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1 Quantitativ-nomothetischer Mainstream und qualitativ-methodische Randständigkeit – Erkenntniskonzeptionen in der Psychologie

Die wissenschaftliche Psychologie besitzt seit ihren institutionellen Anfängen im späten 19. Jahrhundert eine charakteristische Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit: Sie gilt sowohl als Natur- wie auch als Geisteswissenschaft (oder auch als Sozial- bzw. Kulturwissenschaft, wie es heutzutage häufig heißt). Von hierher haben sich mehrere gegenstandstheoretische und methodologische Stränge entwickelt, die zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten miteinander koexistierten und kooperierten oder sich wechselseitig bekämpften und zu verdrängen suchten. In der deutschen akademischen Psychologie war die Situation bis in die 1960er-Jahre noch von einer starken Fraktion geisteswissenschaftlich bzw. „interpretativ“ ausgerichteter Vertreter/innen gekennzeichnet. Mehr und mehr dominiert/e seither – in Anlehnung an das US-amerikanische Vorbild – eine naturwissenschaftlich-experimentelle Ausrichtung. In der heutigen Landschaft der Psychologie sind interpretative bzw. „qualitative“ Methodologien an den Rand gedrängt.

In Deutschland sind sie an Universitäten weitgehend ausgemerzt, behaupten sich dort mitunter in institutionellen Nischen (s. Fahrenberg 2011 [2002]); ansonsten findet man sie eher im Kontext von (Fach-)Hochschulen (neuerdings gern „Universities of Applied Sciences“ genannt) oder Privathochschulen. „Qualitativ“ forschende Psychologinnen und Psychologen sind in der etablierten wissenschaftlichen Fachgesellschaft „Deutsche Gesellschaft für Psychologie“ so gut wie nicht sichtbar, die wenigen Vertreter/innen dieser Richtung sind meist „ausgewandert“ in die (in der Academia randständige) „Neue Gesellschaft für Psychologie“ oder die „Gesellschaft für Kulturpsychologie“. Die Tradition der „alten“ geisteswissenschaftlichen Psychologie ist (nicht zuletzt aufgrund der historischen Diskreditierung durch ihre Affiliation mit dem Faschismus) weitgehend abgerissen. Methodologisch angeknüpft wird heute häufig an (Re-)Importe aus den USA.

Im anglo-amerikanischen Raum ist die „Qualitative Psychology“ ebenfalls ziemlich randständig, gewinnt aber im 21. Jahrhundert an Stimme/n (Camic et al. 2003): So gründete sich eine „Society for Qualitative Inquiry in Psychology“ als Sektion der Division 5: „Evaluation, Measurements, and Statistics“ (!) der American Psychological Association, mit einer eigenen Zeitschrift: „Qualitative Psychology“. In Großbritannien gibt es eine Sektion „Qualitative Methods in Psychology“ der „British Psychological Society“. Die Gründungsumstände waren in beiden Fällen kompliziert, ihr Etablierungsstatus ist fragil. Auf europäischer Ebene befindet sich eine „Association for European Qualitative Researchers in Psychology (EQuiP)“ in der Phase ihrer Konstituierung.

Vertreter/innen einer qualitativ-sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsauffassung haben sich in der Psychologie mit einem Mainstream von auf Gesetzeserkenntnis nach dem naturwissenschaftlichen Modell orientierter Methodologie auseinanderzusetzen und ihr gegenüber zu rechtfertigen (Groeben 2006; Lettau und Breuer 2007). In einigen sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen verhält sich das durchaus anders: Ethnologie, Pädagogik, Kommunikationswissenschaft, Soziologie u. a. sind in dieser Hinsicht toleranter und pluralistischer aufgestellt. Dort ist aktuell eine lebhafte Diskussion und Entwicklung qualitativer Forschungskonzepte und Methoden zu beobachten (Mey und Mruck 2014; Reichertz 2016). Allerdings sind die Abgrenzungen zwischen den Disziplinen mitunter recht ausgeprägt. Für eine interdisziplinäre Kommunikation und Kooperation muss – gerade bezüglich der Vernetzung der Psychologie – noch Entwicklungsarbeit geleistet werden.

Das Zustandekommen des lokal-historischen Profils eines „Mischungsverhältnisses“ akzeptierter und praktizierter Methodologien ergibt sich jeweils aus einem vielschichtigen Gefüge erkenntnistheoretisch-philosophischer Traditionen, fachspezifischer Gegenstandsauffassungen, nationaler und lokaler (Vor-)Geschichten und Profilierungen, (gesellschafts-)politischer Bewegungen, (trans-)disziplinärer Rezeptionszirkel und Abgrenzungen. Jede Darstellung des wissenschaftstheoretischen Hintergrunds qualitativer Methodologie und Methoden bewegt sich in einem solchen Kontext und ist davon in ihren Selektionen und Fokussierungen geprägt. So steht die folgende Präsentation vor einer Landschaft der Mainstream-Psychologie an deutschsprachigen Universitäten, die sich durch eine nomothetisch-naturwissenschaftliche Grundausrichtung, eine zunehmende Fokussierung auf die biologisch-neurowissenschaftliche Seite des Menschen sowie durch Unkenntnis und Abdrängung hermeneutisch-qualitativer Denkweisen und Methoden auszeichnet.

Wissenschaftliches Wissen hebt sich – so die verbreitete Ansicht – durch einen besonderen Erkenntnisanspruch aus profaneren Wissenssorten heraus. Für die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts, soweit sie die empirischen Wissenschaften betrifft und in der Diskussion in der Psychologie eine Rolle gespielt hat, war dabei der Gesichtspunkt wesentlich: Wie muss wissenschaftliche Forschung (auf-)gebaut sein, um Erkenntnisgewissheit zu gewährleisten? Dieser Gedankenweg läuft auf eine präskriptive Methodologie hinaus – auf Richtlinien, wie die Systematik von Aussagegefügen aus theoretischen und empirischen Sätzen ohne logische Widersprüche konfiguriert werden kann.

Hier spielten und spielen häufig Wissenschaftslehren eine Rolle, die mit Verweis auf ihre philosophischen Vorläufer als (neo-)positivistisch und wegen ihrer Ausrichtung auf Natur- bzw. Gesetzeserkenntnis als nomothetisch gekennzeichnet werden. Es geht es um Möglichkeiten des Wahrheitsnachweises von Allgemeinaussagen (Gesetzen, Theorien) durch (logisch stimmiges) In-Beziehung-Setzen mit spezifischen empirischen Sachverhalten oder Ereignissen. Ging man in der Lehre des Logischen Empirismus noch davon aus, durch oftmaliges Aufweisen bestimmter empirischer Phänomene eine theoretische Verallgemeinerungsaussage (induktiv) rechtfertigen zu können, so verwarf der Kritische Rationalismus (Gründer und Hauptvertreter: Karl R. Popper; z. B. Popper 1973 [1934]) diese Zielsetzung aus forschungslogischen Gründen und ging stattdessen nur noch von der Möglichkeit eines Falschheits-Nachweises (der Falsifikation) von Allgemeinaussagen bei Vorliegen widersprechender empirischer Befunde aus. Auf dieser Ideenbasis wurde eine Methodologie kritischer Prüfung von Hypothesen durch deren Konfrontation mit Daten entwickelt. Diese stellt die gedankliche Grundlage auch für das in psychologischer Forschung übliche statistische Hypothesentesten dar (Döring und Bortz 2016, S. 31–63; Breuer 1991, S. 132–140).

Seit den 1970er-Jahren ist diese Sichtweise mit vielfältigen Vorbehalten konfrontiert worden. Eine beunruhigende Feststellung war, dass „erfolgreiche“ Wissenschaft offensichtlich nicht so funktioniert, wie es sich die Vertreter/innen der Popper-Schule vorstellten. Ihrer normativ ausgerichteten Auffassung von Wissenschaftstheorie wurde eine deskriptiv-analytische Perspektive entgegengesetzt, die sich vor allem auf historische Studien wissenschaftlichen Theorienwandels stützte. Dabei spielte das Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ von Thomas Kuhn (1967 [1962]) eine wesentliche Rolle.

Durch die so angestoßene Blickweise wurden u. a. wissenschaftssoziologische Untersuchungen realer Forschungsabläufe populär (Latour, Woolgar, Knorr-Cetina u. a.; s. dazu: Felt et al. 1995). Nun taten sich immer mehr Beispiele und Argumente auf, die die unter empirisch forschenden Wissenschaftler/innen populäre Falsifikationsmethodologie als irreführende Idealisierung erscheinen ließen. Es kam zu einer Reihe von Neuentwürfen des Theorie-Empirie-Verhältnisses, bei denen versucht wurde, realistischer mit der Frage des In-Beziehung-Setzens der beiden Seiten umzugehen (Breuer 1991, S. 175–200).

Die erkenntnistheoretische Diskussion zum Ausgang des 20. Jahrhunderts wandte sich verstärkt der Seite des erkennenden Subjekts zu: Welche Rolle spielt der/die Forschende als biologisches, personales, sozial und kulturell geprägtes Wesen? Welche Bedeutung besitzen seine/ihre Sinnesausstattung, Denk- und Konzeptualisierungsweisen, die (sub-)kulturell, disziplinär und instrumentell geprägten Umgehens- und Interaktionsformen mit dem Gegenstand? In konstruktivistisch ausgerichteten Ansätzen unterschiedlicher Spielarten wurden Lösungen für diese Fragen entworfen (philosophische, linguistische, soziologische, psychologische Varianten; Gergen 2002; Hirschauer 2003; Knorr-Cetina 1989). Die Erschaffung des Gegenstands im kognitiven System, in der theoretischen Konzeptualisierung, im sozialen Diskurs, durch den forschungsmethodischen Zugriff wurde nun in den Mittelpunkt gerückt (Breuer 1999, 2005), wodurch das komplexe Verhältnis von Forschungsobjekt, Forschungssubjekt und Forschungsprozess eine neue Austarierung erfuhr (Mruck 1999).

Im Mainstream der akademischen Psychologie erstarben – nach einigen Jahren lebhaften Interesses – die wissenschaftstheoretischen Diskussionen in den 1990er-Jahren, und im Gefolge verloren solche Themen auch ihren Stellenwert in den universitären Fachcurricula. Psycholog/innen, die sich mit überdauerndem Engagement Fragen der Erkenntnistheorie widmeten und einschlägige Diskussionen aus den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften zu importieren versuchten, wurden vom harten Kern der Mainstream-Psychologiegemeinde marginalisiert: In den Lehrbüchern fanden sie sich (bestenfalls) in die Abteilung „Geschichte“ umsortiert. Ein bezüglich dieser Themen ambitionierter Nachwuchs hatte (und hat) kaum eine Chance. In jüngster Zeit wurden in der Psychologie allerdings systematische Probleme der Nicht-Replizierbarkeit experimenteller Studien aufgedeckt: Da liegt offensichtlich etwas mit den postulierten Erkenntnisansprüchen und der etablierten Forschungspraxis im Argen. Seither richtet sich die Aufmerksamkeit wieder häufiger auf methodologische Grundfragen (Klauer 2018).

Die weiterhin geltenden Voraussetzungen, um in einer Laufbahn der akademischen Psychologie voranzukommen, kennzeichnet der namhafte US-Psychologe Kenneth Gergen in einem Interview (mit Mattes und Schraube 2004, Abs. 16) so: „[...] fast der einzige Weg dahin führt noch immer über die alten engen Pfade: experimentelle Arbeiten veröffentlichen oder untergehen. Wer das Wissenschaftsverständnis des Faches in Frage stellt und andere Denk- und Forschungsweisen entdecken möchte, gefährdet sein berufliches Weiterkommen.“

2 Charakteristika sozialwissenschaftlich-qualitativer Methodenkonzeptionen

„Sozialwissenschaftlich-qualitative Methodik“ ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl methodologischer Denkformen, Forschungsstile und Instrumentarien. Solche Konzeptionen wurden in einer Reihe von Disziplinen hervorgebracht – u. a. in der Psychologie (Breuer 1996; Breuer et al. 2000; Camic et al. 2003; Mruck et al. 2000; Schreier 2013; Willig und Stainton-Rogers 2008). Bei der Ausdifferenzierung spielen zudem unterschiedliche theoretische Traditionen sowie nationale Besonderheiten mit hinein (Fahrenberg 2011 [2002]; Hitzler 2007; Hitzler und Honer 1997; Kleining 1995; Reichertz 2016). Wenn im Folgenden von wissenschaftstheoretischen Grundlagen der qualitativen Methoden die Rede ist, handelt es sich also um eine idealisierende Verallgemeinerung. Dennoch werden in Überblicksdarstellungen (Flick et al. 2000; Lamnek 2005; Mruck und Mey 2005; Döring und Bortz 2016; S. 63–72; Hussy et al. 2013, S. 179–272) gewisse paradigmatische Gemeinsamkeiten qualitativer Forschungskonzeptionen unterstellt, allerdings unterschiedlich spezifiziert.

Unter wissenschaftstheoretischem Blickwinkel möchte ich hier die folgenden Elemente herausstellen und anschließend einige Aspekte vertiefend behandeln:

  • Das Forschungsinteresse, das einem qualitativen Forschungsstil zugrunde liegt, richtet sich auf „natürliche“ Phänomene, nicht solche aus dem (psychologischen) Experimentallabor. Vielmehr geht es um alltags- bzw. lebensweltliche Probleme und Prozesse sowie deren Ausdruck in den Sichtweisen, Aus-/Handlungs- und Präsentationsformen der involvierten Akteure.

  • Die Datenerhebung erfolgt üblicherweise durch (teilnehmende) Feldbeobachtungen, Gespräche bzw. Interviews mit Protagonistinnen und Protagonisten sowie über „autonome“ Produktionen des Feldes (sog. nichtreaktive Datenquellen: Re-/Präsentationen im Internet, Akten, Umweltgestaltung, Bilder etc.). So gewonnene Daten werden auf dem Weg über eine technische (Audio- oder Video-)Aufzeichnung in der Regel textförmig (als Transkripte, Protokolle u. Ä.) dokumentiert. Diese Texte stellen die Basis für die Auswertungsarbeit dar.

  • Die Auswertung der Daten (Kodierung, Interpretation, Modellbildung) setzt auf Seiten der Forschenden bestimmte Kompetenzen voraus, deren Grundlagen in Sozialisation und persönlicher Lebensgeschichte erworben worden sind: interpersonal-kommunikatives Verstehen. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Verwendung sollen diese Fähigkeiten nicht – wie im lebensweltlichen Vollzug üblich – quasi „automatisch“ und zumeist ohne Selbstaufmerksamkeit sondern (möglichst weitgehend) in bewusster Fokussierung, mit methodischem Bedacht sowie mit (selbst-)reflexiver Haltung eingesetzt werden. Sie werden im Rahmen eines methodologischen Regelwerks expliziert, angeeignet und kultiviert. Die verwendeten Prozeduren lassen sich unter dem Begriff der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik bzw. Interpretation zusammenfassen.

  • Ein charakteristisches Merkmal des qualitativen Forschungsstils ist die Intention des Entdeckens von theoretisch Neuem. Ausgehend von empirischen Phänomenen wird in der Regel nach Abstraktionen und Verallgemeinerungen (Konzepten, Typen, Strukturen etc.) gesucht. Qualitative Methoden besitzen ihre besondere Stärke in ihrem Charakter als Heuristik: Es geht um das (Er-)Finden und Ausarbeiten bis dato noch unbekannter oder erst rudimentär strukturierter Ideen und Konzepte. Daher wird diesen Forschungsansätzen zumeist die Eigenschaft theoretischer Offenheit (bzw. das Bemühen darum) zugeschrieben.

  • Die Überzeugung, dass die Person des/der Forschenden sowie die Interaktion zwischen Forschenden und Forschungspartner/innen im gesamten Forschungsprozess eine wichtige Rolle für die Erkenntnisbildung spielen und methodischer Aufmerksamkeit und Berücksichtigung bedürfen, ist ein Kennzeichen vieler Ansätze qualitativer Sozialforschung. Die Fokussierungen des/der Forschenden in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand (Neugier, persönliche Berührung und Verquickung etc.) können in Zusammenhang mit ihren Präkonzepten und individuellen Neigungen stehen. Der/die Forschende besitzt im Kontakt mit den Akteuren im Untersuchungsfeld einen bestimmten Appeal („Reizwert“) als Person mit einem bestimmten Alter, Geschlecht, Habitus etc. und als Rollen-Repräsentant/in (neugierige/r Lernbereite/r, mit in/transparenter Interessenlage etc.), die die Interaktion beeinflussen. Der/die Forschende ist dort präsent und wirkt. Darüber hinaus wirken das Feld, die Forschungspartner/innen, die Interaktion, das Thema in ihn/sie hinein. Zur Programmatik qualitativer Methodik gehört es häufig, solche Charakteristika zu thematisieren. Sie von einer Störgröße zu einer nutzbaren Erkenntnisgelegenheit umzudeuten ist ein methodologisches Mittel, das mitunter (in Form selbstreflexiver Dezentrierung) genutzt wird.

  • In Ansätzen qualitativ-methodischer Ausrichtung beschäftigt man sich vielfältig mit den (Vor-)Annahmen des/der Forschenden zur Charakteristik des Gegenstands. Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Humanforschung geht es dabei u. a. um das Menschenbild, das einer Forschungskonzeption hinterliegt. Mit der Wahl einer Methodik sind Selektionen und Fokussierungen von Gegenstandsmerkmalen verknüpft, die nicht empirisch geprüft sondern der Empirie vorangestellt werden: Worauf kommt es (uns) an? Ein Gegenstandsmodell, ein Bild der Anderen wird entworfen – explizit oder implizit.

3 Sozialwissenschaftlich-qualitative Methoden als Entdeckungsverfahren

Die Methodenlehre des Kritischen Rationalismus geht von der Idee einer Prüfung vorgegebener Theorien aus. Sie stützt sich dabei wesentlich auf die logische Argumentationsfigur der Deduktion, die Erkenntnisgewissheit verspricht: Ausgehend von Allgemeinaussagen (Theorien, Hypothesen) werden spezifische Vermutungen abgeleitet (deduziert) und mit empirischen Daten (bzw. Basissätzen) verglichen. Wie man sich das Erfinden und Entwickeln von Theorien vorzustellen hat, spielt in dieser Konzeption eine untergeordnete Rolle, wird nicht zu den Bestandteilen des methodologischen Kanons gerechnet.

In dieser Hinsicht ist die sozialwissenschaftlich-qualitative Methodologie anders aufgestellt. Der Aspekt der Entdeckung besitzt zumeist Vorrang gegenüber der Idee der Prüfung von Theorien. Die einzelnen Schulen und Verfahren unterscheiden sich allerdings darin, inwieweit sie eine elaborierte Methodologie bereithalten, die sowohl auf das Zustandekommen wie auf die Prüfung und Absicherung von Theorien ausgerichtet ist.

Den Ausgangspunkt der Theorieentwicklung stellen in der Regel in alltagsweltlichen Kontexten hervorgebrachte – häufig von den (reflexiven) Feldmitgliedern bzw. Untersuchungspartnerinnen und -partnern vorinterpretierte – Daten dar, die Forschende für interessant erachten. Auf dieser Basis geht es sodann darum, zu theoretischen Konzepten bzw. zu Verallgemeinerungen zu gelangen. Die Denkfigur, die dabei in der Regel zur Anwendung kommt, ist die der Transzendenz des Besonderen bzw. Empirischen hin zum Abstrakten bzw. Theoretischen. Derartige Schlussfolgerungen werden häufig mit dem Begriff Induktion gekennzeichnet: Die Geschehensbeobachtung in einem Einzelfall lässt Wissenschaftler/innen vermuten, es könnte sich in einem nächsten Fall genau so verhalten, in einem übernächsten ebenfalls – und noch einige Zeit so weiter. Im Verlauf scheint die Vermutung zur Gewissheit zu wachsen: In allen Fällen verhält es sich in der festgestellten Weise. Eine Wiederkehr von Konstellationen beobachteter Phänomene (wie häufig auch immer) kann jedoch, wie die wissenschaftstheoretische Debatte ergab, lediglich als psychologischer Anstoß für eine Regelhaftigkeits-Erwartung gedeutet werden; eine logisch-argumentativ untermauerte Begründung bzw. Gewissheit kommt so nicht zustande (Breuer 1991, S. 38–42).

Theoretische Erfindungen, die in solchen Kontexten hervorgebracht werden, sind jedoch selten von der Art der skizzierten linearen Fortschreibung von Ereignisketten in die Zukunft. Vielmehr handelt es sich um komplexere gedankliche Vorgänge, die auch kreative Anteile besitzen. Diese Art von Erfindungskunst wird auch als Heuristik bezeichnet. Einige Theoretiker/innen des qualitativ-sozialwissenschaftlichen Methodenansatzes stellen gerade deren Rolle und Bedeutung für die Theoriegenese, seine heuristische Komponente, in den Vordergrund (etwa Kleining 1995).

Die gedankliche Figur der Entdeckung des Neuen wird auch mit dem auf Peirce (2000 [1906–1913]) zurückgehende Begriff der Abduktion gekennzeichnet, und es wird eine eigenständige logische Abduktions-Figur in Abgrenzung von Induktion und Deduktion entworfen. Das Konzept wird bei der Entfaltung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen qualitativer Methoden zunehmend ins Spiel gebracht (Reichertz 2013a). Kurz und einfach gesagt geht es dabei darum, aus vorhandenen empirischen Daten sowohl eine Kategorie (einen theoretischen Begriff, eine Universalie) wie eine Regel (einen gesetzesartigen Erklärungszusammenhang) für ihr Zustandekommen zu generieren. Bei der gedanklichen Struktur, die dem zugrunde liegt, handelt es sich nicht um eine logische Ableitung mit Gewissheits-Charakter, sondern um einen hinsichtlich des Wahrheitswerts riskanten Entwurf, bei dessen Zustandekommen Kreativität erforderlich ist und auch der Zufall eine Rolle spielt.

Der heuristische Aspekt qualitativer Methodik wird von Vertreter/innen einer auf Theorieprüfung ausgerichteten Orientierung zumindest in Grenzen wertgeschätzt, weil hier angeleitete Verfahren für die Gewinnung neuartiger Hypothesen in Aussicht stehen. Qualitative (Entdeckungs-)Methoden stellen unter diesem Blickwinkel allerdings lediglich ein Propädeutikum (eine Vorstufe) „eigentlicher Wissenschaft“ dar – zwar kreativ, aber ohne Prüf- und Gütesiegel für die Resultate. In der Sicht der Vertreter/innen qualitativer Methodologie spricht vom Prinzip her nichts dagegen, ihre Methodik gemeinsam und koordiniert mit quantitativen Verfahren zu verwenden. Dazu sind jedoch Untersuchungsdesigns erforderlich, durch die beide Konzeptionen in ein gegenstandsbezogen und methodologisch gerechtfertigtes Verhältnis zueinander gebracht werden. Die Funktion als Propädeutik ist dabei nur eine unter mehreren Möglichkeiten. In jüngerer Zeit wurden unter dem Stichwort Mixed Methods entsprechende integrative Modellvarianten ausgearbeitet (Kelle 2007; Kuckartz 2014; Teddlie und Tashakkori 2009; speziell für Psychologie: Lippe et al. 2011).

Ein anderes Argument gegen die Tragfähigkeit des Induktionsgedankens im Rahmen wissenschaftlicher Begründungszwecke ist auch für die Entdeckungskomponente qualitativer Methodik von Bedeutung: „Reine“ Induktion ohne jegliche Voraussetzung ist nicht möglich. Jede Form menschlichen Erkennens geht unvermeidlich von bestimmten Präformationen unseres Wahrnehmungs- und Repräsentationsinstrumentariums und -hintergrundes (Sinnesausstattung, begriffliche Vorprägungen, Vorerfahrungen, Diskurse etc.) aus. Insofern ist Erkenntnis auf apriorische Strukturen angewiesen. In qualitativ-methodischen Forschungsansätzen wird – in gewissem Gegensatz dazu – mitunter das Postulat der theoretischen Offenheit vertreten: Ohne vorformulierte Hypothesen soll an ein Forschungsgebiet herangegangen werden. In dieser Hinsicht kann sinnvollerweise allerdings nicht von „absoluter“, sondern nur von einer „relativen“ und – im idealen Fall – von einer reflektierten Offenheit gesprochen werden: Es ist nötig – und das stellt eine Paradoxie dar – dass Forschende sich um die Explikation und Aufklärung ihrer Erkenntnisvoraussetzungen („Präkonzepte“) bemühen – um diese im Forschungsprozess anschließend zu hinterfragen, zu „befremden“, „einzuklammern“, beweglich und flexibel zu handhaben. Das mag bei entsprechender selbstbezüglicher Reflexion in Grenzen gelingen (Amann und Hirschauer 1997) – es bleibt jedoch stets eine problematische und prekäre Prämisse.

4 Sozialwissenschaftlich-qualitative Methoden als Interpretationsverfahren

Die Schnittstelle zwischen der Welt der Ideen und der Welt der beobachtbaren bzw. messbaren Gegenstände – methodologisch ausgedrückt: zwischen Theorien und Daten, Konstrukten und „Messungen“ – ist eine der Grundfragen der Erkenntnistheorie empirischer Wissenschaften. Im neopositivistisch-nomothetischen Diskurs des 20. Jahrhunderts wurde diese Frage als Zwei-Sprachen-Problem behandelt: In wissenschaftlichen Aussagensystemen soll möglichst eindeutig zwischen einer sogenannten Beobachtungssprache (die – außer logischen Verbindungs-Ausdrücken – ausschließlich Beobachtungs-Terme enthält), und einer theoretischen Sprache (wesentlich konstituiert durch sogenannte Konstrukte, deren Referenten einer unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich sind) unterschieden werden (Carnap 1958). Es wurden vielerlei methodologische Anstrengungen unternommen, die Kluft zwischen den beiden Sprachstufen durch Zuordnungs- bzw. Korrespondenzregeln zu überbrücken. Prototypisch geschieht dies durch die empirische Interpretation von Konstrukten durch ihre Verknüpfung mit Beobachtungs- bzw. Mess-Operationen (Operationalisierungen). Diese Vorstellung beinhaltet mancherlei Komplikationen, durch die die aussagenlogische Eindeutigkeit der Prüfung von Geltungsbehauptungen in Frage gestellt wird (Breuer 1991, S. 114–120). Als Problem stellte sich u. a. der Entwurf einer „reinen Beobachtungssprache“ heraus: Auch derartige Aussagengebilde kommen nicht ohne sprachliche Universalien, ohne Ausdrücke mit Verallgemeinerungs-Implikationen aus. So dass die Unterscheidung der beiden Ebenen nicht absolut zu treffen ist, sondern – gewissermaßen als Hilfslösung – auf den Kontext einer spezifischen Theorie relativiert vorgenommen werden muss (Breuer 1991, S. 36–37; Groeben 1986, S. 86–97).

Wir begegnen hier dem epistemologischen Fundamentalproblem, dass beim menschlichen Wahrnehmen alle Perzepte in bereits (durch Sinnesmodalitäten, Wahrnehmungsschemata, begriffliche Konzepte, gedankliche Rahmungen etc.) kodierter Weise vorliegen. Wir erkennen niemals Dinge an sich, sondern wir haben es mit Dingen für uns zu tun. Wenn es um die wissenschaftliche Erkenntnis der sozialen Welt geht, werden die Verhältnisse noch voraussetzungsbeladener. In ihren lebensweltlichen Erscheinungsweisen treffen wir bereits auf Deutungsvorgänge der reflexiven Mitspielenden, die aus ihren (Sub-)Kulturen und soziokulturellen „Sinnprovinzen“ stammen: Die Daten sind wesentlich geprägt durch die Kategorisierung und Bedeutungszuschreibungen der Akteure des Kontextes („Konstruktionen erster Ordnung“; Schütz 1954). Als Forschende können wir uns ohne (i. w. S.) theoretische Voraussetzungen, die (auch) an eigene (sub-)kulturelle Erfahrungen gebunden sind, in solchen Situationen gar nicht zurecht finden – wir wären gewissermaßen „seelenblind“. Erst recht könnten wir ohne (reflektierten) Gebrauch derartiger Präkonzepte kein sozialwissenschaftliches Verständnis („Konstruktionen zweiter Ordnung“; Schütz 1954) zustande bringen.

Der qualitativ-methodischen Forschungskonzeption liegt die Erkenntnisfigur der Hermeneutik bzw. des sogenannten hermeneutischen Zirkels (besser: der hermeneutischen Spiralbewegung) zugrunde, bei der die subjektseitigen Voraussetzungen des Erkenntnisprozesses fokussiert und methodisch bearbeitbar gemacht werden (Kurt 2004; Kurt und Herbrik 2014; Soeffner 1989). Es wird davon ausgegangen, dass jeder Wahrnehmungs- und Verstehensakt ein (Vor-)Verständnis voraussetzt, das ein Erkennen erst ermöglicht, dieses aber auch einschränkt und begrenzt. Durch Kontakt mit der „sozialen Wirklichkeit“ kommen wir zu Erfahrungen und Daten, die wir in bestimmter Weise interpretieren, die wir in die Vor-/Verständnis-Basis integrieren, wobei diese verändert wird. Einen nächsten Erkenntnisakt vollziehen wir dann auf der Grundlage eines modifizierten Verständnisses – und spiralhaft so weiter. Mit dieser Sichtweise ist das methodologische Postulat verbunden, die reflexive Aufmerksamkeit nach zwei Seiten hin auszurichten: auf die Welt „dort draußen“, das intentionale Gegenstandsgebiet, die inhaltliche Forschungsfrage – sowie auf die Welt „hier drinnen“, die subjektseitigen, persönlichen Erkenntnisvoraussetzungen, deren Konstitution und Wandel.

Hermeneutik wird mitunter als Interpretationskunst bezeichnet. Darin liegt eins ihrer methodologischen Probleme: Die Kunstfertigkeit bzw. eine entsprechende Begabung sind nicht allen Ausübenden in gleicher Weise gegeben, und die Möglichkeiten ihrer Kodifizierung in Regelwerken sind begrenzt. Heilige Schriften, Gedichte, Gesetzestexte und alltagsweltlich-interaktives Handeln zu verstehen und zu deuten, erfordert eine gewisse Sensitivität und Expertise. Zudem ist nicht zu gewährleisten, dass es stets nur ein „richtiges“ Verständnis eines Textes oder einer Handlung gibt, oder dass die Interpretierenden sich auf ein solches einigen können. Allen Ansätzen sozialwissenschaftlicher Hermeneutik ist die Annahme gemeinsam, dass derartige Interpretationen sozial-kulturell einsozialisierte Verstehensfähigkeiten zur Grundlage haben. Die elaborative Transzendenz dieser lebensweltlichen Elementarkompetenz fällt in den hermeneutischen „Schulen“ allerdings unterschiedlich aus – sie reicht von einer intensiven Einübung mit hohen Selbstreflexions-Anteilen unter der Mentorschaft eines „Meisters“ (Prototyp: die „Lehranalyse“ in der Psychoanalyse-Ausbildung; Stratkötter 2004, S. 229–235) über die gemeinsame Reflexion in einer Gruppe von Mitforschenden („Forschungswerkstatt“; Allert et al. 2014; Gramespacher et al. 2009; Reichertz 2013b; Riemann 2011) bis zum allgemein gefassten Selbstreflexions-Appell.

Der Vorgang qualitativ-methodischer Auswertung bzw. Interpretation textförmiger Dokumente sozialer Phänomene bzw. Ereignisse (v. a. Gesprächs-Transkripte und Beobachtungsprotokolle) wird üblicherweise als Kodieren bezeichnet. Beim Kodieren werden Textausschnitten (unterschiedlicher Größenordnung) bestimmte (Be-)Deutungen zugeschrieben, die für das Untersuchungsthema und den theoretischen Zugriff (potenziell) relevant sind. Diese Bedeutungsverleihung geschieht durch die Koppelung empirischer Phänomene mit sprachlichen Konzepten. Welche Fokussierungen von Gegenstandscharakteristika und welche Begrifflichkeiten dabei zustande kommen, hängt auch von den theoretischen Hintergründen und Vorgaben sowie den Themeninteressen der Kodierenden ab. Bei einigen methodischen Prozeduren ist das Inventar der Kodes bzw. Kategorien bereits vorgängig eingegrenzt (etwa bei bestimmten Formen von Inhaltsanalyse; Mayring 2010; Schreier 2012, 2014), bei anderen entwickeln sich die Kodes/Kategorien im interaktiven Prozess zwischen Forschenden und Daten (Prototyp: Grounded Theory-Methodologie und deren Prinzip der Emergenz – Breuer et al. 2019; Mey und Mruck 2009; Muckel und Breuer 2016).

Die Glaubwürdigkeits-Absicherung derartig zustande kommender Kodierungen kann auf unterschiedlichen Wegen geschehen. Verbreitet ist die Praxis, die Deutungsprozeduren durch mehrere Kodierende parallel – sei es je für sich oder im kommunikativen Austausch in Gruppen – vornehmen zu lassen und die Resultate zu vergleichen. Die Co-Kodierenden können geschulte Hilfspersonen oder Mitglieder der Forschungsgruppe sein, es kann sich u. U. auch um Untersuchungspartner/innen aus dem Forschungsfeld handeln. In diesem Zusammenhang können die Konzepte Triangulation, Member Checking (Flick 2008) und kommunikative Validierung (Groeben und Scheele 2000) ihren Stellenwert besitzen. Verschieden sind allerdings die Interpretationsmöglichkeiten von Divergenzen in den Urteilen der Kodierenden: Die Unterschiede lassen sich als Mangel an Objektivität bzw. Reliabilität auffassen, aber auch als Hinweise auf differenzielle Verstehensperspektiven, die themenbezogen weiter exploriert werden und den Anstoß für eine tiefer gehende theoretische Durchdringung darstellen können (Breuer 1999). Eine Absicherung von Interpretationen bzw. Kodierungen ist auch dadurch möglich, dass die begrifflichen Konzepte, die auf die skizzierte Weise hervorgebracht werden, in ein theoretisches Modell eingeordnet werden und in dem so gestifteten Gesamtzusammenhang ihre Passung und Stimmigkeit (Kohärenz) erweisen.

Ganz grundsätzlich bleibt bei dieser methodologischen Konzeption eine Ungewissheit: Die finale, abschließende Deutung eines sozialen Sachverhalts oder Ereignisses (bzw. der entsprechenden Daten) gibt es nicht. Stets haben wir es mit Lesarten zu tun, die an Verstehenshorizonte von Beteiligten und Beobachter/innen gebunden sind. Diese können unauflöslich divergent ausfallen, und sie können sich – mit unterschiedlichen Zeitdistanzen, im Lichte eines veränderten Interpretationshintergrunds – wandeln. Das Gewahrsein dieser Wandelbarkeit unserer Theorien und Auffassungen lehrt uns epistemologische Bescheidenheit: Mit Wahrheitsbehauptungen sollen wir zurückhaltend sein!

5 Subjektivität, Perspektivität und Interaktivität in der sozialwissenschaftlichen Forschung

Die Einflüsse der Person des/der Forschenden im Erkenntnisprozess sowie in der interaktiven Konstellation und Dynamik der Untersuchungssituation stellen methodologische Herausforderungen dar, die speziell in qualitativen Forschungsprojekten nach Überdenken und Positionierung verlangen. Dem wenden sich die in diesem Stil Forschenden in mehr oder weniger fokussierter Weise zu. Diesbezüglich findet sich ein Spektrum defensiver und offensiver Umgehensweisen (Ploder und Stadlbauer 2016; Reichertz 2015).

Lässt man sich von der nomothetischen Wissenschaftsprogrammatik leiten, stellt die Idee objektiver Erkenntnis eine wesentliche Zielvorstellung dar: Wissenschaftliche Erkenntnis soll unabhängig von der Person sein, die das Wissen besitzt oder hervorbringt. Erkenntnis-Protagonist/innen treten unter dieser Voraussetzung nicht als Individuen mit Eigenschaften und Besonderheiten auf, sondern sie sollen als Non-Personen (als alters- und geschlechtslose farblose Figuren) agieren oder sich in der Erhebungssituation unsichtbar machen (einen weißen Kittel tragen, eine Tarnkappe aufsetzen …).

In qualitativen Methodologien wird dieser Auffassung eine Programmatik gegenüber gestellt, bei der der Person des/der Forschenden sowie der Interaktion zwischen Forschenden und Untersuchungspartner/innen konstitutive Bedeutung dafür zugeschrieben wird, wie sich der Erkenntnisprozess vollzieht und was dabei herauskommt. Die Rolle und der Einfluss der Forschenden werden nicht schamhaft zugedeckt oder als (zu kontrollierende) Störgröße behandelt, sondern gewissermaßen schamlos und offensiv auf die Vorderbühne gestellt. Als zentrale erkenntnistheoretische Konzepte kommen die der Subjektivität und der Perspektive ins Spiel: Alle menschliche Erkenntnis (in lebensweltlichen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen) ist Erkenntnis von Personen; und diese ist durch ihre Wahrnehmungsfähigkeiten, Vorprägungen, Standpunkte, Eingebundenheiten, Einwirkungen etc. gekennzeichnet. Sie wird von einer spezifischen Erkenntnisstruktur und in einer sozialen Erkenntniskonstellation hervorgebracht und ist daher unaufhebbar perspektivisch (Bonz et al. 2017; Breuer 1989, 2003; Breuer et al. 2019; Breuer und Muckel 2016).

Erkenntnistheoretisch mag man diese Tatsache bedauern, stellt sie doch eine Verletzung unseres Bedürfnisses nach universalen Gewissheiten dar. In Konzeptionen sozialwissenschaftlich-qualitativer Epistemologie hat man sich häufig von der Idee eines privilegierten Zugangs zur wahrheitsgemäßen Abbildung der Realität verabschiedet. Stattdessen wird die Auffassung vertreten, dass es grundsätzlich von Interesse ist, gegenstandsbezogene Beschreibungen von verschiedenen Standpunkten aus einzuholen und die zustande kommenden Varianten zueinander ins Verhältnis zu setzen. Aus ihrem Vergleich, gerade auch aus den zutage tretenden Differenzen und der Vielstimmigkeit der Sichtweisen, lassen sich Erkenntnisse über den fokussierten Gegenstand sowie auch über die besonderen Strukturmerkmale und Standpunkte der Auskunft gebenden Untersuchungspartner/innen gewinnen (Breuer 1989; Flick 2008; Gilligan et al. 2003).

In einer Reihe erkenntnistheoretischer und methodologischer Schulen unterschiedlicher (Fach-)Richtungen (Konstruktivismus, Diskurstheorie, Semiotik u. a.; Übersichten bei Gergen 2002; Zielke 2004) wird die Bereitschaft unterstützt, aus heterogenen Darstellungen von Welt und Weltausschnitten einen Wissensgewinn zu ziehen. Alle diese Rahmenkonzeptionen unterstellen die epistemologische Interessantheit eines Spektrums tendenziell heterogener (Re-)Präsentationen und deren subjektseitiger (Be-)Deutungskonstitution und kommunikativer Aushandlung sowie die damit einhergehende Aussicht auf theoretischen (Tiefen-)Gewinn – ohne dass ein Vereinheitlichungs- und Stillstellungszwang ausgeübt wird.

Zudem spielt hier die Tatsache eine wesentliche Rolle, dass es sich bei sozialwissenschaftlichen Forschungssituationen um Formen leibhaftiger interpersonaler Begegnung bzw. sozialer Interaktion zwischen Forschenden und beforschten Untersuchungspartner/innen handelt. Personen und ihr Handeln üben in der Begegnung differenzielle Wirkungen aus, sie berühren und beeindrucken sich wechselseitig.

Georges Devereux (1984 [1967]) ist ein Klassiker eines solchen Forschungsverständnisses, der seine innovative methodologische Konzeptionalisierung auf einem psychoanalytischen Theoriehintergrund entworfen hat. Bezogen auf die interpersonale Konstellation sozialwissenschaftlicher Untersuchungssituationen (zwischen dem „Objekt“ und dem/der „Beobachter/in“) unterscheidet er drei Ebenen, auf denen die zustande gekommenen bzw. erfassten Daten betrachtet werden können:

  1. „1.

    Das Verhalten des Objekts.

  2. 2.

    Die ‚Störungen‘, die durch die Existenz und die Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden.

  3. 3.

    Das Verhalten des Beobachters: seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine ‚Entscheidungen‘ (d. h. die Bedeutung, die er seinen Beobachtungen zuschreibt)“ (Devereux 1984, S. 20).

Das Originelle an der Konzeption ist, dass Devereux die Aspekte (2) und (3) gegenüber der von der wissenschaftlichen Haltung üblicherweise fokussierten Ebene (1) aufwertet und für die Erkenntnisbildung in den Vordergrund stellt.

Aspekt 2 bezieht sich auf die häufig auch mit dem technischen Begriff der reaktiven Effekte bezeichneten Phänomene aus der Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten: Die soziale Situation in einem Untersuchungsfeld wird durch das Hinzutreten fremder Beobachter/innen verändert, die (Beobachtungs- und/oder Gesprächs-)Interaktion zwischen den Protagonist/innen wird von den Eigenschaften und Handlungsweisen der Forschenden beeinflusst. Die Untersuchungspartner/innen „reagieren“ auf den Reizwert des/der Forschenden – auf der Basis einer (Be-)Deutung(-sverleihung) (etwa hinsichtlich Geschlecht, Alter, Status, Rolle, Habitus etc.). Eine (selbst-)reflexive Analyse des so fokussierten interaktiven (Re-) Agierens der Beteiligten in der Forschungssituation vermag gegenstandsbezogene Erkenntnisse zutage zu bringen, die aus dem „Verhalten des Forschungsobjekts“ allein (etwa aus expliziten Auskünften in einem Interview) u. U. nicht zu entnehmen sind.

Ebene 3 kommt als Gesichtspunkt – gemessen am methodologischen Standardverständnis – noch ungewöhnlicher daher: Die Resonanzen (i. w. S.) auf Seiten der Forschenden (Appetenzen, Aversionen und andere emotionale Reaktionen, lebensgeschichtliche Beziehungs-Reinszenierungen u. Ä.) sowie damit zusammenhängende methodische Entscheidungen (Neigungen zum Aufsuchen oder Vermeiden von Gegenstandsaspekten etc.) können auch als nützliche Informationsquellen in Bezug auf den Forschungsgegenstand angesehen werden. Wenn Forschende ihre persönlich-idiosynkratischen Reaktionen aus der Arbeit mit dem Thema, mit den Personen und Ereignissen im Forschungsfeld etc. angemessen sensibel, selbstaufmerksam und verständnissinnig in den Blick nehmen können, lassen sich diese als Auslösungen des Untersuchungsobjekts am eigenen Körper lesen und für eine Themenaufklärung nutzen. Derartige Resonanzen werden in Analogie zur Idee der Gegenübertragung aus der psychoanalytischen Behandlungslehre fokussiert und ausgeleuchtet. Den so aufkommenden Ideen und Assoziationen kann in der Folge durch weitere bzw. andere explorative Maßnahmen und Verfahren nachgegangen werden.

In einer Reihe von Theorien wird versucht, den Grundgedanken der (Selbst-)Reflexivität der Forschenden epistemologisch und methodisch zu nutzen. Der Reflexivitäts-Begriff ist dabei durchaus mehrdeutig und wird hinsichtlich seiner Rolle in der sozialwissenschaftlichen Forschung unterschiedlich eingeordnet (Langenohl 2009). Hier sind einerseits soziologische Ansätze von Bedeutung, die die sozialwissenschaftliche Forschungskonstellation im gesellschaftlichen wie im situativ-interaktiv-prozessualen Zusammenhang fokussieren – etwa unter der Bourdieu’schen Perspektive der „wissenschaftlichen Reflexivität“ („Objektivierung“ der gesellschaftlich-sozialen Position und Erkenntnishaltung des/der Forschenden – abgegrenzt von der sogenannten „narzisstischen Reflexivität“; Bourdieu 1993); oder die auf die sozialkonstruktivistischen Ideen von Schütz (1971) zurückgehende Fokussierung von Forschungsbegegnungen aus interaktionstheoretischer Sicht, bei der intersubjektive Deutungen, Zuschreibungen und Aushandlungen als Konstruktionsweisen sozialer Wirklichkeit in den Mittelpunkt gestellt werden. Auf der anderen Seite stehen (vorwiegend tiefenpsychologisch-psychoanalytisch grundierte) Konzeptualisierungen sozialwissenschaftlicher Methodologie (Prototyp: Devereux), die auf intra- und intersubjektive (Irritations-)Effekte der Forschungssituation und des Forschungsprozesses abheben und den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess begleitende selbstbezügliche Aufmerksamkeit postulieren, um dies als Heuristik zur Erkenntnisgenerierung zu nutzen (Bereswill 2003; Bonz et al. 2017; Hegener 2004).

Wir haben eine Sortierungsdimension der Varianten reflexiver (Selbst-)Thematisierung der Forschungskonstellation vorgeschlagen (Lettau und Breuer 2007), deren eines Ende durch subjektseitige Bedingungen gekennzeichnet ist, die sich aus der Mitgliedschaft bzw. Verwobenheit in Gesellschaft, (Sub-)Kultur, Sprache, Geschichte und Denkweise ergeben; das andere Ende ist durch das Eigene in Gestalt des Privaten, Intimen, Biografischen, Familiären etc. gekennzeichnet. Im Prozess und Handlungskontext wissenschaftlicher Forschung lässt sich – etwa hinsichtlich der Methodenwahl, der Gestaltung der Interaktion mit den Untersuchungspartner/innen und der „Berührung“ durch das Forschungsthema – (selbst-)reflexive Aufklärung in beide Anordnungsrichtungen anstellen (Leithäuser und Volmerg 1988).

Unter der Fragestellung, welche Möglichkeiten Forschende besitzen, um die besprochene Subjekt-Charakteristik der Erkenntnisbildung durch (selbst-)reflexive Praktiken zu thematisieren, werden u. a. Formen des Schreibens eines Forschungstagebuchs, von Memos verschiedener Art, von Unterstützung durch Rückmeldungen in einer Forschungsgruppe, durch Forschungssupervision angeraten (Breuer et al. 2011). Ferner sind Überlegungen zur Fokussierung der Leiblichkeit der Forschungssituation, zum Körper des/der Forschenden als explorative Sonde im Forschungsprozess interessant (Abraham 2002; Breuer 2000; Breuer et al. 2019; Gugutzer 2015; Hirschauer 2008). Die konkreten Umsetzungsversuche dieser Konzeptionen sind durch Offenheit, Entwicklung und Kreativität gekennzeichnet – und die Vorgehensweisen werden wohl immer eine stark person- und projektbezogene Note behalten (Breuer 2003).

Bei Finlay und Gough (2003) finden sich Erfahrungsberichte aus Projekten unterschiedlicher Disziplinen, die mit der Reflexivitäts-Idee operieren. Einige Lehrbuchtexte psychologischer Provenienz sind einer so ausgerichteten Herangehensweise unter dem Gesichtspunkt der Anleitung und Begleitung reflexiver Forschungsaktivität gewidmet (Breuer 2010; Breuer et al. 2019; Mruck und Mey 2007). Der innovative Forschungsansatz der Autoethnografie (Chang 2008; Ellis 2004; Ploder und Stadlbauer 2013) erhebt die selbstthematisierende Erkenntnisfigur zum konstitutiven methodologischen Prinzip und bewegt sich dabei auf der Grenze zur literarisch-künstlerischen und performativen Produktion: Das eigene persönliche Erleben und Verarbeiten der Forschenden in intimen lebensweltlich-lebensgeschichtlichen Situationen und Kontexten wird in seinen Bezügen zu soziokulturellen Mustern beleuchtet. Hierbei wird allerdings die Idee von Wissenschaft als einer überkommenen und in spezifischer Weise kanonisierten Erkenntnis- und Wissensform in Frage gestellt (Geimer 2011).

6 Sozialwissenschaftlich-qualitative Methodik und Gegenstandskonstitution

Forschungsmethodik liefert einen Inszenierungs- und Wahrnehmungsfilter, der darüber entscheidet, welche Komponenten und Charakteristika des Objekts der wissenschaftlichen Neugier in den Blick geraten – was für existent, wichtig, interessant etc. gehalten wird und was nicht. Mithilfe methodischer Instrumente wird der wissenschaftliche Erkenntnisgegenstand erst konstituiert und konstruiert. Der, die, das Andere ist nicht unzweideutig (vor-)gegeben, sondern wird in der und für die wissenschaftliche/n Repräsentation per Methodik erschaffen (Geertz 1990; Berg und Fuchs 1993). Für die Humanwissenschaften bedeutet das: Es wird ein Menschenbild entworfen (Breuer 1999, 2005; Erb 1997; Reichertz 2010), und mit der Methodenwahl werden Festlegungen wie diese a priori getroffen: Besitzt der in der Forschung fokussierte Mensch ein kognitives und emotionales Innenleben? Verfügt er über einen freien Willen, über Kompetenzen der Welt- und Selbstdeutung? Hat er eine Seele? Oder ist er lediglich eine neuronale Agglomeration oder eine „Black Box“, die „reaktives Verhalten“ hervorbringt?

Im Rahmen qualitativer Methodologie ist in diesem Zusammenhang die Überlegung charakteristisch, die Wahl der Methode mit einer explizierten und theoretisch reflektierten Menschenbild-Vorstellung abzugleichen. Es wird das Prinzip der Gegenstandsangemessenheit der Methodenwahl herausgestellt. Mitunter wird dabei die Annahme einer Strukturgleichheit der anthropologischen Voraussetzungen auf Seiten der Forschenden und ihres Forschungsobjekts zum Maßstab gemacht (Breuer et al. 2019; Groeben und Scheele 1977; Holzkamp 1972; Laucken 2003): Beide sind gleichermaßen menschliche Wesen mit bestimmten Kompetenzen – wie Sinndeutungs-, Selbstauskunfts-, Reflexionsfähigkeit und (potenziell) Rationalität. Dass sie im Forschungskontext ihre Position in der komplementären Konstellation als Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt einnehmen, basiert auf einer Verabredung – die Rollen lassen sich prinzipiell vertauschen.

Psychologische Untersuchungen können an diesem Maßstab gemessen werden: Wird die Strukturgleichheitsannahme im Forschungsdesign bzw. durch die Methodenapplikation berücksichtigt? Inwieweit repräsentieren Untersuchungsszenarien den Handlungsraum „natürlich“-lebensweltlicher Situationen, für den eine Geltungsbehauptung aufgestellt wird? „Unterschreitungen“ dieses Prinzips sind im Rahmen psychologischer Forschungsarbeiten u. U. möglich und legitim – doch sind sie hinsichtlich der gegenstandsbezogenen Repräsentanz zu begründen (Groeben 1986, S. 365–372; Janich 2012).

Von „Versuchspersonen“ im psychologischen Laborexperiment werden charakteristischerweise bestimmte Reaktionszeiten, elektrophysiologische Messwerte oder reizevozierte Verhaltensäußerungen registriert. „Untersuchungspartner/innen“ in qualitativ-sozialwissenschaftlichen Forschungsinteraktionen werden demgegenüber programmatisch für (selbst-)reflexiv und kommunikationstüchtig gehalten. Sie können Beschreibungen und Sinndeutungen erlebter sozialer Situationen, Interaktionen, Lebensgeschichten u. Ä. liefern. In qualitativ-methodischen Projekten bieten sich oftmals Möglichkeiten, in den Forschungsarrangements Realisierungs- oder Entwicklungsspielräume für die Deutungs- und Reflexionsfähigkeiten der Untersuchungspartner/innen bereitzustellen. Auf diese Weise lassen sich u. U. deren Kompetenzen und Perspektiven erweitern bzw. verbessern sowie (etwa als „Expert/innenwissen“) auch für die wissenschaftliche Theoriebildung nutzen. Es besteht die Möglichkeit, sie in stärkerem Maße partizipativ bzw. kooperativ in die wissenschaftliche Erkenntnisbildung einzubeziehen (Bergold und Thomas 2012; Unger 2014).

7 Ausblick: Wandel der Epistemologien und der disziplinären Kultur in der Psychologie

Methodische Entscheidungen können niemals auf eine einzige verbindliche Weise getroffen werden, und sie bleiben nicht auf lange oder gar ewige Dauer gültig. Hierfür spielen Gründe aus den gehobenen Sphären der Erkenntnistheorie sowie auch solche aus den Niederungen der praktischen Umstände und der institutionellen Kontextualisierung von Forschungsarbeit eine Rolle. Die einschlägig gefundenen Antworten wandeln sich im Laufe der Wissenschafts- und Disziplingeschichte. Mit Zeitgeist-Strömungen und theoretischen Moden, Varianten von Beurteilungs-/Evaluationskriterien, mit unterschiedlichen (wissenschafts-) politischen Rahmungen und Ausrichtungen, aufgrund der Entwicklung bzw. Verfügbarkeit bestimmter technologischer Instrumentarien und Verfahren verändern sich die Ansichten darüber, was methodisch angesagt, (un-)möglich, (nicht) förderungswürdig, richtig und falsch ist. Die institutionelle Einbettung der Ausbildung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in spezifischen Fachrichtungen (ihre Lehrstuhlprofile, Curricula, Freiheitsgrade etc.) bahnt oder behindert methodenbezogene Vorlieben. Manche Disziplinen sind in dieser Hinsicht offener und pluralistischer eingestellt – andere Fachkulturen präsentieren sich dagegen hermetisch und dogmatisch. Diese Charakteristik ist an bestimmte Orte (z. B. Hochschultypen, Universitätsstandorte, Länder, Kontinente) und Zeitpunkte gebunden. Die Bedingungen des Zustandekommens sind komplex.

Aus der prekären Lage der Psychologie hinsichtlich ihrer Gegenstandskonstitution und -verankerung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Biologie, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaft sowie Humanmedizin ergeben sich in der Disziplingeschichte oftmals Widersprüchlichkeiten und Brüche ihrer Identität und Kontinuität: Auf der Basis neuer Gegenstandszugänge (beispielsweise neuer Apparaturen und technologischer Verfahren) erwächst die Illusion, immer wieder ganz von vorn beginnen und nun den wahren psychologischen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur kommen zu können. Im Windschatten politisch-administrativer Neukalibrierungen des Ausbildungs- und Forschungswesens an Universitäten und Hochschulen erleben wir gegenwärtig in dieser Hinsicht einen kulturrevolutionären Umbruch der Disziplin. Das pluralistische Gegenstands- und Methodenverständnis, das die deutschsprachige Psychologie in der Vergangenheit ausgezeichnet hat, geht dabei verloren.

Wir sind mit einer intellektuellen Verarmung der Psychologie konfrontiert, der Ausdünnung ihrer theoretischen und methodologischen Vielfalt, sowie mit dem Verlust ihres (produktiven) internen Spannungsverhältnisses als Wissenschaft, in deren traditionellem Verständnis sowohl die biologisch-physiologischen wie die sozial-kulturellen Seiten des Gegenstands als dazugehörig angesehen wurden. Ein Zerbrechen dieses Selbstverständnisses zeichnet sich ab, ein Auseinanderdriften in zwei Kulturen, die sich in getrennten disziplinären Kontexten und in einer gewandelten Fächersystematik (z. B. als „Lebenswissenschaften“) neu konfigurieren.

Wenn man sich der Mainstream-Ausrichtung und Engführung des Fachs nicht anschließen mag, gibt es in der gegenwärtigen Lage genügend gute Gründe, sich von der akademisch-universitären Psychologie abzuwenden, sie ihrem neurowissenschaftlichen und mathematisierenden Aufspreizen sowie ihrem Spagat zwischen nivellierender Modularisierung und profilierungsbesessener Performanz von Exzellenz zu überlassen. Andererseits kann man – und dafür ist dieses Handbuch in zweiter Auflage ein Zeichen – mit mindestens ebenso guten Gründen tatkräftig auf einem Gegenstands- und Methodenverständnis der Psychologie insistieren, das auch ihren sozial- und kulturwissenschaftlichen Traditionen verpflichtet ist und das nahe legt, Entwicklungen benachbart-befreundeter Fachkulturen in der psychologischen Forschung aufzugreifen. Die aufblühenden neuen Ansätze und Elaborationen qualitativer Methodik sind ein wichtiger Teil dieser übergreifenden sozialwissenschaftlichen Entwicklungsdynamik, die in der Mainstream-Psychologie derzeit verschlafen wird.