Die Frau, die Weihnachten erbte
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Die Frau, die Weihnachten erbte

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Der Film, der den Durchbruch brachte: "White Christmas", 1954 gedreht, gab dem Sänger und Schauspieler Bing Crosby die Chance, den gleichnamigen Irving-Berlin-Hit zu popularisieren. Von links:  Bing Crosby (1903 - 1977), Rosemary Clooney (1928 - 2002), Vera-Ellen (1921 - 1981), und Danny Kaye (1913 - 1987).
Der Film, der den Durchbruch brachte: "White Christmas", 1954 gedreht, gab dem Sänger und Schauspieler Bing Crosby die Chance, den gleichnamigen Irving-Berlin-Hit zu popularisieren. Von links: Bing Crosby (1903 - 1977), Rosemary Clooney (1928 - 2002), Vera-Ellen (1921 - 1981), und Danny Kaye (1913 - 1987). © Getty

Mary Ellin Barrett ist die Frau, der der erfolgreichste Weihnachtssong aller Zeiten gewidmet ist: Ihr Vater Irving Berlin komponierte "White Christmas". Sebastian Moll erzählt die Geschichte der New Yorkerin.

Irgendwann am Heiligabend, wenn der Festtagsschmaus verzehrt und der Punsch in die Glieder gefahren ist, kommt bei den Barretts unweigerlich der Moment, an dem Großmutter Mary Ellin sich ans Klavier setzt. Ihre beiden Schwestern und die Familien ihrer drei Töchter werden sich dann um sie scharen und ihr andächtig lauschen, wie sie mit ihrer noch immer glasklaren Stimme Amerikas liebstes und erfolgreichstes Weihnachtslied aller Zeiten intoniert: "I'm dreaming of a White Christmas."

Die Vorfreude auf diesen Augenblick, an dem sie mit ihrer Familie das Lied singt, das ihr Vater Irving Berlin vor 66 Jahren nicht zuletzt für sie und ihre Schwestern geschrieben hat, kann Barrett eine Woche vor Weihnachten nur schwer verbergen. Ihre ansonsten makellose Aussprache wird am Telefon undeutlich, sie bekommt einen Kloß in den Hals.

Dabei wirkt Mary Ellin Barrett gewöhnlich ausgesprochen reserviert. Private Fragen wehrt die 82-jährige ehemalige Journalistin und Schriftstellerin, die zurückgezogen in ihrem New Yorker Apartment im Greenwich Village lebt, beinahe barsch ab. Dass sie sich zu einem Telefonat bereiterklärt hat, ist schon ungewöhnlich. "Es geht doch nicht um mich", sagt sie barsch, wenn man etwa wissen möchte, womit sie ihre Tage verbringt.

Die perfekte Komposition

Wenn es um ihren Vater und um "White Christmas" geht, dann taut sie auf. "White Christmas ist die perfekte Komposition", schwärmt sie, als sei sie immer noch das kleine Mädchen, das seinen Vater anhimmelt. "Es ist mein Lieblingslied, seit ich es zum allerersten Mal gehört habe. Ich bin wahnsinnig stolz darauf".

Dazu hat sie auch allen Grund. Die 32 sehnsüchtigen Takte, die von einer verschneiten Märchenlandschaft und einer besseren Vergangenheit schwärmen, sind unangefochten der Hit aller Hits. 31 Millionen Mal hat sich der Song alleine in der Originalversion von Bing Crosby verkauft - in der ewigen Hitparade getoppt nur von Elton Johns Ode an Prinzessin Diana "Candle in The Wind '97". Alle Crosby-Fassungen von White Christmas zusammen wurden 70 Millionen Mal verkauft - einsamer Weltrekord. Der erfolgreichste Beatles-Song "I want to hold your hand" hat es nur auf zwölf Millionen Käufer gebracht.

Video: "White Christmas", gesungen von Bing Crosby

Mary Ellin Barrett hat das Lied, das nicht eben unwesentlich zu ihrem lebenslangen Wohlstand beigetragen hat, zum ersten Mal gehört, als es schon ein Hit war. Irgendwann im Winter 1942/1943 muss das gewesen sein, glaubt sie. 16 Jahre alt war sie damals, und der Song lief auf jeder Party. Zuhause hatte Mary Ellin von dem Lied hingegen nichts mitbekommen. Irving Berlin komponierte manisch, da fiel "White Christmas" nicht weiter auf. Tausende von Melodien flossen aus seiner Feder, mehr als 800 wurden aufgenommen. Unglaubliche 451 davon wurden Hits.

Die Idee stand auf einem Zettel

Nacht für Nacht, schreibt der Musik-Journalist Jody Rosen in seinem Buch "White Christmas", saß Berlin bis zum Morgengrauen an seinem Piano, das mit einer speziellen Kupplung versehen war, weil er nie korrekt zu spielen gelernt hatte. Dass sie bei der Entstehung von "White Christmas" unwissentlich eine wichtige Rolle gespielt hatte, erfuhr Mary Ellin Barrett erst viel später. Die Idee zu dem Lied war ihrem Vater wahrscheinlich an Weihnachten 1937 gekommen, als er wegen der Dreharbeiten zu seinem Revue-Film "Alexander's Ragtime Band" in Hollywood nicht nach Hause kommen konnte, um mit seiner Familie wie stets die Feiertage im verschneiten Catskill-Gebirge nördlich von New York zu verbringen.

Um ihm das Fest zu versüßen spielte 20th Century Fox-Chef Joseph Schenk Irving Berlin am Heiligabend einen filmischen Weihnachtsgruß seiner Töchter vor, den er schon Monate zuvor aufgenommen hatte. Mit Heimweh erfüllt, soll Berlin noch in derselben Nacht die ersten Notizen zu White Christmas auf einen Zettel gekritzelt haben.

Der Zettel wanderte allerdings erst einmal in eine große Truhe voller solcher Entwürfe, die in der Ecke von Berlins Arbeitszimmer stand. Erst Anfang 1940 kramte Berlin ihn wieder hervor. Am 8. Januar, erzählte Berlins Assistent Helmy Kresa Jody Rosen, stürmte der eigentlich als Langschläfer bekannte Meister morgens um acht aufgekratzt ins Büro seines Musik-Verlages in Manhattan. "Ich möchte, dass du ein Lied aufschreibst, das ich am Wochenende komponiert habe", bedrängte Berlin Kresta übermütig. "Es ist nicht nur das beste Lied, das ich je geschrieben habe. Es ist das beste Lied, das je einer geschrieben hat."

Schwieriger Start für den Welthit

Doch das beste Lied aller Zeiten fand zunächst nur wenige Liebhaber. Als im Sommer 1942 der Film "Holiday Inn" anlief, in dem Bing Crosby den Song gleich zwei Mal singen musste, um ihn auch garantiert zum Schlager zu machen, nahm kaum jemand Notiz davon. Erst im Oktober brachen plötzlich die Dämme. Der Erfolg hatte so lange auf sich warten lassen, weil der Song einen Umweg genommen hatte. Viel mehr als zuhause schlug White Christmas bei den US-Truppen an der Front ein. Als sie das Lied auf den Soldatensendern hörten und die Platte auf den Grammophonen ihrer Baracken spielten, hatten sie das Gefühl, er sei für sie geschrieben worden. Irving Berlins Weihnachtsheimweh war zum Heimweh jedes GIs der Welt geworden.

Bald wurde "White Christmas" auch in den USA ein Hit. "Ein knappes Jahr nach Pearl Harbor", schreibt Jody Rosen, "hatte sich endlich Amerikas Kriegs-Hymne materialisiert." White Christmas blieb zehn Wochen lang an erster Stelle der Charts. Und an jedem Weihnachten der nächsten 20 Jahre wurde es wieder in der Hitliste geführt. Noch bevor der Krieg vorbei war, hatte das Lied alle traditionellen Weihnachtweisen als nationaler Soundtrack für die Festtage verdrängt. Und das hat sich bis heute nicht geändert.

Die große Ironie dabei ist freilich, dass Irving Berlin als sibirischer Jude geboren wurde. Mary Ellin Barrett, deren Mutter Katholikin war, erinnert sich, dass in ihrem Elternhaus kein Weihnachtsfest vergangen sei, an dem ihr Vater sich nicht an seine Kindheit im Immigrantenghetto Lower East Side erinnerte, wo der Junge, der damals noch Israel Baline hieß, als Sohn eines orthodoxen Kantors aufwuchs. "Mein Vater erzählte gerne, wie er sich auf der Lower East Side zu Weihnachten immer heimlich davon schleichen musste, um bei der irischen Familie gegenüber den Baum zu bestaunen und um von ihren unkoscheren Leckereien zu naschen." Zeit seines Lebens, erzählt Mary Ellin Barrett weiter, sei ihr Vater an Weihnachten ein staunender Außenstehender geblieben: "Er blieb immer ein neugieriger Besucher, der sich zwar bestens amüsiert, der aber nicht so richtig versteht, was das alles soll."

Die Familie war nie religiös

Diese Faszination des Außenseiters war wohl auch dafür verantwortlich, dass bei den Berlins Weihnachten immer besonders opulent gefeiert wurde. "Der Baum musste immer bis unter die Decke gehen", erinnert sich Mary Ellin Barrett. Vor allem erinnert sie sich jedoch an diese "riesigen Strümpfe", in denen amerikanische Kinder immer ihre Weihnachtsgeschenke in der Heiligen Nacht an die Tür gehängt bekommen.

Eines war das Familienfest jedoch nie - religiös. "Wir sind nie in die Kirche gegangen. Meine Eltern waren beide Agnostiker." So hat auch "White Christmas" nicht den geringsten religiösen Bezug.

Der Jude Irving Berlin hat mit "White Christmas" Weihnachten entchristianisiert. Das gleiche gelang ihm 1948 mit der Fred Astaire Tanzrevue "Easter Parade", zu der er ebenfalls die Musik schrieb, auch noch mit Ostern. Der Schriftsteller Philip Roth preist deshalb Berlin als "jüdisches Genie". "Gott hat Moses die Zehn Gebote gegeben und Irving Berlin White Christmas sowie Easter Parade", schreibt Roth in seinem Roman Operation Shylock. "Berlin hat Religion in Kitsch verwandelt und alle lieben ihn dafür - sowohl die Goyim, als auch die Juden."

Berlin war allerdings nicht der einzige jüdische Entertainer, der den amerikanischen Mainstream so geschickt infiltrierte. Zwischen den Weltkriegen und bis in die Sechziger Jahre hinein spielten jüdische Komponisten von Berlin über George Gershwin bis hin zu Rogers and Hammerstein, Lorenz Hart und Frederick Lowe eine dominante Rolle in der amerikanische Pop-Kultur. Kaum ein Musical wurde nicht von Juden geschrieben. Osteuropäische jüdische Einwanderer, so Rosens Erklärung für diese Ära des Pop, hatten einen besonders großen Assimilationsdrang und Musik, zentraler Bestandteil der jüdischen Kultur, drängte sich als Mittel dazu auf. Das Komponieren von Schlagern war der Weg heraus dem Ghetto und hinein in die bürgerliche Mittelschicht.

Irving Berlin, der schon mit zwölf Jahren, bevor es Radio gab, für ein Handgeld von Musikverlagen an New Yorker Straßenecken Gassenhauer sang und später zum Multimillionär wurde, war jedoch zweifellos der Musterknabe dieser Bewegung.

Wenige erinnern sich an jüdische Stars

Heute kennt kaum mehr jemand die jüdischen Stars jener Zeit. Die 60er Jahre leiteten eine neue Ära der Pop-Kultur ein, in der die Neigung der Immigranten zur Gefälligkeit und zur Anpassung keinen Platz mehr hatte. Die letzten 30 Jahre seines Lebens, Irving Berlin starb 1989 im Alter von 101 Jahren, verbrachte Berlin meistens ohne Arbeit, einsam und oft depressiv in seiner eleganten Villa am East River. "White Christmas" läuft zwar bis heute zur Weihnachtszeit in irgendeiner der Hunderten von Versionen in jedem Starbucks und in jedem Kaufhaus. Wer den Song geschrieben hat, weiß hingegen kaum jemand mehr.

Eine kleine Gemeinde eingeschworener Berlin-Verehrer gibt es allerdings noch. Am Nachmittag des 24. treffen sich einige von ihnen vor der Tür seines ehemaligen Wohnhauses am Beekman Place in New York und singen gemeinsam "White Christmas". Mary Ellin Barrett wird auch da sein und ihre sechs Enkelinnen mitbringen. Und vielleicht schneit es ja sogar.

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