Premiere: „Wie viel Vergangenheit ist in Väterchen Putin drin?“ - WELT
icon icon-welt-goWELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr AssistentJournalismus neu erleben und produktiver werden
Premiere

„Wie viel Vergangenheit ist in Väterchen Putin drin?“

Autorenprofilbild von Stefan Grund
Von Stefan GrundRedakteur
Veröffentlicht am 11.09.2023Lesedauer: 9 Minuten
Szene aus „Boris Godunow“ an der Hamburgischen Staatsoper
Szene aus "Boris Godunow" an der Hamburgischen StaatsoperQuelle: (c)Brinkhoff-Moegenburg/Brinkhoff-Moegenburg

Frank Castorf inszeniert zum Start in die neue Saison „Boris Godunow“ von Modest Mussorgsky an der Hamburgischen Staatsoper. Die Premiere wird beim Binnenalster Filmfest zeitversetzt auf einer Kino-Leinwand am Junfernstieg übertragen.

Anzeige

Bühnenprobe an der Hamburgischen Staatsoper: Eigentlich sollte das Stück heute zum ersten Mal komplett durchlaufen, aber Regisseur Frank Castorf stoppt das Bühnengeschehen schon nach dem zweiten Bild. Er äußert musikalische Bedenken. Eigentlich hatte der Regisseur eine starke Individualisierung der einzelnen Chormitglieder im Sinn, wollte die Unterdrückung, das Aufpeitschen des Volkes zeigen, das zum Jubel für den neuen Herrscher gezwungen wird. Doch nun scheint ihm die Wirkung des Chores dadurch geschwächt zu sein, dass manche zur Seite, andere aber nach hinten singen. Da entstehe nicht die notwendige Kraft nach vorn, Richtung Publikum. Die Szene ist in die Zeit des Stalinismus verlegt, man sieht architektonisch den Zuckerbäckerstil, die entsprechenden sowjetischen Symbole sind Teil des Bühnenbildes.

„Mich reizt an ‚Boris Godunow‘ die russische Sprache.“

Castorf zog die Konsequenz aus seinem Empfinden: „Da habe ich gesagt: Wir müssen das ganz formal machen. Die ersten 15 Minuten sind wie eingefroren. Alle Chorsänger singen in eine Richtung.“ Der Regisseur war von 1992 bis 2017 Intendant der Berliner Volksbühne und arbeitet in Hamburg regelmäßig am Schauspielhaus und an der Staatsoper. Gerade erstellt er gemeinsam mit dem Hamburgischen Generalmusikdirektor Kent Nagano seine Fassung der Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgsky. Sie wird die Saison an der Staatsoper am 16. September eröffnen. Der Komponist schrieb das Libretto selbst – auf Basis des gleichnamigen Dramas von Alexander Puschkin.

Anzeige
Regisseur Frank Castorf vor der Staatsoper
Regisseur Frank Castorf vor der StaatsoperQuelle: Bertold Fabricius

„Mich reizt an ‚Boris Godunow‘ die russische Sprache. Wir haben in der Oper viel Italienisch, Französisch, manchmal Deutsch wie in Bayreuth, wo jeder sich an der deutschen Sprache versucht, oft verzweifelt und damit auch die großartige Literatur des Librettisten Wagner schwer verständlich macht“, sagt Castorf, „aber Russisch ist natürlich eine wunderbare Sprache, gerade jetzt, weil sie uns daran erinnert, dass es doch Menschen sind und nicht Monstren, die diese Sprache sprechen.“ Zudem sei Puschkin in Deutschland verkannt, so der Regisseur.

„Alle im Chor stehen da, das sieht herrlich und prächtig aus.“

Die 195 Minuten lange Uraufführung von „Boris Godunow“ fand 1876 im Mariinsky-Theater in St. Petersburg ein geteiltes Echo. Während das Publikum angetan war, lehnten Mussorgskys Freunde vom sogenannten „mächtigen Häuflein“ der fünf führenden russischen Komponisten das Werk ab – unter ihnen sein Freund Nikolai Rimski-Korsakow. Nach 25 Aufführungen wurde die Oper auf politischen Druck hin abgesetzt. In Hamburg sing Alexander Tsymbalyuk die Titelpartie, Matthias Klink singt Fürst Schujski und Vitalij Kowaljow übernimmt die Rolle des Mönches Pimen.

Anzeige

Castorf beschreibt, welche Wirkung die Chorszene im Prolog nach der Umstellung auf ihn macht: „Das erinnert mich an die Schlussszene des Truffaut-Films ‚Fahrenheit 451‘ nach Ray Bradbury, in der alle Romane verbrannt sind, aber doch nicht verloren, weil die Menschen sie memorieren. Alle im Chor stehen da, das sieht herrlich und prächtig aus. Und die Gesichter sagen nicht Lust und Liebe und Hosianna, sie singen nur mit der größtmöglichen Konzentration.“ Kent Nagano sei zur Probe gekommen und habe kurz dirigiert. Dann habe ihm nicht gefallen, dass die Chorsänger viel zu weit hinten standen. „Er hatte recht und ich habe gesagt, wir machen die Oper kaputt, wenn wir diese Haltung trotz aller menschlicher Zerbrechlichkeit vorn an der Rampe nicht zeigen: ‚Ihr nehmt mich nicht auseinander.‘“

„Der Kritiker oder Zuschauer ist nicht nur ein Freund des Singenden, sondern der notorische Feind.“

Den Sängerinnen und Sängern habe er daraufhin gesagt: „Ich gucke euch an, und auch der Kritiker oder Zuschauer ist nicht nur ein Freund des Singenden, sondern der notorische Feind. Das ist meine etwas pathologische Haltung zu Zuschauern und Kritikern.“ Das Entscheidende sei, vorn an der Rampe zu stehen und diesem Gesang zuzuhören. Und dann entstehe, freut sich der Regisseur schon jetzt, bei vielen Zuschauern der Eindruck: „Ist der Castorf jetzt völlig krank geworden? Dem fällt ja gar nichts mehr ein.“ Doch nach dem Prolog komme die Handlung „langsam in eine spielerischen Realismus“.

Nach der einzigen Familienszene Godunows im Stück, im Anschluss an den Prolog, „fängt etwas Shakespearehaftes an, außerhalb von Raum und Zeit“, erzählt der Regisseur weiter: „Der falsche Dmitri und sein Gegenspieler Boris Godunow begegnen sich in der ganzen Oper nicht ein einziges Mal. Aber das Gerücht ist immer im Raum. Das ist grandios.“ Mussorgski erzählt von der historischen Person Boris Godunow (1552-1605), der den Thronerben Dmitri, den Sohn Iwan des IV., des Schrecklichen, ermorden ließ, um selbst Zar zu werden. Er war von Intriganten und Feinden unter den Bojaren umgeben, den Adligen. Sein größter Gegenspieler ist ein junger Mönch, ein „falscher Dmitri“, der sich als Thronerbe ausgibt und – instrumentalisiert von einer polnischen Bojarentochter und den Jesuiten – auch Zar wird, bevor er dem Volkszorn zum Opfer fällt. Das Geschehen fällt in die Zeit zwischen dem Tod Iwan des Schrecklichen 1598 und Michael I., der 1613 zum ersten Zaren der Romanow-Dynastie gekrönt wird. Sie ging als „Zeit der Wirren“ in die russische Geschichte ein.

„Lesen Sie mal die ‚Russische Geschichte‘ von Nikolai Karamsin.“

Und warum das alles? Welche Bezüge zur aktuellen Lage sind entscheidend? „Es ist wichtig, sich nochmal mit Russland zu befassen, dem wir auch viel zu verdanken haben. Der 8. Mai, lange der Tag der Niederlage‘ von Nazi-Deutschland, wird jetzt immer mehr ein ‚Tag der Befreiung‘, der bereits 1949 in der DDR ein Staatsfeiertag war“, sagt Castorf, „viele Dinge, die 17 Millionen Menschen positiv oder negativ geprägt haben in ihrem Bewusstsein und ihrer jetzigen Haltung, werden vergessen. Wenn man so selbstbewusst andere vergisst und so tut, als sei ganz Ostdeutschland ein großes Bundesland, dann muss man sich über bestimmte Entwicklungen nicht wundern“, findet der streitbare Regisseur.

In der Oper werde deutlich, wie Russland in jener Epoche erst zum Zarenreich werde. Die Großfürsten Moskaus, die sich „beginnend mit Iwan dem Dritten immer weiter ausbreiten, dazu gehören die Kämpfe mit Schweden, mit Litauen, mit Polen, mit dem osmanischen Reich. Es geht darum, daran zu denken, woher etwas kommt.“ Die Gesellschaft sei „so geschichtsvergessen, dass wir nur den Status Quo zur Kenntnis nehmen. Doch die Zukunft ist ohne die Vergangenheit nicht denkbar.“ Viele junge Leute hätten ja keine Ahnung – „lesen Sie mal die ‚Russische Geschichte‘ von Nikolai Karamsin, Puschkins Grundlage für sein Drama. Das ist eine Qual, aber wenn man sie gelesen hat, lebt man hinterher besser.“

„Das ist eine Intrige, die wir in den Niederungen der Subkultur jeden Tag erleben.“

Mussorgski erzählt in Versatzstücken zwei Geschichten „wie in einem guten Film“. Das ist die Geschichte von Boris Godunow, der wie Peter der Große als russischer Herrscher für die Öffnung zum Westen steht, der den Handel belebt, der Italiener und Deutsche nach Russland holt. Und da ist zudem jene seines Gegners, nämlich des falschen Dmitri: „Deshalb habe ich für mehrere Szenen mit Dmitri und der polnischen Adeligen Marina Mnischek den Stummfilm mit Puschkin-Zitaten als Mittel gewählt. Ihr ist das Bojarentum zu klein, sie braucht den Thron des Dritten Roms – in dieser Zählweise kommt erst Rom, dann Konstantinopel und jetzt Moskau als Machtzentrum des riesigen russischen Reiches.“

Marina ist bereit, alles für die Macht zu tun: Sie wird auch Zarin, bevor Dmitri dem Volkszorn zum Opfer fällt. Sie wird auch einen zweiten Dmitri heiraten. „Das ist eine Intrige, die wir, steigen wir in die Niederungen der Subkultur, jeden Tag erleben. Das ist wie beim ehemaligen Außenminister und seiner Schauspielerin, die jetzt gerade nach sieben Jahren ihre Trennung bekannt gegeben haben. Das war so schön, einen eleganten Nichtswisser zu haben, einen Außenminister und eine mittelmäßige Fernsehschauspielerin.“

„Ich habe ja nun mal so einen forcierten Eklektizismus.“

Von „solchen Versatzstücke mit solch einer Musik“ schwärmt Frank Castorf und betont: „Wichtig ist auch: Hier ist auch die Volksmusik mit drin. Das ist, was ich liebe und wie ich Theater mache. Ich habe ja nun mal so einen forcierten Eklektizismus.“ Die Idee des Bühnenbilds, gestaltet von Castorfs langjährigem Mitstreiter, dem Bühnenbildner Alexsandar Denic, solle den Einfluss der Bauhaus-Architektur zeigen. Man sieht Atom-U-Boote der baltischen Flotte. und auch eine Kirche, die durch die Statuen der stalinistischen Filmindustrie aus den 30er-Jahren ersetzt wird, Bauer und Bäuerin, Arbeiter, Hammer und Sichel. „Zum Schluss kommt etwas, was ich nicht verraten werde, kurz bevor der Zar Boris, vielleicht als Geisteskranker oder mit einem Blutsturz, endet“, so Castorf.

Nicht nur das Bühnenbild, auch die Kostüme dienen der Erinnerungsreise: Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki hat Godunow eine Stalinähnlichkeit verliehen mit einer Pfeife und dem Jackett, das Stalin trug. Für den Regisseur wirft das Fragen auf: „Boris und Stalin, was ist die Vergangenheit, was die Gegenwart, was die Zukunft? Wie viel Vergangenheit ist in Väterchen Putin drin? Und wie viele Menschen in Russland sehnen sich nach einer Großmacht?“

„Wir haben viele Chorsänger aus Polen, Russland, der Ukraine und Deutschland.“

Viele seiner Freunde in Russland, die verschiedensten Berufen arbeiteten, seien Putinisten, erzählt Castorf. Man unterschätze das, „weil wir immer nur die Dissidenten kennen, unsere Lieblinge, die haben manchmal die Mentalität amerikanischer Streikbrecher. Die Ukraine war immer ein Spielball zwischen Polen, den Deutschen, Litauen.“ Castorf denkt mit Blick auf die Ukraine auch an Unabhängigkeitsbewegungen in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel die anarchistische Bewegung von Nestor Machno, der 1934 im Pariser Exil an Tuberkulose starb. „Ich habe dazu auch eine Haltung, aber die kann nicht einfach sein: Ich erkläre Russland den Krieg“, so Castorf, der auch an den Holodomor erinnert, den ‚Mord durch Hunger‘ in der Ukraine, bei dem Stalin vier Millionen Menschen umbrachte.

Die Zusammenarbeit an der Staatsoper, mit vielen Mitwirkenden aus den verschiedenen Kulturnationen, ist nach Angaben des Regisseurs allerdings völlig unproblematisch. Frank Castorf sagt dazu: „Wir haben viele Chorsänger aus Polen, Russland, der Ukraine und Deutschland im Chor, die arbeiten in der Kunstarbeit, einem Modell freier Arbeit, wie Schiller sagt: ‚Nur beim Spiel bin ich frei und ganz Mensch‘ zusammen, und ich habe da noch nie eine Spannung oder politische Unterstellung gesehen.“

„Boris Godunow“, Premiere am 16. September um 18 Uhr; im Rahmen des Binnenalster Filmfestes ab 20.15 Uhr auf einer Kinoleinwand am Jungfernstieg. Der Bezirk Harburg zeigt die Premiere ab 20.30 Uhr auf dem Rathausplatz Harburg.