Als Wolfratshauser Soldaten Madame Poincaré rauben wollten
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Als Wolfratshauser Soldaten Madame Poincaré rauben wollten

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Nach Paris: Die meisten deutschen Soldaten glaubten, die französische Hauptstadt rasch erobern zu können. Sie täuschten sich. Ihnen stand ein langer, blutiger Krieg bevor.
Nach Paris: Die meisten deutschen Soldaten glaubten, die französische Hauptstadt rasch erobern zu können. Sie täuschten sich. Ihnen stand ein langer, blutiger Krieg bevor. © Foto: dpa

Henriette Poincaré, Frau des franzöischen Staatspräsidenten, galt als Wolfratshauserin. Die Soldaten im Ersten Weltkrieg wollten sie als Beute mit nach Hause bringen.

Wolfratshausen – Der Name Poincaré verbreitete vor etwa 100 Jahren in Deutschland Angst und Schrecken. Denn Raymond Poincaré, französischer Staatspräsident von 1913 bis 1920, stand für eine harte antideutsche Politik. Er plädierte im extrem blutigen Ersten Weltkrieg nicht nur für einen Kampf bis zum endgültigen Sieg über das Nachbarland. Er bestand danach auf den drakonischen Bedingungen im Versailler

Raymond Poincaré, französischer Staatspräsident von 1913 bis 1920.
Raymond Poincaré, französischer Staatspräsident von 1913 bis 1920. © Foto: MM-Archiv

Vertrag. Im Oberland konnte man es nicht fassen, war der Mann doch angeblich mit einer Deutschen, genauer mit einer Wolfratshauserin, verheiratet. Seine Gattin Henriette stammte von der Loisach. So hieß es jedenfalls landauf, landab.

Ihr Onkel war Friedrich Moosbauer, Bezirksgeometer

In den Tagen des Ersten Weltkriegs hatte Henriette Poincaré aus genau diesem Grund einen denkbar schlechten Ruf. So erzählte man sich, dass sie die missratene Tochter des ansonsten hochanständigen Bezirksgeometer, sprich Landvermessers Friedrich Moosbauer sei, nach dem die Straße an der Kreisklinik benannt ist. Es wurde verbreitet, dass sie sich in jungen Jahren fahrendem Volk in Richtung Elsass angeschlossen hätte. Angeblich schworen sich die Wolfratshauser Soldaten, die Verräterin heimzuholen, sobald Paris eingenommen sei. Der Schlachtruf damals: „Lasst’s es ned aus!“

Über Poincaré gibt es inzwischen eine Biographie

Heute, 100 Jahre später, stellt sich die Sache ganz anders dar. Benebelt vom Völkerhass, nahm man es damals offensichtlich mit der Wahrheit nicht so genau. Wegen seiner Wichtigkeit für das 20. Jahrhundert ist das Leben von Raymond Poincaré inzwischen erforscht worden – und auch das seiner Frau.

Henriette Poincaré hatte mütterlicherseits Verwandtschaft in Wolfratshausen. 
Henriette Poincaré hatte mütterlicherseits Verwandtschaft in Wolfratshausen. © Foto: MM-Archiv

Eine englischsprachige Biographie von John Keiger zeichnet ein ganz anderes Bild von der einst so übel beleumdeten Première Dame: Sie war eine kluge, emanzipierte, weltoffene Frau. Sogar ein – wenn auch englischsprachiger – Wikipedia-Artikel über sie existiert.

An der Loisach lernte die junge Henriette deutsch

Fest steht: Henriette Poincaré wurde als Henriette Benucci am 8. Mai 1858 in Passy, einem Vorort von Paris geboren. Ihre Mutter war Louise Moosbauer aus Wolfratshausen, eine Schwester von Friedrich Moosbauer, also jenem Mann, der für den TSV Wolfratshausen die Freiwillige Feuerwehr eine überragende Rolle spielte. Louise hatte einen italienischen Mann geheiratet – angeblich einen Kutscher – und sich mit ihm in Frankreich niedergelassen. Insofern muss man korrigieren, was die Kriegstreiber einst so erzählten: Henriette war keine Deutsche, sondern Französin. Und Friedrich Moosbauer nicht der Vater, sondern der Onkel.

Dennoch: Wolfratshausen spielte für die angehende Erste Frau im Staat eine wichtige Rolle. Nach dem Tod ihres Vaters 1871 besuchte sie mit ihrer Mutter hin und wieder den Onkel an der Loisach. So steht es jedenfalls in einem Artikel der Tölzer Zeitung vom 17. Oktober 1934. Mit ihrer eleganten Erscheinung, heißt es da, hat Henriette großes Aufsehen erregt. In Wolfratshausen lernte sie angeblich auch deutsch. Gewohnt hat sie in Hausnummer 192 – nein, Wolfratshausen hatte damals noch keine Straßennamen. Wo das genau gewesen ist, lässt sich im Stadtarchiv leider nicht mehr nachvollziehen. Wie man über die Familie Moosbauer wegen großer Kriegsverluste überhaupt praktisch nichts weiß.

Die Verbindung zum ersten Mann im Staat galt als ungewöhnlich

Mit den Männern hatte Henriette anfangs kein Glück. Vom ersten Ehemann, einem Angestellten des Warenhauses Bonmarché, ließ sie sich scheiden. Ihr zweiter Mann, ein Richter, starb nach kurzer Zeit. Sie war also Witwe und mit 34 Jahren nicht mehr ganz jung, als sie 1892 den Anwalt und aufstrebenden Politiker Raymond Poincaré kennenlernte. Sie arbeitete damals als Betreuerin und war auf der Suche nach einem Pflegeheim für eine ältere Dame. Eine Freundin hatte die Idee, den „kleinen Poin“ um Rat zu fragen. Er war sofort hingerissen.

Die Verbindung galt als ungewöhnlich. Zum einen war Henriette zwei Jahre älter als Raymond Poincaré. Und: Aus nicht näher bekannten Gründen konnte sie keine Kinder bekommen. All das schreckte Poincaré nicht ab. „Es war echte Liebe, was die beiden verband“, schreibt sein Biograph John Keiger. 1904 heiratete das Paar standesamtlich, 1913 kirchlich.

Nach der Hochzeit bringt sie Ordnung ins Leben des Workaholics

Innerhalb kurzer Zeit machte sie sich für ihren politisch ambitionierten Mann unverzichtbar. „Sie brachte Ordnung in sein Leben“, bilanziert Keiger. Als Privatsekretärin koordinierte sie seine Termine, führte seine Korrespondenzen und übersetzte für ihn ins Deutsche und ins Italienische. Als er 1913 zum Staatspräsidenten gewählt wurde und in den Elysee-Palast einzog, organisierte sie glänzende Empfänge – das war zuvor unüblich gewesen. Wohl auf ihr Betreiben besuchte Poincaré im Januar 1914 die deutsche Botschaft, zum ersten Mal seit fast 50 Jahren. Ob sie damit den sich schon lange abzeichnenden Krieg mit Deutschland verhindern wollte, weiß man nicht.

Sie warnte ihren Mann vor einem Attentat der Pazifisten

Womit wir wieder beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs wären. Die Stimmung in Frankreich war weit weniger euphorisch als in Deutschland. Man erblickte in Poincaré den Schuldigen und wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. In der Pariser Metro kursierten Gerüchte von einem bevorstehenden Attentat der Pazifisten, und Henriette, die sich unerkannt unter die Leute gemischt hatte, warnte ihren Mann. 1914 warfen die Deutschen Bomben auf Paris, die Regierung musste nach Bordeaux auszuweichen. „Henriette ist am Boden zerstört“, schreibt er Poincaré in sein Tagebuch, das er ein Leben lang führte. „Sie ist verzweifelt und schluchzt unaufhörlich.“ Möglicherweise auch aus Enttäuschung über die Landsleute ihrer Mutter.

Sie organisierte das Te Deum in Notre Dame nach Kriegsende

Bekanntlich verlor das Deutsche Kaiserreich den Krieg. Paris wurde nicht eingenommen, und schon gar nicht brachten Wolfratshauser Soldaten die abtrünnige Madame Poincaré als Beute zurück in die Heimat. Im Gegenteil, nach dem Ende des Kriegs spielte sie eine wichtige, repräsentative Rolle. Als Première Dame besuchte sie die von den Deutschen verwüsteten Landstriche und tröstete die Bewohner. Außerdem nahm sie am großen „Te Deum“ teil, das in Notre Dame angestimmt wurde, als der Krieg 1918 endlich zu Ende war.

Die Witwe starb im von Hitler besetzten Paris 1943

Raymond Poincaré, der am Ende seines Lebens seine Politik der harten Hand gegenüber Deutschland abmilderte, starb am 15. Oktober 1934 nach einem Schlaganfall. Henriette überlebte ihn um fast zehn Jahre. Sie starb 1943 im von Hitler-Deutschland besetzten Paris im Alter von 85 Jahren. Ob sie Wolfratshausen je wieder gesehen hat oder es je wieder sehen wollte, ist nicht bekannt.

Lesen Sie auch: Räterepublik: Warum es in Wolfratshausen friedlich blieb

So redet man im Krieg über Mme. Poincaré

Gerhard Birkholz aus Seefeld am Ammersee schreibt seit vielen Jahren an der mehrbändigen Chronik seiner Gemeinde. Dafür wertete er unter anderem die Annalen des dortigen Männergesangsvereins „Eintrachtshausen“ aus. Unter dem Datum des 15. Juli 1915 – also etwa ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs – findet sich dort eine Passage über Henriette Poincaré und was man sich über sie erzählte. Sie sagt viel über die Stimmung der damaligen Zeit aus. „Bei der gestrigen Konferenz versammelten sich Nachmittags im Bräustüblein die Lehrer der Umgebung, soweit sie nicht im Felde stehen, um mit dem Hr. Oberlehrer Brandstetter – Starnberg ein paar Stündlein beisammen zu sein und von alten und neuen Zeiten zu plaudern. Wie überall so bildete auch hier der Krieg, das große Geschehen unserer Tage, den Hauptstoff der gemütlichen Sitzung. Hiebei erzählte uns Brandstetter Neues über Poincarés Frau. Dies ist eine Deutsche und zwar, wie unsere ausziehenden Soldaten sich ausdrückten, eine „Filzlerin“. Brandstetter hat ihren braven Vater, den Bezirksgeometer Mooseder von Wolfratshausen, gut gekannt. So ordentlich nun auch der Vater war, so ungeraten waren die Kinder, von denen sich eine Tochter einer Schauspielergruppe anschloß... Sie zog dann mit dieser „Schmiere“ nach Elsaß und Frankreich, heiratete dort einen Rechtsanwalt, ließ sich von diesem Manne scheiden, nahm einen anderen Rechtsanwalt und wurde so Frau Präsident von Frankreich. Die Wofratshauser aber sagten zu ihren ausziehenden Kriegern: ,Gel schauts, daß Enk d’ Filzlerin net auskimmt!“

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