BMF-Monatsbericht Februar 2024 - Ist die Schuldenbremse noch zeitgemäß?
Herunterladen

BMF-Monatsbericht Februar 2024

Inhalt

Ist die Schuldenbremse noch zeitgemäß?

22.02.2024

Prof. Dr. Dr. h. c. Lars P. Feld ist Persönlicher Beauftragter des Bundesministers der Finanzen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF.

Er hat seit 2010 den Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg inne und ist Direktor des Walter Eucken Instituts. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschaftspolitik, Finanzwissenschaft, Neue Politische Ökonomie und Ökonomische Analyse des Rechts.

Der Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. h. c. Lars P. Feld für diesen BMF-Monatsbericht ist als Blick von außen und als Beitrag zum allgemeinen Diskurs zu verstehen; er gibt nicht notwendigerweise die Meinung des BMF wieder.

Einleitung

In der aktuellen politischen Debatte um die Schuldenbremse scheint das Narrativ vorzuherrschen, dass beobachtete Missstände in Deutschland allein durch die Schuldenbremse bedingt seien. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf eine unzureichende öffentliche Infrastruktur: Marode Brücken, Schlaglöcher in den Straßen, Verspätungen bei der Bahn und undichte Dächer von Schulgebäuden dienen zur Illustration der Versäumnisse einer Finanzpolitik, die durch die Schuldenbremse vermeintlich zu sehr restringiert ist. Zugleich erscheinen Zielsetzungen zukünftiger Finanzpolitik, etwa für den Klimaschutz oder die Landesverteidigung, bei Einhaltung der Schuldenbremse vielen im politischen Raum nicht realisierbar. Die Schuldenbremse verhindere so „Zukunftsinvestitionen“ und sei ein Sicherheitsrisiko für Deutschland.

Die Schlichtheit dieses Narrativs vernachlässigt zeitliche Aspekte genauso wie die Verfasstheit des deutschen Bundesstaats, statistische Abgrenzungen oder haushaltsrechtliche Aspekte. Man mag den an der Diskussion beteiligten Ökonominnen und Ökonomen nachsehen wollen, dass sie keine halbjuristische Expertise mitbringen. Ein wenig mehr Institutionenkenntnis könnte gleichwohl zur Sachlichkeit in der Diskussion beitragen.

Zum Seitenanfang

Klärungen institutioneller Rahmenbedingungen

Die Schuldenbremse wurde im Jahr 2009 durch Änderung des Art. 115 und Art. 109 Grundgesetz (GG) eingeführt. Von 2011 bis 2016 konnte sich der Bund in einer Übergangszeit mit der Einhaltung der Regelgrenze der Schuldenbremse vertraut machen. Danach soll das strukturelle Defizit des Bundes 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht mehr überschreiten. Die Konjunkturkomponente ermöglicht es dem Bund seither, normale konjunkturelle Schwankungen in seinem Haushalt in einem bestimmten Umfang zu berücksichtigen. Finanzielle Transaktionen sind nicht schuldenbremsenwirksam. Die ab dem Jahr 2011 eingerichteten Sondervermögen des Bundes unterliegen der Schuldenbremse vollumfänglich. Bei exogenen Schocks, etwa Naturkatastrophen oder anderen Ereignissen, die sich der Kontrolle des Staats entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die staatliche Finanzlage haben, kann sich der Bund höher verschulden, ist aber verpflichtet, diese zusätzliche Verschuldung in angemessener Zeit und in angemessenem Umfang formal zu tilgen. Der Bund hat die Ausnahmeregel der Schuldenbremse von 2020 bis 2023 genutzt.

Die Länder haben ähnliche Regelungen, müssen aber einen strukturell ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Zudem galt die Übergangsfrist zur Einhaltung der Schuldenbremse für die Länder bis zum Jahr 2020. Seither nutzen die Länder die Ausnahmeregel ihrer Schuldenbremse, einige im Unterschied zum Bund zudem noch im Jahr 2024. Die Länder unterlagen der Regelgrenze der Schuldenbremse bisher also noch nicht wirklich.

Die Gemeinden als Teil der Länder sind wie die Sozialversicherungen von der Schuldenbremse nicht erfasst. Sie können sich in Höhe ihrer Investitionen verschulden, sofern die Finanzlage dies zulässt. Letzteres ist zudem wesentlich für die kommunalen Möglichkeiten zur Aufnahme von Kassenverstärkungskrediten.

Da die Bundesrepublik Deutschland die Fiskalregeln der Europäischen Union, also den Stabilitäts- und Wachstumspakt und den Fiskalpakt, einhalten muss, besteht vor der anstehenden Reform dieser Regeln ein gesamtstaatlicher struktureller Verschuldungsspielraum in Höhe von 0,5 Prozent des BIP. Im Zusammenspiel von nationaler Schuldenbremse und europäischen Fiskalregeln haben die Gemeinden somit in ihrer Gesamtheit einen Verschuldungsspielraum von 0,15 Prozent des BIP.

Diese knappe Darstellung institutioneller Rahmenbedingungen deutet erstens auf die bundesstaatliche Verfasstheit Deutschlands hin. Dies hat Bedeutung für die Diskussion um öffentliche Investitionen. Die Gemeinden (damit sind in der haushaltspolitischen Diskussion immer zugleich die Städte und Landkreise gemeint) schultern gut die Hälfte der öffentlichen Investitionstätigkeit. Die Brutto- und Nettoinvestitionen der Gemeinden sind seit der Deutschen Einheit zurückgegangen. Seit Einführung der Schuldenbremse hatten die kommunalen Investitionen stagniert und haben sich erst vor gut fünf Jahren etwas erholt, während Bund und Länder seit dem Jahr 2010 allenfalls einen leichten Anstieg ihrer Investitionstätigkeit (in Prozent des BIP) aufweisen. Dies deutet darauf hin, dass Probleme unzureichender Investitionen auf der kommunalen Ebene tiefer liegen könnten und mit der Schuldenbremse möglicherweise wenig zu tun haben.

Dies gilt insbesondere, weil sich die Gemeinden grundsätzlich weiterhin in Höhe ihrer Investitionen verschulden können und damit nicht unmittelbar von der Schuldenbremse erfasst sind. Als Teil der Länder könnten die Gemeinden mittelbar aufgrund einer zu großen Restriktionswirkung ihrer Schuldenbremsen betroffen sein. Dafür spricht jedoch wenig, nicht zuletzt, weil die Länder angesichts der Übergangsregelung bis 2020 und der seither genutzten Ausnahmeregelungen noch nicht der Regelgrenze ihrer Schuldenbremsen unterlegen waren.

Hinzu kommen die Verzerrungen in der statistischen Erfassung öffentlicher Investitionen. So werden die in privaten Unternehmen, die Bund, Länder oder Gemeinden als Eigentümer haben, getätigten Investitionen in der Regel nicht dem öffentlichen Sektor, sondern dem Unternehmenssektor zugerechnet. Systematisch erfasst sind diese nicht. Einfache Erhaltungsinvestitionen werden zumindest teilweise als öffentlicher Konsum verbucht. Schließlich dürfte die demografische Fehlprognose zur Bevölkerungsgröße Deutschlands eine gewisse Rolle spielen: Zu Beginn dieses Jahrtausends gingen Bund, Länder und Gemeinden von einer Schrumpfung der Bevölkerung aus; sie unterschätzten somit die Migration. Dies hatte Auswirkungen auf die zur Verfügung gestellten Kapazitäten, sodass nun Nutzungsengpässe auftreten.

Zum Seitenanfang

Gründe für eine Schuldenbremse

Entgegen der zuweilen anzutreffenden Behauptung ist die Schuldenbremse nicht einfach das Ergebnis der Finanzkrise. Die Diskussion um eine Reform von Art. 115 GG a. F. datiert deutlich früher. Der Entwurf einer neuen Regelung durch das BMF, der schon deutlich vor der Verabschiedung der Schuldenbremse im Jahr 2009 vorgelegen hat und beispielsweise in einer Expertenanhörung der Föderalismuskommission II im Juni 2007 debattiert worden ist, zielt auf drei Probleme der Finanzpolitik ab: Erstens war die gesamtstaatliche Schuldenquote Deutschlands (in Prozent des BIP) seit Mitte der 1970er-Jahre im Trend angestiegen. Konsolidierungsphasen führten nur zu Stabilisierungen der Schuldenquote, ohne den Trend umzukehren. Zweitens drohte angesichts der demografischen Transformation eine nennenswerte Belastung der Bundes- und Landeshaushalte. Drittens hatten seit den 1990er-Jahren verschiedene Länder, namentlich das Saarland, Bremen und Berlin, extreme Haushaltsnotlagen für sich reklamiert, in den ersten beiden Fällen waren diese zudem durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt worden. Diese drei Problemkreise sollten durch eine Reform adressiert werden.

Die damalige Reformdiskussion um Art. 115 GG a. F. nahm drei Aspekte in den Blick, die es zu korrigieren galt: Die Investitionsorientierung von Art. 115 GG  a. F. erschien aufgrund der bestehenden Abgrenzungsproblematik zu anderen Staatsausgaben als zu wenig praktikabel. Grundsätzlich ist eine Aufteilung in „gute“ (weil produktive) und „schlechte“ (weil konsumtive) Ausgaben problematisch. Wenn der Staat tut, was er aus ökonomischer Sicht soll, nämlich Marktversagen korrigieren, dann liefert er wesentliche Vorleistungen für private Investorinnen und Investoren und Haushalte. Man denke an Bildung, öffentliche Sicherheit oder Rechtssicherheit. In der Tat finden sich in der aktuellen Diskussion häufig Hinweise auf staatliche Tätigkeiten, die nicht gemäß dem gängigen haushaltsrechtlichen Begriff als staatliche Investitionen gelten.

Konjunkturelle Verschuldungsspielräume wurden in Art. 115 GG a. F. außerdem zu pauschal eingeräumt. Eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festzustellen, genügte überwiegend. Erst spät kamen Grenzen hinsichtlich der justiziablen Feststellung einer solchen Störung und der Geeignetheit der zu ihrer Bewältigung ergriffenen Maßnahmen hinzu.

Schließlich waren Sondervermögen in Art. 115 GG a. F. von der dort formulierten Verschuldungsbeschränkung ausgenommen. Diese Möglichkeit wurde vor allem im Zuge der Deutschen Einheit verstärkt genutzt.

Ökonomisch betrachtet herrschte also die Sorge hinsichtlich der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung in Deutschland vor. Die reklamierten Haushaltsnotlagen verschiedener Länder waren ein starkes Indiz dafür. Insgesamt aber war das Zinsniveau höher als das Wirtschaftswachstum und die Schuldenquote stieg im Trend an.

Gleichwohl haben Staatsschulden weder damals noch erst recht heute nicht als grundsätzlich falsche Form der staatlichen Finanzierung gegolten. Außergewöhnlich hohe kurzfristige Finanzbedarfe sind besser und effizienter über Verschuldung zu bewältigen und erlauben es so, die Zusatzlast der Besteuerung über die Zeit zu glätten. Hinzu kommen konjunkturpolitische Argumente. Schließlich dienen Staatsanleihen als sichere Anlagen – regulatorisch und faktisch, wenn sie wie die Anleihen des Bundes höchste Bonität genießen. Allerdings gibt es politökonomische Gründe für übermäßige Staatsverschuldung aufgrund von Zeitinkonsistenz, Wahlzyklen oder einer Übernutzung der öffentlichen Haushalte durch unterschiedliche Anspruchsgruppen. Im Zusammenhang mit möglichen Überreaktionen auf den Finanzmärkten bei Sorgen um die Tragfähigkeit legen diese politökonomischen Gründe formale fiskalische Beschränkungen nahe, also Fiskalregeln.

Zum Seitenanfang

Reformdebatten

Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Reformdebatte einzuordnen. Ob die aktuelle Schuldenregel durch eine Investitionsklausel ergänzt, also eine Rückkehr zu Art. 115 GG a. F. vollzogen werden sollte, ist bislang nicht durch neue Argumente angereichert worden. Es werden dieselben Argumente wie bei der Verabschiedung der geltenden Schuldenbremse ausgetauscht. Öffentliche Investitionen mögen ähnlich wie die Verschuldung aus politökonomischen Gründen verzerrt sein und letztlich zu niedrig ausfallen. Außer anekdotischer Evidenz finden sich für diese Behauptung bislang aber kaum empirische Belege. Dem stehen die Argumente der Abgrenzungsproblematik und der normativen Überhöhung staatlicher Investitionsausgaben gegenüber anderen Staatsausgaben entgegen. Solange die geltende Schuldenbremse nicht als Grund für den aktuellen Zustand der Infrastruktur in Deutschland empirisch belegt ist, besteht keine Notwendigkeit der Änderung. Jedenfalls sollten andere Gründe, wie etwa regulatorische Hemmnisse für öffentliche Investitionen oder die Überlastung der Gemeinden durch zusätzliche Aufgaben und deren Finanzierung, zunächst betrachtet und daraus resultierende Fehlsteuerungen beseitigt werden.

In der aktuellen politischen Diskussion geht es zudem häufig nicht um öffentliche Investitionen. Staatliche Subventionen, beispielsweise für die Transformation der deutschen Wirtschaft zur Klimaneutralität oder für die Steigerung der Resilienz, werden als „Zukunftsinvestitionen“ bezeichnet. Sollte die Schuldenbremse dahingehend restriktiv wirken, so muss man dies angesichts der Fragwürdigkeit mancher industriepolitischer Konzepte nicht schädlich finden.

Der Erhalt des öffentlichen Nettokapitalstocks ist eine wesentliche Aufgabe; es gibt sogar gute Gründe, davon auszugehen, dass dieser ausgeweitet werden sollte. Solange aber nicht bekannt ist, wie groß der Nettokapitalstock überhaupt ist, bleibt eine solche Zielsetzung zu vage. Hier darf man gerne erneut in die Klagen über die Datenverfügbarkeit für die Forschung einstimmen.

Die Sorge, dass die Staatsverschuldung in Deutschland zu niedrig sein könnte und daher den Finanzmarktakteuren zu wenig sichere Anleihen zur Verfügung stünden, lässt sich angesichts der heute immer noch über 60 Prozent des BIP liegenden Staatsschuldenquote nicht belegen. Die Nutzung der Ausnahmeregel während der Corona-Pandemie ließ die Schuldenquote sprunghaft ansteigen. Sollten sich Krisen häufen, wird es lange dauern, bis ein Zustand mit Schuldenquoten zwischen 30 Prozent und 40 Prozent des BIP erreicht sein wird. Vielleicht ist dann die Zeit für Reformen. Derzeit ist diese Zeit aber noch nicht angebrochen.

Nach Krisen und der Nutzung der Ausnahmeregel könnte ein geglätteter Übergang zur Regelgrenze der Schuldenbremse sinnvoll sein. Dieser Übergang muss jedoch nicht durch mehr Verschuldungsspielräume erreicht werden: Echte Reserven im Sinne eines Kapitalstocks könnten zur Glättung eingesetzt werden. In den USA nutzen die Bundesstaaten diese Möglichkeiten der „rainy day funds“ einigermaßen erfolgreich.

Somit bleibt als Reformoption die Revision der Konjunkturkomponente, die bereits im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung festgehalten ist. Methodische Fortschritte in den Wirtschaftswissenschaften sollten regelmäßig Berücksichtigung finden. Dies gilt nicht nur für makroökonomische Fragen der Finanzpolitik. Eine Verbesserung der Konjunkturbereinigung gemäß diesen methodischen Fortschritten in der Wissenschaft kann somit durchaus sinnvoll sein.

Schließlich ist die Bedeutung solider Finanzen für die Stabilität der Europäischen Währungsunion hervorzuheben. Deutschland ist nolens volens als großes Land mit bester Bonität seiner Staatsanleihen zugleich wichtigster Garant für die Stabilität im Euroraum. Zugleich diszipliniert die relativ niedrige deutsche Staatsverschuldung andere Mitgliedstaaten, die bei einem zu großen Abstand ihrer Staatsverschuldung zu der deutschen mit empfindlichen Risikoaufschlägen rechnen müssen.

Flexibilität ist in der Finanzpolitik weder für Deutschland noch für die europäischen Partner ein Wert an sich. Vielmehr ist es die voraussehbare Unnachgiebigkeit von Fiskalregeln, die vorsorgende Vernunft gebiert – und nur sie.1

Fußnoten

1
Diesen Satz verdanke ich Olaf Sievert.