Sozialpolitik: Andrea Nahles, Deutschlands teuerste Ministerin - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Sozialpolitik: Andrea Nahles, Deutschlands teuerste Ministerin

Deutschland Sozialpolitik

Andrea Nahles, Deutschlands teuerste Ministerin

Arbeitsministerin Andrea Nahles: Ihre Reformen kosten Geld. Überaus viel Geld Arbeitsministerin Andrea Nahles: Ihre Reformen kosten Geld. Überaus viel Geld
Arbeitsministerin Andrea Nahles: Ihre Reformen kosten Geld. Überaus viel Geld
Quelle: dpa
Andrea Nahles (SPD) führte Regie bei Rente und Mindestlohn. Die Arbeitsministerin steht für eine traditionelle, wenig innovative, dafür aber teure Sozialpolitik. Die CDU liebt sie dafür.

„Ich bin keine Ausnahme“ und „Kein Lohn unter 8,50 Euro pro Stunde“ heißt es auf ihren roten T-Shirts. Die Männer von der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt warten im Berliner Hauptbahnhof auf Andrea Nahles (SPD). Sie misstrauen der Bundesarbeitsministerin. Setzt sie wirklich ihr Versprechen vom allgemeinen, flächendeckenden Mindestlohn um?

Die Gewerkschafter wollen an diesem Montagmittag Druck auf Nahles ausüben. Der Mindestlohn ist ein Herzensanliegen der Gewerkschaften, nachdem sie sich jahrelang gegen staatlich verordnete Lohnuntergrenzen gestemmt hatten.

Überpünktlich trifft die Ministerin ein – und entscheidet sich für eine Strategie der Umarmung. Sie begrüßt die Männer freundlich, reicht jedem von ihnen die Hand, hört ihnen zu. Der Mindestlohn werde „ohne Branchen-Ausnahmen“ kommen, sagt Nahles. „Na?“, fragt daraufhin einer der IG-BAU-Kampagneros skeptisch und äußert seine Zweifel über den rechtzeitigen Start des Projektes. „Ab dem 1. Januar 2015“, antwortet die Ministerin und bekräftigt: „Wir kriegen das ohne Ausnahmen hin.“ Ein „erster Schritt“ sei der Mindestlohn, bemerkt ein IG-BAU-Mann gönnerhaft. Nahles verzieht keine Miene. Später verabschiedet sie sich höflich und zieht einige Meter weiter.

Nicht wegen des Mindestlohns nämlich, sondern wegen der Rente ist Nahles in den Hauptbahnhof gekommen. „Das neue Rentenpaket ist da“, verkündet ihr Ministerium auf einer Stellwand. Mitarbeiter haben einen Informationsstand am Ausgang – hübsche Symbolik – Richtung Bundeskanzleramt aufgebaut. Nahles postiert sich vor dem riesigen Transparent. „Mütterrente, Rente ab 63, Erwerbsminderungsrente, höheres Reha-Budget“, zählt die Ministerin all jene Gesetze auf, die zum 1. Juli in Kraft treten: „Zehn Millionen Menschen profitieren davon.“ Am Ende sagt sie: „Wir haben geliefert.“

Renten sind jetzt höher, früher und leichter erreichbar

Geliefert hat sie in der Tat. Höher, früher und leichter erreichbar sind die Renten seit dieser Woche. Mehr Geld werden viele Menschen mit dem am Donnerstag vom Parlament verabschiedeten Mindestlohn ab dem 1. Januar 2015 erhalten. Damit hat die schwarz-rote Regierung ihre beiden (voraussichtlich) größten Sozialprojekte umgesetzt. Der Koalitionsvertrag war das Drehbuch dazu, die Regie führte Andrea Nahles.

Mit ihren milliardenschweren Reformen macht sie sich zur teuersten Ministerin, die Deutschland je hatte. Und zu einer Ministerin, die Junge und Aktive über Jahrzehnte belastet. Die Kosten für die Erleichterungen auf dem Weg in die Rente beziffert ihr Ministerium auf 160 Milliarden Euro; Experten nennen noch höhere Zahlen. Der Mindestlohn ist zwar bei Weitem nicht so teuer, mit rund zehn Milliarden rechnet Nahles’ Ressort.

Aber dass er für die Verbraucher zu spürbaren Preissteigerungen führen kann, gibt Andrea Nahles zu. Es sind die Kosten einer wenig innovativen Sozialpolitik, die Kosten für den konservativen Kurs einer SPD-Politikerin, die von allen für links gehalten wird.

Mehrere Premieren hatte sie zu bestehen. Erstmals ist Nahles Ministerin. Erstmals verhandelte sie mit der CDU/CSU über Gesetze, die sie dann im Parlament einbrachte. Erstmals erfuhr sie heftige Kritik aus unterschiedlichsten Richtungen – nicht zuletzt durch die von ihr seit jeher umgarnten Gewerkschaften. Einen „Flickenteppich“ schalt der Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske den Mindestlohn. Die Linke stieß in dasselbe Horn.

Auch die Union stimmt fast geschlossen für den Mindestlohn

Den Schlussapplaus hat sie sich dennoch gesichert. Im Bundestag stimmten in dieser Woche gerade einmal fünf Abgeordnete der Union gegen das Mindestlohngesetz. Die oppositionellen Grünen trugen das Projekt mit. In seltener Einstimmigkeit votierte die SPD mit Ja. „Wir setzen heute einen Meilenstein in der Arbeitsmarktpolitik“, sagte Nahles. Übertrieben ist das nicht: Der Mindestlohn ist eine Zäsur. Für Nahles ist er ein weiterer Beitrag, SPD und Gewerkschaften, durch Agenda 2010 und Rente mit 67 einst voneinander entfremdet, zu versöhnen.

Anzeige

Und doch bleiben Wunden: Stundenlang telefonierte sie am vorigen Wochenende mit etlichen Gewerkschaftschefs, versuchte ihnen die Ausnahmen beim Mindestlohn zu vermitteln. Ver.di-Chef Bsirske aber ging nicht ans Telefon, und er rief Nahles nicht zurück, erzählen sie in der SPD. Er, der grüne Links-Ausleger mit dem großen Ego, will sich und seine Truppen von der Koalition fernhalten. Nahles wird sich das merken und ließ das Bsirske bereits spüren. Im Bundestag dankte sie dem ehemaligen DGB-Vorsitzenden Michael Sommer, der die Debatte von der Besuchertribüne aus verfolgte. Den neben ihm sitzenden Bsirske ließ Nahles unerwähnt.

Das Rentenpaket hatte noch weit mehr Widerstand ausgelöst als der Mindestlohn, auch wenn sich die meisten Kritiker aus der Union als Maulhelden erwiesen und, abgesehen von elf Aufrechten, am Ende doch zustimmten. Nur die Grünen lehnten das opulente Rentenpaket ab, bemängelten die mangelnde Generationen-Gerechtigkeit; die Linke enthielt sich.

Die Rechnung bekommen Normal- und Geringverdiener

Der schwarz-rote Etatismus ist teuer, vor allem für die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Zahlen müssen primär Gering- und Durchschnittsverdiener – Menschen, die von den gedeckelten Sozialbeiträgen nicht profitieren. Jenen „Lasteseln der Nation“, so hieß es noch vor wenigen Jahren in der SPD, müsse durch sinkende Sozialabgaben Luft verschafft werden. Die Koalition betreibt eine gegenteilige Politik. Zum 1. Januar 2015 steigt der Pflegebeitrag, perspektivisch ebenfalls der Rentenbeitrag.

Dabei spülen bis heute gute Konjunktur und hoher Beschäftigungsgrad hohe Beiträge in die Rentenkasse. Die Beitragszahler hätten vorerst, zum 1. Januar 2014, entlastet werden müssen. Das Gesetz sah das so vor. Die Koalition änderte deshalb das Gesetz, entschied sich gegen alle Sonntagsreden für eine Rentenpolitik nach Kassenlage. Sie beschwört „stabile“ Beiträge, wo der gesetzliche Mechanismus die Sozialabgaben hätte sinken lassen. Andrea Nahles verteidigt diesen Systembruch. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hält sich, wie stets in heiklen Fragen, bedeckt, trägt diese Politik aber mit.

Kein Wunder: Der teuerste Batzen des Rentenpakets, die Mütterrente, war eine Idee der Union, genauer gesagt der CSU. Merkel und Nahles sind sich nun ganz einig, preisen Mütterrente und Rente ab 63 als Errungenschaft. Die rentenpolitische Rolle rückwärts wird schließlich von einer großen Mehrheit des Volkes goutiert.

Merkel hält alles, was populär ist, für sinnvoll. Umso mehr muss Nahles fürchten, den Geldsegen für die Rentner politisch nicht für sich verbuchen zu können. Schon jetzt ist es so: Wer die Rentenpolitik ablehnt, schreibt sie Nahles zu; wer sie begrüßt, dankt der Kanzlerin. Die SPD tröstet sich damit, die Gesetze müssten erst „wirken“, bei den Menschen „ankommen“. Dahinter steckt die Sorge, alles, was man säe, werde eines Tages die Union ernten. Bisher ist es genau so: Umfragen zufolge ist Merkel doppelt so beliebt wie Nahles, die sogar noch hinter Gregor Gysi rangiert, was wirklich ein Kunststück ist. Bei der „Sonntagsfrage“ dümpelt die SPD bei 26 Prozent, weit hinter der CDU/CSU.

Union lobt die soziale Pragmatikerin Nahles

In der Union äußern sie sich geradezu euphorisch über Nahles. Zuverlässig und absprachefest sei sie und vernünftig. Derlei Beschreibungen zeigen, wie groß die Kluft ist zwischen Nahles’ unmittelbarer Wahrnehmung und ihrer öffentlichen Wirkung. Dabei war das Image der linken (gar linksradikalen) Utopistin schon immer falsch. Mit marxistischer Lehre und Juso-Theorieseminaren hat sich Nahles schon zu Beginn ihres politischen Lebens nicht aufgehalten. Sie gründete in ihrem Heimatdorf Weiler (Rheinland-Pfalz) 1989 einen SPD-Ortsverein, saß lange im Kreistag, lernte also Politik dort, wo es praxisnah und pragmatisch zugeht.

Anzeige

Innerhalb der Jungsozialisten verortete sie sich links, das war erstens Masche und hatte zweitens Aussicht auf Erfolg. Im Jahr 1995 übernahm sie deren Vorsitz, kooperierte eng mit dem SPD-Chef Oskar Lafontaine, der sie ein „Gottesgeschenk“ nannte und der damals so links gar nicht war.

Nahles ist in mehrfacher Hinsicht konservativ, manche in der SPD halten sie für geradezu bieder. Modernität, Innovation, Internationalismus oder Emanzipation verkörpert sie nicht. Sie symbolisiert den versorgenden Sozialstaat. Wie ihr einstiger Widersacher Franz Müntefering und ihr früherer Mitstreiter Kurt Beck ist Nahles vom Katholizismus geprägt; in jungen Jahren wirkte sie als Messdienerin.

Als Papst Franziskus im April seine zwei Vorgänger heiligsprach, saß Nahles im Publikum und vertrat die Bundesregierung. Es war für sie mehr als ein Pflichttermin. Zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Ehemann Marcus Frings, einem Kunsthistoriker, lebt sie in dem Haus ihrer Großeltern in der Vulkaneifel, wo man Dialekt spricht und Brot selbst backt. Die Großstadt ist ihr fremd geblieben, im Ausland hat sie nie gelebt.

Nahles leidet mit Steinmeier an Gabriels Sprunghaftigkeit

Zum Germanistik-Studium war Nahles nach Bonn gegangen. Der damalige Regierungssitz liegt nahe ihrer Heimat. Außerdem konnte sie noch vor den Vorlesungen in der SPD-„Baracke“ oder dem Bundestag vorbeischauen. Nahles knüpfte viele, viele Kontakte, die bis heute halten. Keiner der führenden Sozialdemokraten ist so gut vernetzt wie sie. Das politische Geschäft von Leistung und Gegenleistung beherrscht Nahles. Empathisch erkennt sie die Bedürfnisse des Gegenübers, undogmatisch geht sie darauf ein.

Selbst ihre Widersacher lassen auf Nahles’ Zuverlässigkeit nichts kommen. Peer Steinbrück etwa hatte sich immer wieder mit Nahles angelegt, ätzende Worte ließ er öffentlich fallen. Als Kanzlerkandidat lernte er dann ihre Kollegialität kennen. Frank-Walter Steinmeier und Nahles, politisch, kulturell und habituell weit voneinander entfernt, arbeiten lange vertrauensvoll zusammen. Beide leiden unter der Sprunghaftigkeit Gabriels. Als Generalsekretärin blieb Nahles dem SPD-Vorsitzenden gegenüber loyal, manchmal bis zur Selbstverleugnung.

Selbst ehemalige Mitarbeiter lassen auf Nahles nichts kommen. Ihr riesiges Ministerium führt sie kooperativ, konsultiert die Abteilungen und verlässt sich nicht nur auf ihr Leitungsteam. Auf dem Sommerfest in dieser Woche äußerte sich mancher erleichtert; vorbei sei die Closed-Shop-Mentalität von Nahles’ Vorgängerin Ursula von der Leyen (CDU), deren Abschottung nur noch von Franz Müntefering überboten worden war.

Die sozialkonservative Pfälzerin liebt das offene Wort

Doch ausgerechnet innerhalb der SPD stößt Nahles stets auf Misstrauen. Ihre Wahlergebnisse auf Parteitagen sind allenfalls mittelmäßig. Mit zuweilen arg unbefangenen Auftritten, etwa mit einer peinlichen Gesangseinlage am Parlaments-Pult, mobilisiert Nahles immer wieder Skepsis. Laut und herzlich kann Nahles lachen und fluchen, ihre Wortwahl ist zuweilen derb. Sie bemüht dabei das offene Wort. Intrigantentum liegt ihr fern.

Mit Gabriel sitzt sie nun nicht mehr im Willy-Brandt-Haus, dafür aber am Kabinettstisch. Formal erfüllte Gabriel Nahles den langjährigen Wunsch, Arbeitsministerin zu werden; manchmal lässt er sie das spüren. Als sozialpolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist sie mit den fachlichen Fragen seit vielen Jahren betraut, zudem entspricht das Ressort ihrem sozialpolitischen Konservatismus. Das innovativere – und weniger mächtige – Bildungsministerium hätte Nahles niemals gereizt.

Die Neigung der Koalition zum Verteilen wird mit dem Rentenpaket kaum beendet sein. Mancher aber, der als Verteilungspolitiker startete, musste sich eines Tages eines Besseren besinnen. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten kann die Demokratie ihre Kritikfähigkeit als Stärke ausspielen. Der letzte sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder tat dies, nachdem er in seiner ersten Amtszeit großzügig verteilt hatte. Müntefering galt in dieser Phase als sozialpolitischer Betonkopf, bis er mutig Konsequenzen aus demografischen Notwendigkeiten zog. Beide agierten nicht immer geschickt, aber: Sie führten. Nahles musste der eigenen Klientel bisher noch nie etwas abverlangen. Diese wahrhaft politische Herausforderung liegt noch vor ihr.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema