Pierre Bourdieu: Habitustheorie

Pierre Bourdieu: Habitustheorie

Pierre Bourdieu (1930–2002) geht bei seiner Erklärung der Kulturen und Lebensweisen moderner Gesellschaften im Wesentlichen von Klassenstrukturen aus. Die zentralen Unterschiede der Lebensgestaltung moderner Menschen sind demnach Differenzen zwischen Klassenkulturen (Bourdieu 1979, 1982,1985, zusammenfassend: Fröhlich und Rehbein 2009; Krais 1983; Krais und Gebauer 2002; Müller 1985, 1992, S. 238 ff.).

Ausgangspunkt von Bourdieu ist die ungleiche Verteilung von drei Ressourcenarten[1] unter der Bevölkerung: ökonomisches Kapital, kulturelles oder Bildungskapital und soziales Kapital, das im Prinzip auf soziale Beziehungen und Netzwerke abstellt. Je nachdem, wie viel Kapital die einzelnen Menschen insgesamt besitzen, stehen sie höher oder tiefer in der Klassenordnung. Sie gehören der Arbeiterklasse, dem Kleinbürgertum oder der Bourgeoise an. Je nach Zusammensetzung und Zukunftstauglichkeit ihres Kapitalbesitzes ordnet Bourdieu die Mitglieder des

Tab. 9.1 Die Klassenstruktur nach Pierre Bourdieu. (Quelle: eigene Darstellung)

Bildungsbürgertum (Hochschullehrer, Kunstproduzenten)

Besitzbürgertum (Unternehmer)

Neues Kleinbürgertum (Werbefachleute, Journalisten, Lehrer)

Exekutives Kleinbürgertum (Büroangestellte, Meister, Techniker)

Absteigendes Kleinbürgertum (Handwerker, Kleinunternehmer)

Arbeiterklasse

(Vorarbeiter, Facharbeiter, anund ungelernte Arbeiter)

Bürgertums und Kleinbürgertums zusätzlich horizontalen Klassenfraktionen zu (Tab. 9.1).

Das Aufwachsen innerhalb der jeweiligen Lebensbedingungen bestimmter Klassen lässt Bourdieu zu Folge klassenspezifische Habitusformen entstehen. Dies sind Denk-, Wahrnehmungs-, Beurteilungsund Handlungsschemata, die den Menschen weitgehend unbewusst bleiben. Sie begrenzen einerseits ihre Möglichkeiten alltäglichen Verhaltens. Andererseits bringen sie in diesem Möglichkeitsraum eine Fülle von Handlungsformen hervor.

So entsteht nach Bourdieu der Habitus der Arbeiterklasse in einer Lage harter Notwendigkeiten. Sie ziehen ein weitgehendes Funktionsdenken und eine Kultur des Mangels nach sich. Dies äußert sich etwa in Kleidungskäufen und Wohnungseinrichtungen, wo Kriterien des Preises, der Haltbarkeit und des Nutzens ästhetischen Kriterien übergeordnet sind. Während also der Habitus der Arbeiterklasse ein Sich-Einrichten in gegebenen Verhältnissen nahelegt, ist der Habitus des Kleinbürgertums entsprechend seiner Mittellage auf sozialen Aufstieg ausgerichtet. Die ehrgeizige, teils ängstliche, teils plakative Erfüllung vorgegebener kultureller Normen dominiert, auch in Fragen der Bildung und des Geschmacks. Der Habitus des Kleinbürgertums konzentriert sich auf das angestrengte Bemühen, das „Richtige“ zu tun. Nach Bourdieu ermöglicht hingegen der Habitus des Bürgertums, sich in Kenntnis der „richtigen“ kulturellen Standards über diese zu erheben, einen eigenen Stil zu entwickeln, diesen als gesellschaftliche Norm zu propagieren und kulturell durchzusetzen. Das Kleinbürgertum ist wiederum darauf angewiesen, dieser neuen Orthodoxie gerecht zu werden. Die Arbeiterklasse verharrt hingegen in ihrer Kultur des Mangels. Somit reproduziert sich die Herrschaft der Bourgeoise auf kulturelle Weise. Wie umfassend sich diese Habitusformen auswirken, zeigt sich im Alltagsverhalten und in den kulturellen Vorlieben der Menschen. So unterscheiden sich nach Bourdieu die sozialen Klassen und Klassenfraktionen im Hinblick auf Wohnungseinrichtungen, Sportarten, Kleidung, Ernährung, bevorzugten Sängern und Musikwerke, favorisierten Gemälden und Malern, der Häufigkeit von Museumsbesuchen, der Kenntnis von Komponisten und Ähnliches.

Zusammen mit der Wertewandeltheorie von Ronald Ingelhart und der Individualisierungstheorie von Ulrich Beck ist die Habitustheorie von Pierre Bourdieu zu einer der bekanntesten Erklärungen zur Entstehung von Denkund Verhaltensweisen in modernen Gesellschaften geworden. So hat sich die Habitustheorie in vielen Studien und in ganz unterschiedlichen Bereichen als fruchtbar erwiesen wie zum Beispiel in der Sozialstrukturanalyse (Vester et al. 2001), in der Frauenund Bildungsforschung (Krais 1983, 1993, 2000, 2001) sowie in Analysen zur Kunst und Literatur (Lahire 2011; Munder und Wuggenig 2012). Dennoch lassen sich nicht alle Ergebnisse in Nachfolgeuntersuchungen bestätigen und auch einige der theoretischen Annahmen werden für überzogen angesehen (Blasisus und Winkler 1989; Eder 1989; Schulze 1992). So unbewusst angeeignet, so unausweichlich einstellungsprägend, so zählebig anhaftend, in allen Lebensbereichen verhaltensregulierend und für große Gruppen übereinstimmend sind klassenspezifische Habitusunterschiede nicht, zumindest nicht gegenwärtig und nicht in Deutschland. Neuere Nachprüfungen der Daten Bourdieus kamen zu dem Ergebnis, dass zwar die Unterschiede hochkultureller Verhaltensweisen (Musik, Bildende und Darstellende Künste etc.) der Menschen mit ihrer Klassenzugehörigkeit und insbesondere mit dem Bildungsgrad weitgehend einhergehen. Dies trifft aber für die Vielfalt des sonstigen Verhaltens weit weniger zu. Hierin macht sich bemerkbar, dass die theoretischen und empirischen Studien Bourdieus im Wesentlichen auf Untersuchungen Frankreichs der 1960er Jahre basieren. Wohlstandsvermehrung, Bildungsexpansion, Wertewandel, Individualisierung sind zu dieser Zeit noch nicht so weit fortgeschritten wie sie in gegenwärtigen Sozialstrukturen nachweisbar sind.

  • [1] Im Prinzip geht Bourdieu von mindestens vier Kapitalsorten aus: ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches. Da die Kapitalsorten abhängig vom Feld sind, gibt es im Prinzip noch mehr Kapitalsorten. So erwähnt Bourdieu etwa das körperliche Kapital, das eine hohe Relevanz auf dem Feld des Sports besitzt.