermuten könnte, positiv in Anspruch genommen, sondern explizit abgewehrt – wobei aber ein anderer Aspekt in den Vordergrund rückte, nämlich Illusionismus. Am Ende sollte dies jegliche Form der Darstellung einschließen: „[S]ince it tells of nothing and imitates no one, performance escapes all illusion and representation.“Footnote 15 Abramović hat das in ihrer plakativ zuspitzenden Art noch Jahrzehnte später, anlässlich ihrer großen Retrospektive im MoMA, folgendermaßen formuliert: „To be a performance artist, you have to hate theater.“Footnote 16 Der Vorwurf ist, dass Theater „nicht wirklich“ ist, während in der Performancekunst das Messer, das Blut und die Gefühle real seien, denn es gehe um „true reality“. Auch hier zeigt sich eine Nähe zur Minimal Art, wobei die Sache wiederum deutlich dramatisiert wird: Abramovićs Insistieren auf der Wirklichkeit des Messers und der Wunde könnten als Verschärfungen von Donald Judds Insistenz auf spezifischen Objekten und wirklichem Raum gelesen werden.Footnote 17 Die Dimension der Darstellung und Inszenierung und ihre diskursive und institutionelle Begleitung, die all diese Arbeiten natürlich trotzdem hatten und haben mussten, um nicht unmittelbar in Gewalt oder Pornographie überzugehen, wird demgegenüber heruntergespielt.

Vielleicht muss man es so sagen: In dem Moment, wo in einer bestimmten Hinsicht oder sogar auf mehrfache Weise erkennbar auf Theatralität gesetzt wird,Footnote 18 wird die Notwendigkeit verspürt, sich auf einer anderen mit aller Macht vom Theater abzugrenzen. Dabei fungiert gerade der programmatische Hass auf das Theater als Argument, der Performance als solcher eine kritische Position zuzusprechen; in der Kunstwelt allerdings, in der Abramović zum Zeitpunkt dieser Äußerung endgültig arriviert war, kostet diese vehemente Abgrenzung nichts, weil sie ihr gegenüber gerade keine kritische Pointe hat.

Eine vollkommen andere Konstellation finden wir bei den Entwicklungen im Tanz der 1960er-Jahre; das gilt für zahlreiche Strömungen der 1960er-Jahre, deren Austausch immer wieder auch in Museen und Galerien stattfand. Für das Judson Dance Theater und Verwandtes – Yvonne Rainer, Trisha Brown, Steve Paxton, Simone Forti u. a. – stand dabei die Verabschiedung einer ganzen Reihe von Bestimmungen und Selbstverständnissen im Mittelpunkt, die den Tanz wesentlich ausgemacht hatten: vor allem ein von Alltagsbewegungen klar abgegrenztes Bewegungsrepertoire, eine differenzierte Inszenierung von Form und große disziplinäre Virtuosität.Footnote 19 Der radikalste Ausdruck davon war Yvonne Rainers 1965 veröffentlichtes No Manifesto, das all dem und selbst Ausweichbewegungen wie dem Anti-Heroischen, Exzentrizität, Camp und „trash imagery“ und auch der Einbeziehung des Publikums eine Absage erteilte.Footnote 20

Rainer hatte dies ebenfalls mit der gleichzeitig stattfindenden Entwicklung der Minimal Art zusammengebracht; über direkte persönliche Verbindungen hinaus – Simone Forti war damals mit dem Künstler Robert Morris verheiratet, der auch, ebenso wie Robert Rauschenberg, unter den Performern von Rainers Parts of Some Sextets war – ist ihre direkte Gegenüberstellung der Veränderungen in beiden Bereichen unmittelbar einleuchtend.Footnote 21 Auch hier gab es die Situation des geteilten Raums, im Mittelpunkt aber stand diesmal tatsächlich die Bewegung, deren Material auf einem ebenso veränderten Verständnis des Tänzerischen beruhen sollte, wie die Minimal Art sich von der Skulptur absetzte. Die Frage, ob die genannten Künstler*innen ihre Stücke selbst aufführen, ob sie also lediglich als Choreograph*innen oder auch als Tänzer*innen agieren, war hier deutlich weniger bedeutungsvoll als im Falle der Performance im Kontext der bildenden Kunst: In der Regel nahmen sie beide Rollen ein, aber durchaus nicht immer; jenseits von Solostücken waren sie dann ohnehin nur eine*r von mehreren Tänzer*innen.

Auch wenn Theatralität hier weder als Referenz noch als Abstoßungspunkt eine explizite Rolle spielte, kam das Theater doch auf noch einmal andere Weise ins Spiel, die sich etwa noch Jahrzehnte später in Boris Charmatz’ Rede von „the historically oppressive control of the theater and the school“Footnote 22 ausdrückt. Hier geht es nicht um das Theater als künstlerische Form, sondern um die Präsentationsform mit Bühne, Zuschauerraum etc., die ebenso angegriffen wird wie die Disziplinierungsmaschine der Akademie. Ein Teil der von Rainer beschriebenen Verschiebungen lief über die Galerie und das Museum, in denen die Normen und Erwartungen nicht galten, von denen die Tanzwelt geprägt war und teilweise bis heute ist. Damit konnte dieser Wechsel als Befreiung empfunden werden. Auch wenn der größte Teil der hier anschließenden Praxis weiterhin oder wieder auf der Bühne stattfindet, ist „the importance of ‚pedestrian‘ dance, ‚task-oriented‘ dance“ für die gegenwärtige Praxis nicht ohne „dance in galleries, streets, museums or empty beaches in the 1960s“Footnote 23 zu denken. Der Ortswechsel war somit ein Mittel, über das eine Verschiebung des Bewegungsmaterials erleichtert werden kann, und man kann sagen, dass die Galerie – neben dem öffentlichen Raum – als strategische Zwischenstation fungierte: Es ging nicht darum, den Begriff und die Möglichkeiten der bildenden Kunst kritisch zu erweitern, auch nicht um eine Veränderung von deren Institutionen, sondern eher um eine praktische Kritik der Institutionen des Tanzes selbst. Sie zu verlassen, bot die Möglichkeit, an der Bestimmung dessen zu arbeiten, was Tanz ist und sein kann, um idealerweise am Ende zu einer entsprechenden Transformation seiner eigenen Institutionen zu führen.

Dabei ist klar, dass das Museum und die Galerie nicht als solche eine größere Freiheit verkörpern als die Bühne, sondern das dies nur für eine bestimmte Praxis und aus einer bestimmten Perspektive gilt, und dass ein dauerhafter Übergang dorthin sich früher oder später mit den dortigen Zwängen auseinandersetzen muss. Die geläufige Entgegensetzung zwischen der Freiheit der Betrachterin, die ihre Aufmerksamkeit und Zeit selbstbestimmt einsetzen kann, und der Tanz-, Theater- oder Konzertbesucherin, die an ihren Platz gefesselt und zur Unbeweglichkeit verdammt und dazu gezwungen ist, sich der Zeit des Dargebotenen zu unterwerfen, geht an der Sache vorbei. Sie ignoriert, dass das Funktionieren beider Institutionen auf komplementären Disziplinierungsregimen beruht: mehr oder wenige freie Bewegung bei gegenseitiger Beobachtung im Wissen darum, ständig selbst sichtbar und insofern kontrollierbar zu sein, auf der einen und körperliche Fixierung bei Wegfall der Beobachtbarkeit auf der anderen Seite, wobei das Übertreten des Verbots, visuell und akustisch in Erscheinung zu treten, mit sofortiger Sanktion durch die anderen rechnen kann.Footnote 24 Wo hier die größere Freiheit herrscht, ist schlechterdings unmöglich zu sagen, denn es war und ist primär der Ortswechsel, der Befreiung verspricht.Footnote 25

Dieser Wechsel kann auf eine weitere Bestimmung bezogen werden, die Fried mit dem Theatralen verbunden hatte, nämlich seinen hybriden Charakter, seinen unreinen Zwischenstatus: „Was zwischen den Künsten liegt, ist Theater.“Footnote 26 Es ist offensichtlich, dass wir es hier einmal mehr mit einer Projektion zu tun haben, aber es ist genau dieses unreine Dazwischen, das in der Folge als wesentliches Merkmal von Performance, nicht von Theater ausgemacht wurde. So hält Gerald Siegmund für den Bereich von Theater und Tanz selbst fest: „Für diese grenzüberschreitenden Formen, die sich keiner Gattung mehr eindeutig zuordnen lassen, hat sich Performance als eine Art umbrella term eingebürgert.“Footnote 27 Allerdings ist diese Situierung so wenig unumstritten wie das Motiv des Theatralen. Die Betonung des Dazwischen, die Siegmund nun für den Performancebegriff in den Mittelpunkt stellt, gilt durchaus nicht durchgängig und vor allem nicht überall: Paradoxerweise spielt in der bildenden Kunst als einem Feld, das sich als postmedial versteht, gerade im Hinblick auf Performance die mediale Reinheit bzw. die Suche danach weit eher eine Rolle als den medial klarer fixierten Disziplinen Tanz und Theater. In diesem Sinne bemerkt Rebecca Schneider: „In the museal context, performance is not in between any number of arts and acts, but is often presented (as in the case of Abramović) as somehow essential and pure in and of itself.“Footnote 28 Das Gemeinsame kann man darin sehen, dass Performance jeweils als etwas auftritt, das einen Unterschied macht und insofern vielleicht auf je verschiedene Weise kritisch genannt werden kann: intermediales Dazwischen im medial bestimmten Feld, eigenes Medium im postmedialen Raum.

Wo dieses kritische Potential an einem angeblichen Wesen der Performance festgemacht wurde, wurde in der Regel auf das zweite Motiv, das des Ephemeren zurückgegriffen. Lange bevor es zu einem, wenn nicht dem Definitionsmerkmal der Performance wurde, hatte es bereits den Diskurs um den Tanz begleitet. Die Klage darüber, dass Tanz verschwindet, während Literatur und Malerei bleiben und die Musik zumindest eine etablierte Notation hat, die ihre Reproduktion ermöglicht, findet sich bereits im 16. Jahrhundert, wo als Heilmittel dagegen das Festhalten durch Schrift vorgeschlagen wird, das eine Disziplinierung und historische Überlieferung ermöglicht.Footnote 29 Allerdings hat sich eine stabile und allgemein anerkannte Notation nie durchgesetzt, und das Verhältnis zwischen dem Tanz als Verschwindendem und der Schrift – und, seit dem 20. Jahrhundert, der Aufnahmetechnologie – als Bleibendem bleibt problematisch. Tanz hält sich in der Spannung zwischen dem Vertrauen auf die Möglichkeit der Konservierung und der Erkenntnis, dass ein wirkliches Festhalten unmöglich ist; diese wiederum changiert zwischen der Trauer über die Vergänglichkeit und der Feier des Ephemeren als „Dauer, die ganz aus gegenwärtiger Energie besteht, aus nichts Dauerhaftem“,Footnote 30 später als dem sich jeder Indienstnahme Entziehenden. In der Philosophie verbindet sich diese Feier der Vergänglichkeit vielfach mit einer Art Vergötzung des tanzenden Körpers, der zu diskursferner Reinheit stilisiert wird; Bojana Kunst macht dieses Motiv in den klassischen Texten von Nietzsche, Mallarmé und Valéry und noch heute bei Badiou aus: „The body of dance is the original body, which is cleared of intellect, separated from discourses, a metaphor for existing in a Dionysian world.“Footnote 31 Mehr noch als bei Copeland ist „der Körper“ hier wesentlich Projektionsfläche.

Die reale Rückseite dieser Stilisierung ist die Fixierung auf Disziplin, Übung und Technik: Der reine, ursprüngliche Körper der Bewegung muss durch lange, disziplinierende und entindividualisierende Arbeit produziert werden – die Parallelen zur reinen Klanglichkeit der Musik, deren Erzeugung eine mühsame Abrichtung erfordert, sind offensichtlich. Jérôme Bels sarkastische Aussage „there was no way I was going to be a ‚lactic acid addict‘“Footnote 32 bringt eine grundlegend veränderte Haltung zum Ausdruck, die die schmerzhaften körperlichen Folgen des Trainings nicht länger als Ausweis ihrer Qualität und Ernsthaftigkeit und Schritt auf dem Weg zur Reinheit zu akzeptieren bereit ist. In diesem Sinne beschreibt Kunst eine Verschiebung hin zu „performing the particular“,Footnote 33 der es nicht um „den Körper“, sondern um spezifische Körper geht, die sich der Arbeit der Reinigung und Generalisierung entziehen. Mit dieser Bewegung weg vom klassischen Training bewegt sich der Tanz einen deutlichen Schritt auf die Performance zu, wobei das Verhältnis dieser unterschiedlichen Körpervorstellungen und -praktiken zu Reinheit und Ephemeralität kompliziert ist: Wenn der Schritt zum spezifischen Körper bei der uneinholbaren Vergänglichkeit von dessen Handlungen und Gesten endet, haben wir es letztlich mit der Instaurierung einer neuen, nun gänzlich partikularen Form der Reinheit des Ephemeren zu tun; umgekehrt kann die Reinheit des disziplinär geklärten Körpers auch als Garantie widerstandsloser Wiederholbarkeit verstanden werden.

In den Performance Studies wurde die Seite der Ephemeralität immer weiter zugespitzt bis zu ihrer Verselbständigung zur Performance „in a strict ontological sense“,Footnote 34 die als radikal vergänglich, nicht wiederholbar oder reproduzierbar verstanden wird und gerade dadurch eine kritische Pointe bekommen soll: „Performance clogs the smooth machinery of reproductive representation necessary to the circulation of capital.“Footnote 35 Es war wiederum die Performance im Kontext der bildenden Kunst, die das Motiv des Ephemeren und der radikalen Nichtwiederholbarkeit mit besonderem Nachdruck in Anspruch genommen hat. Dass dies auch in ihrem Fall ein strategischer Zug gewesen ist und sie sich immer schon in einer Konstellation von spezifischen Körpern, Medien und Diskursen findet, in denen Wiederholbarkeit als Frage und Möglichkeit im Raum steht, wurde verschiedentlich festgehalten.Footnote 36 Allerdings ist Phelans Position für jede Praxis attraktiv, die mit ihrer eigenen Vergänglichkeit umzugehen hat, und sie wurde auch im Tanz von vielen willkommen geheißen. Tanz von der Performance her oder als Performance zu verstehen, schlägt sich so ganz auf die Seite des Vergänglichen, kann das ehemals Defizitäre endgültig in ein Moment der Überlegenheit umdeuten und rückt die Dimension von Form, Stabilität und Wiederholbarkeit in Richtung einer gewaltsamen Disziplinierung, wenn es sie nicht schlicht ausblendet.

Aber Tanz kann der Spannung zwischen Reinheit und widerständiger Partikularität, zwischen Ephemeralität und Wiederholbarkeit nicht entkommen. Man kann hier an die von Bruno Nettl im Zusammenhang mit der Improvisation in der Musik vorgeschlagene Kategorie erinnern, die bereits im vorigen Kapitel angespielt wurde: Um deutlich zu machen, dass auf der einen Seite keine Improvisation aus dem Nichts entsteht und auf der anderen Seite keine Komposition (oder Choreographie) ihre Aufführungen vollständig determiniert, spricht Nettl von „Modellen“ unterschiedlicher Dichte und Grade der Fixiertheit.Footnote 37 Das Werk als Idee vollkommener Bestimmtheit und Wiederholbarkeit und die reine Ephemeralität als Vorstellung uneinholbarer Vergänglichkeit markieren hier die unerreichbaren, phantasmatischen Endpunkte eines Kontinuums. Tanz bewegt sich immer in dieser Spannung, wodurch auch immer Stabilität und Wiederholbarkeit gewährleistet werden sollen – Notation, Beschreibung, Aufzeichnung oder Körpergedächtnis bzw., realistischer, eine wechselnde Konstellation aller dieser Formen der Dauerhaftigkeit. Wenn auf diese Weise noch die rigideste Choreographie keine identische Reproduktion hervorbringen kann und jede Form untilgbare Offenheitsmomente beinhaltet, bleibt die einzelne Aufführung dennoch individuell, und was Dorothea von Hantelmann über die Arbeiten von Tino Sehgal schreibt – sie seien „als Situationen ephemer und singulär, aber […] strukturell auf Wiederholbarkeit angelegt“Footnote 38 –, trifft auf jede Choreographie zu. Das Ephemere aus dieser Konstellation zu lösen und als die eigentlich ontologische Bedingung auszuzeichnen, erzeugt ein deutlich schiefes Bild.

In den Vordergrund tritt diese Seite des Tanzes in spezifischen Situationen, die bestimmte Formen der Stabilität verlangen, denen er sich tendenziell entzieht: in der frühen Neuzeit mit der Etablierung eines Systems der Künste, in dem jede Disziplin ihren festen Ort mit einem Kanon an Autoren und Werken hat, heute eher anlässlich der Situation des Museums, aus der und über die Copeland schreibt. Allgemein ist es das Archiv in einem bestimmten, text- und objektbasierten Verständnis, vor dem der Tanz versagt. In diesem Sinne hält Rebecca Schneider fest, dass die Bestimmung von Performance als Verschwindendes, Ephemeres „a definition well suited to the concerns of art history and the curatorial pressure to understand performance in the museal context where performance appeared to challenge object status and seemed to refuse the archive its privileged ‚savable‘ original“Footnote 39 ist. In dem Moment, in dem der Tanz in den Kontext des Museums tritt, scheint für ihn das Gleiche zu gelten.

Gerade an der Frage des Originals kann man aber den Unterschied zwischen Tanz und „visual art performance“ noch einmal sehr deutlich festmachen und damit an das im vorigen Kapitel anhand von Yoko Ono und Marina Abramović Ausgeführte anschließen: „Savable“ im Sinne eines materiellen Eingehens ins Archiv sind sie beide nicht, aber im Falle einer Form, die über Modelle funktioniert und insofern auf Wiederholbarkeit angelegt ist, gibt es schlechthin kein Original. Demgegenüber kann die Performance, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit stattgefunden hat, als tatsächliches Original fungieren, das als immer bereits Abwesendes auratisiert wird – und am Ende doch wiederholt werden kann, wenn Fragen von Autorschaft und Legitimität geklärt sind. Es sind verschiedene mediale Konstellationen, die zu anderen Typen von Wiederholbarkeit führen, andere – anders trainierte, anders aufgefasste, anders behandelte – Körper, bei aller Nähe anders gelagerte Diskursgeschichten, kurz: ein anderes Material, das hier die Differenz zwischen Tanz und Performance markiert.

Insofern ist auch Schneiders Aussage deutlich zu ungenau, wenn sie schreibt, dass „any time-based art encounters its most interesting aspect in the fold: the double, the second, the clone, the uncanny, the againness of (re)enactment“.Footnote 40 Diese Motive lassen sich kaum auf den Tanz beziehen – an der ersten Wiederholung eines Tanzstücks ist ebenso wenig Unheimliches wie an der zehnten. Trotz ihres eigenen Hinweises, dass die Emphase auf Ephemeralität ein Produkt des Museums sein könnte, operiert Schneider hier mit der Rede von „zeitbasierten Künsten“ mit einer Kategorie, für die genau das Gleiche gilt und die noch um einiges ungenauer ist. Auf sie wird noch zurückzukommen sein.

Vom bisher Ausgeführten ist es mehr als erstaunlich, dass sich in den vergangenen Jahren ausgerechnet das dritte Motiv, das des Choreographischen, als verallgemeinerter Begriff etabliert hat: „The currency that ‚performance‘ had as a technical term in the 1990s seems now to be replaced by choreography.“Footnote 41 Will man sich wirklich in die Hände dieses „Vereinnahmungsapparats“ begeben, wie André Lepecki Choreographie im Sinne von Deleuze und Guattari beschreibt, und dieses „very specific masculinist, fatherly, Stately, judicial, theological, and disciplinary project“Footnote 42 fortsetzen? Lepecki geht hier von der historischen Konstellation Ende des 16. Jahrhunderts aus, von der schon die Rede war, und beschreibt den Tanz seit dem 20. Jahrhundert wesentlich als Arbeit, sich dieser majoritären Herrschaftstechnik zu entziehen. Um in der Choreographie als solcher allerdings eine „critical discursive force“Footnote 43 zu finden, bedarf es einer weitergehenden Umdeutung, die etwas mit dem neuerlichen Interesse der Kunstwelt an Tanz (nun im Unterschied zur Performance) zu tun hat und ebenfalls in Richtung einer Angleichung des Verschiedenen wirkt, nun aber von der begrifflich anderen Seite. In diesem Kontext hat Jenn Joy den Begriff des Choreographischen als eines übergreifenden Prinzips vorgeschlagen, für das keine Disziplin mehr primäre Zuständigkeit beanspruchen kann und das sie folgendermaßen bestimmt: „To engage choreographically is to position oneself in relation to another, to participate in a scene of address […].“Footnote 44 Das ist sogar noch um einiges allgemeiner als das bereits erweiterte Verständnis von „composition for living bodies“,Footnote 45 das Erin Brannigan am Werk sieht, und fokussiert auf die reale körperliche Begegnung. Konsequenterweise, und um die Verwirrung perfekt zu machen, versieht Joy nun auch, mit direktem Rückgriff auf Phelan, das Choreographische mit dem ontologischen Attribut des Ephemeren. Das ist endgültig abwegig: Wie flexibel und offen auch immer man den Begriff versteht, die Wiederholbarkeit bleibt ihm eingeschrieben.Footnote 46

Was ein so verallgemeinerter Begriff des Choreographischen allerdings auch ins Spiel bringt, ist eine ganz andere Frage, nämlich die nach dem disziplinären Können und nach der Legitimität: Wer kann, wer darf choreographisch arbeiten? Wer darf sich Tänzer*in nennen, und wer will das? Aus Brannigans Diagnose spricht große Skepsis, wenn sie von der Situation als einer Verschiebung spricht, die „first, views visual arts-aligned dance as more innovative than other work, and second, that considers visual artists as being able to turn their hand to choreography with no former experience in/with dance“.Footnote 47 Mit ihrem ersten Punkt benennt sie eine Tendenz, die sowohl mit der früheren Rolle der Galerie als befreiender Ort außerhalb der repressiven Institutionen des Tanzes als auch mit der gegenwärtigen Position des Museums zu tun hat – als sei das Museum der Ort der Zukunft und die Bühne per se Repräsentant einer obsoleten Vergangenheit. Der zweite Punkt ist schwieriger. Tatsächlich stellt sich die Frage, wieso es ein Monopol einer bestimmten disziplinär bestimmten Gruppe auf ein Verfahren wie die Choreographie geben sollte, das man auch unabhängig von dieser spezifischen Expertise bestimmen kann. Die Antwort aus der Tanzwelt (die aus der Musik ganz genauso klingt) lautet vermutlich: Weil man es trotz allem können muss, und weil der generalisierte Dilettantismus der unter postmedialen Bedingungen operierenden bildenden Künstler*innen oft wenig überzeugende Resultate hervorbringt.

Man wird die Argumente beider Seiten nicht leicht abtun können. Wenn wir uns an John Roberts’ im fünften Kapitel zitierten Ausführungen zu deskilling und reskilling erinnern, so ging es hier nicht um ein bloßes Absterben handwerklicher Fertigkeiten und Virtuositäten, sondern um eine Verschiebung des künstlerischen Könnens hin zu einer Kompetenz des Auswählens, Zusammenstellens, Intervenierens etc. und um einen reflektierten Umgang mit der diskursiven Dimension konzeptueller Arbeit. Man muss den Begriff gar nicht sonderlich weit dehnen, um diese Kompetenz tatsächlich mit einem veränderten Verständnis von Choreographie zusammenzubringen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass konzeptuelle Fähigkeiten beliebig übertragbar sind und dass es keinerlei Wissens um das verwendete Material bedarf, um mit ihm nicht mehr im Sinne disziplinärer Virtuosität, sondern konzeptuell zu arbeiten. Mit den spezifischen formalen Konstellationen umzugehen, die auf verschiedene Traditionslinien zurückzuführen sind und über die schlichte Tatsache menschlicher Körper im Raum hinausgehen, und sei es, um sie zu brechen oder zu verfremden, braucht Fertigkeiten, und eine „Versachlichung und Verdinglichung der theatralen und tänzerischen Codes“Footnote 48 setzt deren Kenntnis voraus. Das gilt auch oder vielleicht insbesondere für die Arbeit mit Laien oder gemischten Ensembles, die sich in verschiedenen Formen bei Bel findet, etwa in The Show Must Go On (2001) oder Gala (2015), die beide sowohl in Tanzkontexten als auch in Museen aufgeführt wurden, allerdings auch in letzteren Fällen als klar umgrenzte Abendveranstaltungen.

Shannon Jackson hat wiederholt auf die Verwicklungen und Missverständnisse hingewiesen, die sich aus der hier besprochenen Konstellation von Tanz (bzw. performing arts allgemein) und bildender Kunst ergeben. Was für eine Art von Fertigkeiten gefordert wird, auf welcher Ebene nach künstlerischer Differenziertheit gesucht und in welche Tradition oder Materiallinie die jeweiligen Arbeiten sich verorten, macht einen Unterschied nicht nur für die Bewertung einer Arbeit, sondern bereits für ihr Verständnis: „If, for instance, we understand a relational work of art to be a revision of sculpture, we encounter it differently than if we understand it to be a revision of theatre or dance.“Footnote 49 Am eigenen Referenzrahmen einer Arbeit vorbeizusehen kann ein produktives Missverständnis sein, das ihre Vielschichtigkeit vergrößert, es kann sie aber auch vollkommen verfehlen.

Es ist verführerisch, die zwei Typen von Virtuosität – disziplinär und konzeptuell – eindeutig dem Tanz auf der einen und der bildenden Kunst auf der anderen Seite zuzuordnen. Jacksons Beobachtungen zufolge lassen sich immer noch viele der interdisziplinären Miss- und Unverständnisse so erklären. Auf der anderen Seite würde dies unterschätzen, wie früh es konzeptuelles Arbeiten im Tanz gab und was für deutliche Reste disziplinären Könnens es in der bildenden Kunst gibt; die Uneinigkeit liegt noch einmal tiefer, nämlich in der Frage, was überhaupt als Können und Virtuosität und was als Konzept zählt: „[W]e might still have different ways of deciding where the Idea is and where the Skill is.“Footnote 50 Ein konzeptueller Zugriff auf eine bestimmte Tradition und ihre Grundannahmen würde nicht einmal als solcher erkannt, wenn man nicht mit dieser Tradition vertraut ist, und auch die Bedeutung des Sichtbaren, etwa der manifesten Bewegungen und der Art ihrer Ausführung, liegt nicht eindeutig zutage.

Es ist genau hier, wo auch die Frage nach dem kritischen Charakter performativer künstlerischer Arbeit verhandelt werden muss; am Theatralen oder Anti-Theatralen, dem Ephemeren oder dem Choreographischen lässt sie sich nicht eindeutig festmachen. Copelands generalisierende Aussage, die in Bewegung per se eine kritische Pointe fand, ist überhaupt nur aus der institutionellen Perspektive einer Kunstform zu verstehen, deren Gegenstände unablässig mit ihrem eigenen Warencharakter ringen – in der Tat kann man Bewegungen nicht in einem Zollfreilager parken. Aber selbst hier braucht es mehr, um eine „critical counter-attitude to a world saturated with objects“Footnote 51 zum Ausdruck zu bringen, die für die frühe Performancekunst sicher in Anschlag gebracht werden kann, aber dem Tanz kaum pauschal zugeschrieben werden kann. Selbst wenn manche derjenigen, die Tanz ins Museum einladen, auf eine solche kritische Pointe abzielen sollten, also eine Art Selbstkritik durch Import fremder Praxis betreiben, ist es doch mehr als zweifelhaft, ob diese Pointe eingelöst werden kann.

Natürlich stellt sich für Tanz und Performance die Frage von Besitz und Marktförmigkeit nicht auf die gleiche Weise. Ihre Finanzierungs- und Förderstrukturen sind oft problematisch, die Arbeitsbedingungen prekär, aber sie produzieren keine Gegenstände und sind keine Waren. Wenn es darum gehen soll, diesen ökonomischen und institutionellen Hintergrund kritisch anzugehen, muss sicher ein anderer Weg eingeschlagen werden als die Betonung der Ephemeralität. In diesem Sinne kann der Ortswechsel ins Museum auch als Entpolitisierung gelesen werden:

„One of the corollaries of staging the performing arts in an exhibition context is therefore a loss of the antagonistic model of visual art performance, working unpredictably against the institution. The result is a curious depoliticization of performance art: when the performing arts enter the museum, it almost guarantees a lack of institutional critique, because their proper institution is elsewhere, i.e. the theater“.Footnote 52

Anders und mit den Kategorien des ersten Abschnitts formuliert: In dem Moment, wo auch der Nicht-Tänzer als Tänzer gelesen wird, verliert sich die kritische Pointe seiner Position, die er an seinem eigenen Ort (und die die Performancekünstlerin im Museum) zumindest potentiell hat; nur hier können „disruptive interventions into the order of things“Footnote 53 überhaupt als solche wahrgenommen werden.

In einer anderen Hinsicht, nämlich für die beteiligten Tänzer*innen, ist beim Wechsel ins Museum sogar eine Verschärfung der prekären Situation zu befürchten, dann nämlich, wenn sie als bloße trainierte Körper aufgefasst werden, die beliebig herzitiert und eingesetzt werden können, denn „dancers are the most usable and expendable bodies available for work whenever ‚performance‘ needs to be activated“.Footnote 54 Natürlich ist es nicht so, dass die Fragen nach ihren Arbeitsbedingungen, ihrer Anerkennung und ihrer Rolle im künstlerischen Prozess erst in dem Moment virulent werden, in dem sie im Museum erscheinen. Dass aber unter den gegenüber der Bühne veränderten Bedingungen vieles neu verhandelt werden muss, weist noch einmal von anderer Seite darauf hin, dass man mit dem Attribut des Kritischen vorsichtig umgehen sollte.

3 Was für ein Museum?

Wenn Tanz am Anfang des 21. Jahrhunderts wiederum im Museum auftaucht, tut er es vor diesem komplizierten Hintergrund, und er begibt sich in ein selbst heterogenes Feld. Die abkürzende Rede vom Museum im Singular muss an dieser Stelle ausdifferenziert werden, und die Beispiele dieses Abschnitts werden sich wesentlich an der Verschiedenheit der konkreten Orte orientieren. Was für ein Museum es ist, in dem Tanz stattfindet, ist kaum weniger bedeutsam als sein eigenes Verhältnis zu den verschiedenen Material- und Traditionslinien. Ehe ich mich diesen Beispielen zuwende, werde ich einen kurzen Blick auf die generelle Frage werfen, inwiefern und wieso sich heutige Museen für zeitgenössische Kunst für Tanz interessieren und in was für Formen sich dieses Interesse umsetzt.

Wir haben es mit Institutionen zu tun, in denen die Anwesenheit realer Körper in künstlerischer Aktion schon lange kein Skandalon mehr ist. Auch der sprechende Körper und die direkte Interaktion – man denke an so verschiedene Arbeiten wie Dan Grahams Performer/Audience/Mirror von 1975 und Andrea Frasers Museum Highlights: A Gallery Talk von 1989 – sind lange eingeführt, wenn auch weiterhin alles andere als selbstverständlich.Footnote 55 Trotzdem sind die heutigen Museen und auch der größte Teil der Galerien keine Orte mehr, an denen sich parallele und einander beeinflussende Entwicklungen aus unterschiedlichen Disziplinen miteinander austauschen können, sondern sie repräsentieren eine mit ökonomischer Macht gekoppelte kulturelle Machtposition. Wenn David Velasco über den zeitgenössischen Tanz schreibt, „Modern dance loves a wrong place“, bezieht er sich auf die im vorigen Abschnitt angesprochenen Orte: „a church, a rooftop, a plaza, a street, or a gallery“.Footnote 56 Das MoMA, über das und in dessen Auftrag er hier schreibt, in diese Reihe aufzunehmen, verschleiert die realen Verhältnisse – es ist sicher kein „wrong place“ im selben Sinne wie die anderen erwähnten Orte. Museen für zeitgenössische Kunst sind im Prinzip für künstlerische Arbeit in allen möglichen Medien und aus allen möglichen Disziplinen aufnahmebereit – oder auch: sie erklären sich für universal zuständig –, aber sie sind keineswegs neutral. Sie treten als die Stützpunkte jener generischen Kunst im Singular auf, von der im ersten Kapitel die Rede war und gegenüber der alle anderen Orte tendenziell als rückständige Peripherie erscheinen.

Das gegenwärtige Interesse des Museums am Tanz ist auch vor dem Hintergrund dieser Vorstellung allgemeiner Zuständigkeit zu sehen. Große, international operierende Häuser wie das MoMA und das Whitney in New York und Tate Modern in London haben seit einiger Zeit Kurator*innen, die sich explizit (auch) um Performance kümmern; Tanz wird, wenn er auftaucht, auch hier jeweils unter diesen Oberbegriff subsumiert. Zum Teil betrifft dies die Sammlung, die mit der Frage umgehen muss, was eigentlich gesammelt und wie es gezeigt werden soll. Naheliegend sind Fotos, Dokumentationen und Relikte vergangener Aufführungen, von denen sich tatsächlich reichlich in den jeweiligen Sammlungen finden; auch scores sind dabei. Das Beispiel von Simone Forti im vorigen Kapitel zeigt, wie Arbeiten von dokumentarischem Material und Anweisungen geradezu umstellt und so tendenziell ihrer Offenheit beraubt werden. Bels Assoziation „the horror of the museum (old people’s home, hospital cemetary, aesthetic closure …)“Footnote 57 scheint hier nicht ganz abwegig – auch wenn sie bei manchen ausschließlich dem Tanz gewidmeten Museen noch eher am Platz zu sein scheint, in denen sich überhaupt nichts mehr bewegt.Footnote 58

Auf der anderen Seite soll die möglichst umfassende Materialsammlung bei Forti auch dazu dienen, die Arbeiten auch in Zukunft und ohne jeden Kontakt zur Choreographin selbst aufführen zu können. Wir hätten es dann weniger mit einer Sammlung als mit einem Archiv zu tun, mit dem aktiv gearbeitet werden kann, oder vielleicht mit einer zwischen beiden changierenden Form. Die umfassende Dokumentation repräsentiert die Seite des Archivs, die Aufforderung zur Wiederaufführung die der Sammlung, die ja nicht nur Dokumente, sondern die Arbeiten selbst enthalten soll: „MoMA acquired the rights to teach, perform, and reconstruct props for nine of her object-centered dances“.Footnote 59 Die Seite der Sammlung impliziert so noch etwas anderes, nämlich Besitz und Kontrolle und damit Exklusivität statt allgemeiner Zugänglichkeit, anders etwa als die nur wenige Blocks entfernte Jerome Robbins Dance Division der New York Public Library, die z. B. das Archiv von Trisha Brown enthält.Footnote 60

In den meisten Fällen bleibt es ohnehin beim Besitz von Dokumentationsmaterialien vergangener Aufführungen, insbesondere im Fall von Performances im nicht-tänzerischen Sinne. Was für eine Diskrepanz zwischen diesen Aktionen und dem Modus ihrer Dokumentation potentiell besteht und auch wie groß die Assimilationskraft des Museums ist, wird besonders angesichts dessen deutlich, dass ein nicht geringer Teil der Performances, die in der Vergangenheit am MoMA selbst stattgefunden haben, tatsächlich explizit kritische Interventionen gegen die Warenförmigkeit der Kunst und die ökonomische Macht ihrer Förderer waren (wofür „Bewegung“ allein sicher nicht hinreichend ist). Nachdem die Kunstkritikerin Carol Kino dies konstatiert und zwei Beispiele genannt hat, hält sie lapidar fest: „Documentation from these events is now owned by MoMA […].“Footnote 61 Das Museum erscheint hier in der Tat als „die Spielbank […], die bei jedem Einsatz gewinnt“.Footnote 62

Seit einigen Jahren gibt es aber auch über Sammlung und Archiv hinaus eigens eingerichtete Orte, an denen performative Arbeiten im weitesten Sinne gezeigt werden: 2012 eröffneten The Tanks als Spielort für „live art, performance, film, video art“Footnote 63 in der Tate Modern, 2019 das Marie-Josée and Henry Kravis Studio für „performance, music, sound, spoken word, and expanded approaches to the moving image“Footnote 64 im MoMA. An der Zusammenstellung der vertretenen Kunstformen ist manches interessant: Film und Videokunst finden sich schon weitaus länger im festen Repertoire der Museen; sie nun mit der Performancekunst zusammenzuordnen, aktualisiert die noch um einiges allgemeinere Kategorie der „zeitbasierten Künste“. Das MoMA geht mit der Einbeziehung anderer Disziplinen noch einmal weiter, indem sogar Musik und „spoken word“ genannt werden. Da diese bisher offensichtlich nicht dem Repertoire angehören, handelt es sich dabei eher um eine Absichtserklärung, die als Versprechen („Wir nehmen euch auf!“) oder Drohung („Wir kriegen euch!“) gewertet werden mag. Kodirektorin Kathy Halbreich knüpft hieran das Versprechen einer veränderten, von Grund auf interdisziplinären theoretischen Bearbeitung: „The history of modern dance, music, and theater will be intimately and routinely connected to that of other art forms.“Footnote 65 Es gibt gegenwärtig keinen anderen Ort, an dem derartiges überhaupt denkbar wäre; ob es realisierbar ist und ob die nötige Multiperspektivität nicht von der bildenden Kunst aus neutralisiert wird, bleibt abzuwarten.

Das, was Bishop „dance exhibitions“Footnote 66 nennt, hält sich auf der Schwelle zwischen einem Gastspiel und dem Auftreten eines legitimen Neuzugangs: über die Länge einer normalen Ausstellung und innerhalb der Öffnungszeiten des Museums dauerhaft stattfindende tänzerische Aktionen. Auch wenn es mittlerweile eine Reihe solcher Ausstellungen gegeben hat, bleiben sie doch Ausnahmeerscheinungen; insofern sie sich aber vom äußeren Rahmen ganz dem Standardformat einer Wechselausstellung fügen, beanspruchen sie ein gewisses Maß an Normalität. Die Verschiebungen, die sich hier für den Tanz ergeben, können insgesamt auf den Unterschied und die Spannung zwischen Ausstellung und Aufführung bezogen werden, auf die Differenzen im Hinblick auf Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Zuschauerposition und Art der Beobachtung. Jenseits dieser formalen Bestimmungen kommen der jeweilige konkrete Kontext und dessen kultureller Status ins Spiel, ebenso die Frage, ob die Museen damit zu „places for producing instead of harvesting (or even worse, co-opting) the most experimental and excellent contemporary dance, produced on the poor margins of theater production, for the sake of presentation in the museum and the neoliberal request for ‚audience/visitor development‘“Footnote 67 werden. All dies soll im Folgenden an einigen Beispielen ausgefaltet werden.

Die vermutlich erste dieser Ausstellungen fand abseits der großen, internationalen Häuser statt: Ende 2007/Anfang 2008 kuratierte Copeland in der Kunsthalle St. Gallen und ein Jahr später am Centre d’art contemporain La Ferme du Buisson in Marne-la-Vallée die eingangs erwähnte, jeweils sechswöchige Ausstellung, die ausschließlich aus bewegten Körpern in den ansonsten leeren Ausstellungsräumen bestand. Sechs Künstler*innen und ein Duo – von denen drei aus dem Tanz kamen, drei aus der bildenden Kunst, einer aus dem Theater und einer aus der Musik – hatten Arbeiten beigesteuert, die von drei Tänzer*innen über die ganze Öffnungszeit der jeweiligen Ausstellungsorte aus- und aufgeführt wurden. Ihr Titel war eine schlichte Beschreibung: Eine choreographierte Ausstellung.Footnote 68 Sie ist aufschlussreich in ihrer Klarheit und wird daher den ersten Fall bilden, mit dem ich mich beschäftige; bei den weiteren Beispielen werde ich mich mit Anne Teresa De Keersmaeker ins Zentrum sowohl der Tanz- als auch der Kunstwelt bewegen. Diese Ausstellungen bilden eine exemplarische Reihe zunehmender Verschiebung der Balance zwischen den beteiligten Partnern.

Da Copelands Ausstellung weder mit anderen Ausstellungsobjekten noch mit einem ikonischen Gebäude interagieren musste, kann man an ihr die formalen Verschiebungen, allen voran die veränderte Zeitlichkeit in Reinform beobachten. Die Aufführungstage hatten insofern eine Großform, als sie jeweils mit demselben Stück begannen und endeten, Insiders von Roman Ondák, ohne dass dies für eine den ganzen Tag überspannende Dramaturgie gesorgt hätte. Für das Publikum wird dies überdies kaum wahrnehmbar gewesen sein. In Bezug auf den jeweiligen Tag kann man so nicht von einem einzigen Stück sprechen, aber es gab eine interne Gliederung nach den sechs einzelnen Stücken und den von Jennifer Lacey choreographierten Übergängen. Keines dieser Stücke war streng durchchoreographiert, alle bestanden aus mehr oder weniger offenen Anweisungen, wodurch sie für das Publikum eher als durch bestimmte Parameter definierte Situationen erschienen sein mögen. Man könnte Stück und Situation insgesamt als die Pole verstehen, zwischen denen sich derartige Ausstellungen bewegen: Stück im Sinne eines strukturierten Ablaufs, dessen vollständige Wahrnehmung Voraussetzung dafür ist, ihn überhaupt wirklich aufzufassen – ein Ganzes, das nach Aristoteles’ basaler Beschreibung das ist, „was Anfang, Mitte und Ende hat“Footnote 69 –, Situation als geskripteter, aber offener Vorgang, den man nicht „vollständig“ erleben kann, weil er gerade kein zeitliches Ganzes bildet, und dem man sich daher für eine selbstgewählte Dauer aussetzt. Damit rückt die zeitliche Dimension der Situation in den Vordergrund, ohne dass die spezifische relationale Konstellation von Aufführung und Publikum, um die es im Zusammenhang mit dem Motiv der Theatralität ging, ganz verschwände. Tatsächlich zeigt sich, dass bereits die zeitliche Struktur selbst solche Konstellationen nahelegt: Bühne und Distanz im Falle des Stücks, Verwicklung und Nähe im Falle der Situation. Am Ende hängt es von ihrer Anlage ab, ob man Beobachter oder Teil einer Situation ist, aber die Dimension der Verwicklung wird sich ebenso wenig ganz tilgen lassen wie die Haltung der distanzierten Betrachtung sich vom Stück als Form trennen lässt.Footnote 70

Unabhängig von der tatsächlichen zeitlichen Struktur der einzelnen Arbeiten kann es sein, dass aufgrund der raumzeitlichen Konventionen des Museums auch klar durchstrukturierte Stücke von den Besucher*innen eher als Situationen aufgefasst werden: Wenn Anfang und/oder Ende verpasst werden, könnten sie eher durch ihre Atmosphäre, einen Bewegungstyp, eine bestimmte Klanglichkeit, wie man mit einer musikalischen Metapher sagen könnte, oder eine Art der Interaktion aufgefasst werden. Tatsächlich dürfte das im Museum in Bezug auf „zeitbasierte“ Arbeiten auch diesseits des Performativen die Standardsituation sein: Wenn man etwa im Rahmen einer Ausstellung auf Videoarbeiten trifft, wie es heute fast unvermeidlich der Fall ist, so konkurrieren diese mit allen anderen Arbeiten um die knappe Ressource der Aufmerksamkeit des Publikums, brauchen aber in der Regel mehr Zeit – nur dass man so gut wie nie weiß, an welchem Punkt man eingestiegen ist. Ein Video in der Mitte anzufangen, zu Ende zu sehen und den Anfang dann nachzuholen ist nur dort eine angemessene Rezeptionsweise, wo es keine narrative Struktur gibt, und bei aller technischen Sorgfalt der Präsentation zeugt die gängige Präsentationspraxis von einem offensichtlichen Desinteresse an der tatsächlichen zeitlichen Struktur der jeweiligen Arbeiten – als reiche die diffuse Kategorie des Zeitbasierten aus. Der Loop als beliebte Form könnte von hier aus als Methode erscheinen, die temporale Ganzheit so kurz zu halten, dass auch zerstreute Besucher*innen sie im Vorübergehen wahrnehmen können, sie sich durch Wiederholung einprägt und so gleichsam zu einem temporalen Objekt wird – was die Kritik an „the mindless, numbing looped video“Footnote 71 ein wenig relativiert.Footnote 72

Wie eine Ausstellung aussieht, die sich weitgehend an diese Bedingungen anpasst, kann man an der von Klaus Biesenbach und Hans Ulrich Obrist kuratierten performativen Ausstellung 11 Rooms 2011 in Manchester sehen, die tatsächlich explizit als „time-based exhibition“ firmierte.Footnote 73 Hier ging es vor allem um Performance in Abgrenzung vom Tanz, und das jeweils Gezeigte war kaum je ein gestalteter, gerichteter Prozess mit Anfang und Ende – vielleicht mit Ausnahme von Lucy Ravens What Manchester Does Today The Rest Of The World Does Tomorrow, das bezeichnenderweise aus Musikstücken bestand –, in einigen Fällen nichts als die andauernde Anwesenheit unbewegter Personen, etwa bei den Arbeiten von Marina Abramović und Santiago Sierra, wo der Zusammenhang mit der Minimal Art noch einmal unmittelbar einsichtig wird. Die Vielzahl von Räumen machte es noch leichter, die Ausstellung im eigenen Tempo zu durchwandern, ohne auch nur nach der spezifischen Zeitlichkeit der einzelnen Arbeiten zu fragen. Und weil die lebendigen Exponate trotz der großen Nähe keinen Ansatzpunkt für tatsächliche Interaktion boten, war der Eindruck nicht der einer in irgendeiner Weise geteilten Zeit, sondern das etwas unbehagliche Gefühl, zum Voyeurismus verurteilt zu sein. In manchen Fällen kann man dieser Erfahrung eine kritische Pointe zuschreiben, etwa bei Joan Jonas’ Mirror Check von 1970, das die Zuschauer*innen aus feministischer Perspektive in die Position von Voyeur*innen bringt, denen Entscheidendes verborgen bleibt. Das gilt aber durchaus nicht für alle Arbeiten.

Copelands Ausstellung betrafen diese Probleme nur bedingt, weil das jeweils Dargebotene mit nichts anderem konkurrieren musste. Die grundlegende Konvention, dass man die Dauer der Aufmerksamkeit selbst bestimmt und nicht von den präsentierten Arbeiten bestimmen lässt, mag die Wahrnehmung auch hier geprägt haben; insofern es sich aber tatsächlich eher um eine Abfolge von Situationen handelte, war dies nicht gravierend. Wie erwähnt stammten auch die Arbeiten nicht alle von aus dem Tanz kommenden Choreograph*innen, auch wenn sie von Tänzer*innen ausgeführt wurden. Vor der Folie von 11 Rooms zeigt sich aber der Unterschied zwischen den performing arts und Kunstperformance auch diesseits aller disziplinären Fertigkeiten sehr genau: Während viele der Performer*innen bei Biesenbach und Obrist eine einzige Handlung vollzogen oder Haltung einnahmen und das Publikum sich auf reines Beobachten verlegen musste, ging es bei Copeland um einen Prozess von Bewegung und Interaktion.

Tatsächlich kam im eher intimen Rahmen der Kunsthalle, in der nicht mit riesigen Besucherzahlen zu rechnen war und die Tänzer*innen sogar über längere Strecken ganz allein agierten, der Interaktion zwischen ihnen und den Zuschauer*innen eine besondere Bedeutung zu: In Ermangelung einer klaren räumlichen Grenze und ohne die Möglichkeit, sich in die Masse des Publikums zurückzuziehen, wird die Anwesenheit im selben Raum allein bereits als interaktive Situation erscheinen, ohne notwendigerweise den Beigeschmack des Voyeuristischen zu bekommen. Mehr als bei den folgenden Beispielen kann man hier tatsächlich von „new uses of shared time“Footnote 74 sprechen. Wenn wir diese geteilte Zeit mit Ines Moreno als eigenständige Form der Zeitlichkeit neben Stück und Situation verstehen, können wir somit drei verschiedene Formen unterscheiden: „a suspensive but fragmentary temporality made up of independent parts, an immersive temporality extending over a period, and an inclusive dialogue-type temporality“.Footnote 75 Alle diese Formen können, wie klar geworden sein dürfte, sowohl als von spezifischen Arbeiten vorgegebene Zeittypen als auch als Modi der Auffassung verstanden werden, ohne dass die beiden immer miteinander kongruieren müssten. Auf Wiederholbarkeit angelegt sind sie alle, und das hin und her Gleiten zwischen ihnen dürfte für derartige Ausstellungen der Normalfall sein.

De Keersmaekers Work/Travail/Arbeid von 2015 hat in seiner ursprünglichen Form mit Copelands Ausstellung gemeinsam, dass es im Ausstellungsraum, hier dem Kunstzentrum WIELS in Brüssel, als einzige Arbeit zu sehen war und insofern die Aufmerksamkeit des Publikums nicht von anderen Ansprüchen abgelenkt war.Footnote 76 Entscheiden musste man sich bisweilen trotzdem, da das Stück selbst in zwei verschiedenen, allerdings verbundenen Räumen stattfand. Tatsächlich bietet es sich hier an, von einem Stück zu sprechen, das in verschiedene Situationen aufgeteilt war: Ausgangspunkt ist das ca. einstündige, ursprünglich für die Bühne konzipierte Tanzstück Vortex nach der Komposition Vortex Temporum von Gérard Grisey. Prinzip war, wie oft bei De Keersmaeker, eine sehr genaue formale Korrespondenz von Musik und Choreographie und eine Zuordnung der einzelnen Instrumente zu je einem Tänzer/einer Tänzerin bzw. zweien im Fall des Klaviers. Im Bühnenstück wurde zuerst Griséys Komposition vom Ictus Ensemble gespielt, dann der Tanz ohne Musik aufgeführt und schließlich beides zusammengeführt. Für das Museum zerlegte de Keersmaeker das Stück in seine Schichten und Teile, was in der neunstündigen Museumsversion zu einer Vielzahl verschiedener Situationen führte, die nicht an jedem Tag auf gleiche Weise angeordnet waren.Footnote 77

Situationen waren die einzelnen Abschnitte nun aber in einem anderen Sinne als in den Stücken der Choreographierten Ausstellung, weil sie für sich genommen klar durchstrukturiert waren, ihnen aber durch die Zerlegung und Dehnung der dramaturgische Rahmen fehlte, in dem sie normalerweise stattfanden. Man fand sich einer Reihe unterschiedlicher Konstellationen gegenüber, gegenüber denen man verschiedene Perspektiven einnehmen konnte, indem man sich auf sie zu, von ihnen weg oder auch durch sie hindurch bewegte, und die bei aller kompositorischen und choreographischen Strenge tatsächlich vor allem durch Bewegungsformen und Klangfarben bestimmt erschienen. Die Musiker*innen waren dabei in die Bewegung einbezogen, und selbst der Flügel geriet, wie schon in der Bühnenversion, in die Spiralbewegung, die das ganze Stück kennzeichnet.

Die Frage der Virtuosität drängt sich hier offenbar noch einmal mit aller Entschiedenheit auf. So schrieb Bishop nach der ersten Inkarnation des Stücks im WIELS: „After so much conceptual (read: de-skilled) choreography in galleries, the unabashed virtuosity of Ictus and Rosas was exhilarating.“Footnote 78 Es ist unbestritten, dass beide Ensembles auf höchstem Niveau agieren, bemerkenswert ist ihre Virtuosität aber vor allem vor dem Hintergrund, den Bishop hier selbst aufmacht: Die herausfordernde Frage, wer choreographieren und tanzen darf, deren kritische Stoßrichtung eine befreiende Wirkung haben kann, mag zu einer Situation führen, in der man sich nach disziplinär gut ausgebildeten Tänzer*innen und disziplinierten Choreograph*innen sehnt. Während diese Perspektive im WIELS von der Herkunft und den Erwartungen der einzelnen Zuschauer*innen abhing, ergab sie sich bei einigen späteren Inkarnationen von allein aus der Interferenz zwischen dem Stück und seinen Aufführungsorten – Centre Pompidou, Tate Modern, MoMA. Um letzteres als Beispiel zu nehmen: Das Marron Atrium, in dem das Stück stattfand, ist ein sowohl visuell als auch akustisch relativ offener Raum. Von Konzentration durch Ausschließlichkeit konnte hier rein räumlich keine Rede sein, dazu kommt aber noch, dass das Stück nun ganz unmittelbar in den Kontext real anwesender Arbeiten der bildenden Kunst kam, in denen formale Virtuosität gerade keine relevante Kategorie mehr ist: Direkt an das Atrium angrenzend sind die der Kunst von 1970 bis heute gewidmeten Räume.

Es zeigt sich, dass die Faszination der Kunstwelt für disziplinäre Virtuosität weiterhin groß ist, so lange sie nicht gerade die des eigenen Feldes ist, und dass gerade hier eine der Motivationen liegt, Tanz – und nicht nicht-Tanz – ins Museum zu holen. Ein Urteil wie „the technique, control and precision of both the dancers and the musicians was breathtakingly evident“Footnote 79 kann man sich bezogen auf die Maltechnik einer zeitgenössischen Künstlerin schlechthin nicht vorstellen. De Keersmaeker ist auch in ihrem eigenen Bereich zwar als formale Innovatorin, nicht aber als institutionelle Kritikerin bekannt, und sie einzuladen entsprang sicher keinem (selbst-)kritischen Impuls. Insofern diese Logiken und Normen aufeinanderprallen, könnte man nun aber doch sagen, dass Tanz (und Musik) und Kunst zumindest Fragen aneinander richten, die sich an dieser Stelle auf die Bedeutung von Disziplin und deskilling beziehen: Was bedeutet es, dass Virtuosität an dieser Stelle geschätzt wird, während sie direkt nebenan keine relevante Kategorie mehr ist? Ohne dass das Stück selbst diese Frage explizit machen müsste, ergibt sie sich bereits aus der institutionellen Konstellation des Ortswechsels. Die rein räumliche Nähe macht es schwierig, sich hier schlicht auf unterschiedliche disziplinäre Logiken zurückzuziehen, die man eben hinzunehmen habe.Footnote 80

Eine auch in dieser Hinsicht noch einmal vollkommen veränderte Situation finden wir bei meinem letzten Beispiel, noch einmal von De Keersmaeker, die hier mit Némo Flouret zusammenarbeitete: Forêt, das Ende 2022 im Louvre aufgeführt wurde.Footnote 81 Diesmal handelt es sich um ein spezifisch für diesen Anlass entwickeltes Stück, das außerhalb der Öffnungszeiten des Museums als Abendveranstaltung von etwa zweieinhalb Stunden für ein Publikum von jeweils 500 Personen stattfand. Die elf Tänzer*innen bewegten sich dabei in wechselnden Konstellationen durch die Gemäldegalerien der italienischen und französischen Kunst mit dem Raum dazwischen, in dem die Mona Lisa zu sehen ist. Das Prinzip war von vornherein nicht Konzentration, sondern Dispersion, und auch wenn er dies vom zeitlichen Format nahelegt, fällt es schwer, den Abend als Tanzstück zu bezeichnen. Eher handelte es sich um eine lose Reihe von Situationen, die in eine Gesamtsituation eingelassen waren, die eher Aufführung als Ausstellung war.

Der Gesamtverlauf hatte eine recht klare Form von einem sehr ruhigen Beginn, in denen die Tänzer*innen sich meist liegend in ihren Posen auf die hinter ihnen zu sehenden Bilder bezogen, über eine Reihe kaum verbundener Situationen mit wechselnden Tänzer*innen, meist einzeln oder in kleineren Gruppen, über die Rezitation eines Textes von Leonardo da Vinci über die Darstellung der Sintflut und die Verwüstung der Erde und einige Tuttipassagen bis zum Abschluss des von einer Tänzerin a capella gesungenen Chansons La Joconde, direkt gegenüber der Mona Lisa, auf die sich das Lied ja bezieht bzw. deren Perspektive es einnimmt. Während der Anfang also räumlich und zeitlich zerstreut war, bündelte es sich am Ende zu einem klaren Punkt, bei dem alle Beteiligten anwesend waren. Die Musik war als unabhängiges Element in die ständige Bewegung einbezogen: Der Musikdramaturg Alain Franco trug zwei Lautsprecher, auf denen die von ihm angefertigte Montage zu hören war, und war unaufhörlich in Bewegung durch die Galerien, so dass sich Treffpunkte und Überschneidungen ergaben, aber keine klare Synchronisation mit den Tänzer*innen.

Formal wurde das Stück von Referenzen auf die Haltungen und Posen der auf den Bildern dargestellten Figuren dominiert, was in der dezidiert naiven Geste des Schlussliedes mündete. Die Frage der Virtuosität nimmt hier eine gänzlich andere Form an als im MoMA: Die Bilder, vor denen die Tänzer*innen sich bewegten, verbinden technische Raffinesse mit kultureller Aufladung, und hier geht es eher darum, sich ihnen gegenüber zu behaupten. Tatsächlich scheint es, als hätten de Keersmaeker und Flouret die eigene Virtuosität deutlich heruntergefahren und vielfach weniger auf Form als auf körperliche Präsenz gesetzt, von der Unbewegtheit des Anfangs bis zur ausgestellten körperlichen Energie und teilweisen Nacktheit in späteren Passagen. In einem Interview beschreibt Flouret das so: „ralentir le temps, réduire les artifices, revenir près du corps humain“.Footnote 82 Verhalten kann der Tanz sich zur formalen Ebene, der inhaltlichen, semantischen Dimension und der historischen Distanz, was auf der einen Seite zahlreiche Möglichkeiten des Bezugs schafft, auf der anderen aber einen gewaltigen Anspruch stellt. Welche Form soll dieser Bezug annehmen – die Illustration? Den ironischen Kommentar? Die formale Korrespondenz? Den Kontrapunkt? Und: Auf welcher Ebene? Gegenüber den Bildern selbst eine kritische Haltung einzunehmen, wäre etwas albern; vielmehr müsste es um die Frage gehen, wie mit ihrer Rolle in unserer gegenwärtigen Kultur und der kaum zu überbietenden kulturellen Aufgeladenheit dieses Museums umzugehen ist. Im zitierten Gespräch findet sich diese Perspektive allerdings ebenso wenig wie im Stück selbst, sondern es geht wesentlich um den konkreten Umgang mit einzelnen Bildern.

Dass es letztlich dem Zufall überlassen war, welche Teile des Tanzes man mitbekam, und es unmöglich war, das Ganze zu sehen – bisweilen fanden mehrere Aktionen gleichzeitig an verschiedenen Orten statt, von der unabhängig zirkulierenden Musik einmal abgesehen –, war eine ästhetische Entscheidung, die man verteidigen kann. Dadurch aber, dass man als Teil einer verglichen mit den sonstigen Besucherzahlen relativ kleinen, zerstreuten Gruppe die extrem aufgeladenen Räume des Louvre durchstreifen konnte und in einer Art Schatzsuche immer wieder auf Einzelne traf, die sich den im Museum geltenden Regeln ostentativ widersetzten, bekam der Abend etwas Karnevaleskes, auch Spektaktelhaftes. Auch die doppelt codierte Nacktheit vor allem der Tänzerinnen, nämlich als inhaltlicher Bezug auf die omnipräsenten nackten Frauenkörper auf den Bildern und als vertraute Form, reale Präsenz realer Körper zu inszenieren, wurde zu einer Art Attraktion. Gegenüber diesem Rahmen trat die konkrete Choreographie tendenziell in den Hintergrund.

Überdies ruft jede Bewegung durch die ikonischen Räume des Louvre Erinnerungen an andere solche Bewegungen wach – wenn etwa Flouret selbst durch die Galerien sprintet, denkt man an die Szene aus Godards Bande à part, in denen die Protagonist*innen das Museum möglichst schnell rennend durchqueren. Vor allem aber muss das Geschehen gegen eine jüngere Arbeit abgeglichen werden: das Video zu APESHIT von Beyoncé und Jay-Z.Footnote 83 Hier hat man nicht den Eindruck, dass sich diese beiden gegen den Ort behaupten müssen; stattdessen nehmen sie ihn mit großem Selbstbewusstsein in Besitz. Wenn sie in einer der ersten Einstellungen vor der Mona Lisa posieren, so scheint die Aussage zu sein, dass sie hier nicht nur ganz am richtigen Ort sind, sondern dass sie sozusagen auf Augenhöhe mit dem Bild und dem Museum insgesamt verhandeln können. De Keersmaeker und Flouret gelingt dies gerade deswegen nicht wirklich, weil sie diese souveräne Geste, in der der Status der ikonischen Popstars genutzt wird, Schwarze Körper und Schwarze Kultur ins Zentrum der europäischen „Hochkultur“ einzuschreiben, nicht überzeugend einnehmen könnten und auch nicht einnehmen wollen, sondern selbst im Sinne dieser Hochkultur reagieren. Der Gefahr, sich am Ende vor allem mit einem performativen Spektakel in den Dienst einer Institution zu stellen, die trotz Besuchermassen um ihre zeitgenössische Relevanz ringt, können sie auf diese Weise nicht entgehen. Hier gibt es keine „motorcades where we came through“, wie es im Text von APESHIT heißt.

Man könnte sagen, dass in der Folge der hier behandelten Beispiele von der Kunsthalle St. Gallen über WIELS und MoMA bis zum Louvre das Museum immer stärker wird, ein immer größeres Eigengewicht bekommt, bis die kulturelle Machtasymmetrie schließlich so groß ist, dass sich es unmöglich wird, sich gegen seine Übermacht zu behaupten. Der Louvre und in seinem Zentrum die Mona Lisa sind in ihrem Funktionieren selbst bereits ein performatives Spektakel, dem man weder mit einem Gegenspektakel noch mit hochkulturellem Formalismus noch auch mit Reduktion beikommt.Footnote 84 In gewissem Sinne ist es konsequent, dass der Tanz im Museum hier endet, und man sieht deutlich, dass es an dieser Stelle eher nicht weitergeht. Das ist natürlich nicht das letzte Wort, und es taugt auch nicht als Grundlage eines Urteils über alles andere, was in den letzten Jahrzehnten an Tanz im Museum stattgefunden hat und heute stattfindet. Trotzdem lässt es als Extrembeispiel die nicht-Neutralität des Museums überdeutlich hervortreten.

Überdies ruft es unvermeidlich und mit besonderer Schärfe eine Kritik auf den Plan, die den Tanz im Museum in all seinen Spielarten seit Jahren begleitet: Das Museum der Gegenwart ist Teil einer zunehmend auf spektakuläre Events setzenden Kulturindustrie. Die Einbeziehung von Tanz ist eine Möglichkeit, das Publikum mit solchen Events zu versorgen, und dies überdies auf eine Weise zu tun, die sich die Fetischisierung des menschlichen Körpers zunutze machen kann und trotzdem mit allen Siegeln der Hochkultur ausgestattet ist. Wenn schließlich eine der prominentesten Kuratorinnen in diesem Bereich, Catherine Wood, explizit eine Refetischisierungs des Kunstraums fordert, die das Museum „more affecting or more mysterious“Footnote 85 macht, kann man sich hier nur bestätigt fühlen. In einer durch und durch medialisierten Welt gehört zum Spektakel dazu, dass das Geschehen sich gut fotografieren und filmen und möglichst sofort in den sozialen Medien teilen lässt. Dass dies unvermeidlich geschehen wird (und auch bei Forêt trotz des ausdrücklichen Fotoverbots geschehen ist), ist eins; richtet sich eine Aufführung explizit daran aus, instagrammable zu sein, ist dies gleichbedeutend mit einem hochkulturellen Todesurteil.

Mit Bishop kann man einige Fragen an diese Kritik (die sie selbst noch wenige Jahre zuvor genau so formuliert hatte)Footnote 86 stellen: Könnte es nicht ein einigermaßen reaktionärer Zug sein, unter den realen Bedingungen der Mediatisierung und Zerstreuung der Aufmerksamkeit auf einer realen Präsenz zu bestehen, die sich ganz von all dem abzukoppeln versucht und eine Situation negiert, in die sie längst verwickelt ist? Und wäre es nicht gerade produktiv, sich dieser Wirklichkeit weder entgegenzustemmen noch sie resigniert in Kauf zu nehmen, sondern sie explizit zu reflektieren und so zu einer „zoom lens onto the conflicts underlying technology’s reshaping of our sensorium“Footnote 87 zu machen? Bishop nennt hier nicht nur das unvermeidliche Faktum medialer Durchkreuzung der Präsenz durch das Publikum, sondern auch formale Strategien der Performer*innen wie den Loop, das lange Halten von (fotografierbaren) Posen, den Glasboden bei Anne Imhofs Faust als eine Art metaphorisches Äquivalent des Bildschirms oder allgemeiner des Interfaces. Als Gegenmittel gegen eine allzu schnell einrastende Kritik sind diese Punkte sehr bedenkenswert.

Sie spricht hier von einer „gray zone“, die sich in der Mitte zwischen der black box und dem white cube hält und die noch nicht auf die gleiche Weise festgelegt ist wie diese beiden Präsentationsformen, „an apparatus in which behavioral conventions are not yet established and up for negotiation“Footnote 88 und der damit vor allem ein Möglichkeitsraum ist. Das ist ein verführerisches Bild. Dennoch lassen sich vom hier Ausgeführten vor allem zwei Einwände formulieren: Zuerst einmal ließe sich fragen, ob die Offenheit, von der hier die Rede ist, tatsächlich existiert. Ein Ort, an dem nicht nur die in einem Bereich geltenden Regeln teilweise suspendiert erscheinen, sondern in dem für einen Moment alles offen ist, so dass sich aus der anfänglichen Unsicherheit neue Konventionen und Verständnisse etablieren müssen, könnte die Möglichkeit eröffnen, verhärtete Darstellungs- und Rezeptionskonventionen aufzubrechen; er erinnert an Dick Higgins’ Beschreibungen von Intermedia.Footnote 89 Faktisch wäre aber auch dies nur eine Momentaufnahme, ehe die Offenheit zugunsten neuer Regeln zurückgenommen wird. Von den hier behandelten Orten scheint einzig das WIELS in diese Richtung zu gehen, also ein Ort, der gerade keine Sammlung hat und insofern eher interdisziplinäre Kunsthalle als Museum ist.

Der zweite Einwand bezieht sich auf die unterschiedlichen Genealogien, Materiallinien und Ortswechsel, die ich hier nachgezeichnet habe. Von hier aus ist die Suggestion einer einzigen Farbe für alle drei Orte irreführend: So wenig einheitlich black box und white cube waren und sind, so wenig offen wird die gray zone sein. Sie ist durchzogen von Ambivalenzen, Unsicherheiten und Missverständnissen, und es erscheint mir nötig und auch produktiver, diese nachzuzeichnen, als sie in einer Grauzone aufgehen zu lassen. Die Differenzen zwischen Bishops Beispielen (Xavier Le Roy, Maria Hassabi, Anne Imhof etc.) sind so groß, dass man ihnen zumindest die gleiche Aufmerksamkeit widmen muss wie den Gemeinsamkeiten. Und Boris Charmatz’ im ersten Kapitel zitierte Bemerkung, „it’s as if you had to enter the museum to be legitimized“,Footnote 90 ruft die Machtverhältnisse und die unterschiedlichen Logiken in Bezug auf Material und Diskurse in Erinnerung, die hier herrschen.

Bishops Grauzone wirft noch einmal die grundsätzliche Frage auf, inwiefern es Orte gibt und geben kann, die zwar nicht vollständig generisch oder gar universell sind, an denen aber die Differenzen zumindest temporär auf eine Weise suspendiert sind, dass sich die Dinge in der entstehenden Indifferenzzone neu ordnen oder überhaupt erst entstehen können. Cages Kompositionsklasse an der New School und manche New Yorker Galerien in den 1960er-Jahren waren solche Orte, die großen Museen der Gegenwart sind es nur bedingt. Das folgende Kapitel wird sich dieser Frage anhand einiger Beispiele noch einmal systematisch zuwenden.