"Hier wird viel gestorben"
  1. Startseite
  2. Panorama

"Hier wird viel gestorben"

Liselotte und Hans-Jochen Vogel.
Liselotte und Hans-Jochen Vogel. © Dashuber

Liselotte und Hans-Jochen Vogel sind vor drei Jahren freiwillig in ein Altenheim gezogen. Ein Gespräch übers Abschiednehmen, über Tischgemeinschaften und kleine Tricks, das Gedächtnis zu trainieren.

Es ist erst kurz vor elf, aber vor der Tür des Speisesaals im Münchener Seniorenstift Augustinum warten bereits die ersten Mittagsgäste. Viele Frauen, wenige Männer. Auch Hans-Jochen Vogel ist nicht da. Mein Mann hat noch zu tun, sagt Liselotte Vogel und geht schon mal ins Café, wo das Interview stattfinden soll, über Gänge, an Türen mit Namenschildern vorbei. Hinter so einer Tür wohnen auch der SPD-Politiker und seine Frau seit drei Jahren. Liselotte Vogel hat ein Buch darüber geschrieben, warum sie sich zu diesem Schritt entschlossen haben. Als sie es auf den Tisch legt, steht ihr Mann plötzlich in der Tür, im Jackett und gut gelaunt. Er sieht immer noch so aus, als könnte er gleich eine Rede halten, macht aber darauf aufmerksam, dass er das ganz und gar nicht vorhat.

Hans-Jochen Vogel: Meine Frau ist heute die Hauptperson, nicht ich.

Aber Sie sind ja mit ins Altersheim gezogen, Sie haben sicher auch was zu erzählen.

Liselotte Vogel: Mitgezogen ist gut. Das haben wir schon zusammen beschlossen.

Hans-Jochen Vogel: Mitgefangen, mitgehangen.

Sie, Herr Vogel, sollen es sogar gewesen sein, der gesagt hat, na gut, dann gehen wir eben in ein Wohnstift. Stimmt das?

Hans-Jochen Vogel: Ja, zu irgendeinem Zeitpunkt habe ich das wahrscheinlich gesagt. Meine Frau zitiert es jedenfalls in ihrem Buch.

Hatten Sie keine Angst? Es heißt ja immer, dass Altersheime ganz schrecklich sind.

Liselotte Vogel: Das war der Anlass für das Buch. Wir waren in eine Maischberger-Sendung eingeladen und mussten uns die ganze Zeit dafür verteidigen, dass wir in ein Altenheim gezogen sind. Blacky Fuchsberger hat gesagt, er stirbt mal auf der Bühne. Eine Dame hat berichtet, dass sie gleich wieder aus dem Heim ausgezogen ist, weil es ihr nicht gefallen hat. Und eine andere Teilnehmerin hat sich auch sehr kritisch über Heime geäußert. Daraufhin kamen viele Reaktionen von Jüngeren, die sagten: "Wenn ich doch mit meinen Eltern darüber reden könnte!" Mich hat erstaunt, wie häufig diese Themen verdrängt werden und man darauf wartet, irgendwann mal tot umzufallen. Das wünscht sich jeder, das ist die Luxusvariante, aber leider sterben so die wenigsten Menschen. Die meisten werden krank und müssen dann schnell einen Heimplatz suchen.

Wann haben Sie das erste Mal darüber gesprochen, in ein Heim zu ziehen?

Hans-Jochen Vogel: Das muss so um die Jahrtausendwende gewesen sein.

Gab es einen Anlass?

Liselotte Vogel: In dem Haus, in dem wir wohnten, lebte eine alte Dame. Sie war nicht krank, aber sie hat furchtbar unter Ängsten gelitten. Wenn ihre Tochter nur in den Keller ging, stand die alte Frau schon am Treppenabsatz und rief: "Wo bist du? Wo bist du?" Und die Tochter hat sich darauf eingelassen. Sie hat die Mutter bis zu ihrem Ende gepflegt und sich dabei fast selbst ruiniert.

Waren Sie damals noch gesund?

Liselotte Vogel: Einigermaßen. Es ist ja hier in München so, dass die Heime zumeist stark belegt sind und man einen Vorvertrag machen muss. Bei uns kam dann nach fünf Jahren das Angebot, genau für diese Wohnung, die ich im Kopf hatte.

Was ist das für eine Wohnung?

Liselotte Vogel: Eine Drei-Zimmer-Wohnung mit einem großen Wohnraum, einer kleinen Essdiele davor und zwei Zimmern. Loki Schmidt sagt immer, das Geheimnis einer guten Ehe sind getrennte Schlafzimmer, und auch wir wollten getrennte Zimmer behalten, das ist für meinen Mann ganz wichtig, weil er nachts immer noch an seinem Schreibtisch sitzt.

Hans-Jochen Vogel: 81 Quadratmeter haben wir.

Wie viel hatte Ihre alte Wohnung?

Liselotte Vogel: Das Doppelte.

Das ist aber schon eine Ausnahme, dieses Heim? Mit der Ausstattung, den Angeboten und einem Restaurant, in dem auch Wein angeboten wird?

Liselotte Vogel: Man muss sagen, das ist ein Wohnstift gehobener Klasse.

Wie teuer ist es denn?

Liselotte Vogel: Ein Einzimmer-Apartment einschließlich Mittagessen und Reinigung kostet hier ab 1316 Euro, ein Zweizimmer-Apartment 1897 Euro, unser Dreizimmerapartment 3850 Euro.

Übernimmt das Sozialamt einen Teil der Kosten, wenn Menschen sich das nicht leisten können?

Liselotte Vogel: Das hängt von den Umständen ab. Im konkreten Fall entscheidet das die Sozialbehörde.

War es für Sie ungewohnt, plötzlich auf engerem Raum leben zu müssen?

Liselotte Vogel: Überhaupt nicht, für mich hat es einen ganz großen Vorzug. Wenn mein Mann weg ist, fülle ich diese Wohnung ganz aus.

Hans-Jochen Vogel: Das Problem der leeren Zimmer tritt nicht mehr auf.

Liselotte Vogel: Da gibt es kein Esszimmer, das wochenlang nicht benutzt wird, weil man zu zweit dann lieber schnell in der Küche isst. Man braucht gar nicht soviel Platz, wie man sich einbildet.

Sie mussten sich sicher von vielen Ihrer Sachen trennen. Ist Ihnen das schwer gefallen?

Hans-Jochen Vogel: Ich musste mich von der Hälfte oder zwei Drittel meiner Bücher trennen. Die sind jetzt in der Universitäts- oder Stadtbibliothek.

Liselotte Vogel: Hat dir das mehr ausgemacht, als dich von Birnbach zu trennen?

Hans-Jochen Vogel: Ich würde sagen, ungefähr genauso. Birnbach war unser Refugium, ein kleines Waldarbeiterhaus in der Nähe von Birnbach.

Liselotte Vogel: Das ist ein Verlust, den ich immer noch nicht verwinden kann.

Warum haben Sie es dann aufgegeben?

Liselotte Vogel: Weil?s nicht mehr zu bewältigen war. Wenn wir ankamen, habe ich die Ärmel aufgekrempelt und geputzt. Das kann man, wenn man Ende 70 ist, nicht mehr bedenkenlos leisten, zumal wir einen großen Garten hatten und einen Obstanger und wir aus der Generation stammen, die ungern einen Apfel liegen lässt. Das kommt noch aus dem Krieg.

Was haben Ihre Kinder zu Ihrer Entscheidung gesagt, in ein Heim zu ziehen?

Liselotte Vogel: Keiner hat gesagt: Um Gottes Willen.

Hans-Jochen Vogel: Ich glaube, die Kinder haben erfreut zur Kenntnis genommen: Das haben die beiden alleine entschieden und nicht vor sich hergeschoben.

Liselotte Vogel: Es hat ja auch keine Sekunde einen Dissens gegeben. Das ist nicht immer so. Ich habe einen Brief von einer Dame bekommen, die schreibt, ihr Mann will an das Thema nicht ran.

Ist ein solcher Schritt für Männer schwieriger als für Frauen?

Liselotte Vogel: Sag? du das, du bist ein Mann.

Hans-Jochen Vogel: Vielleicht tun sich Männer mit dem Übergang in eine neue Umgebung und neue Beziehungsnetze generell etwas schwerer. Vor allem im Alter. Da hat man schon ein gewisses Beharrungsvermögen.

Liselotte Vogel: Du hast auch unter Hotelzimmern gelitten, die deinem Geschmack nicht entsprochen haben.

Hans-Jochen Vogel: Na ja.

Liselotte Vogel: Mich hat das nicht gestört, weil wir ja meist nur eine Übernachtung hatten, aber du hast dich aufgeregt, dass es ganz ungemütlich sei.

Hans-Jochen Vogel: Das hier war aber keine Hotelzimmerentscheidung.

Liselotte Vogel: Das nicht, aber es war eine neue Umgebung.

Hans-Jochen Vogel: Richtig.

Liselotte Vogel: Und da habe ich nicht eine Sekunde den Eindruck gehabt, dass es dir Schwierigkeiten macht.

Hans-Jochen Vogel: Na ja, ich war es ja auch in meinen Funktionen gewöhnt, immer mit vielen Menschen zu tun zu haben.

Liselotte Vogel: Das einzige, wovor ich ein bisschen Angst hatte, war, wie die Mitbewohner reagieren, weil mein Mann ja doch einigermaßen bekannt ist. Aber das war eigentlich nicht problematisch.

Hans-Jochen Vogel: Das liegt vielleicht auch daran, dass uns Prominentengehabe immer fremd war. Ich habe schon lange keinen Dienstwagen und keinen Personenschutz mehr. Wir fahren mit der U-Bahn wie alle anderen auch, und ich habe immer noch meine uralte Aktentasche.

Wenn Sie krank und pflegebedürftig werden, könnte es da nicht doch schwierig werden, in so einem großen Heim in der Öffentlichkeit zu stehen?

Liselotte Vogel: Das gibt sich wahrscheinlich von selber. Wir sind jetzt seit drei und drei viertel Jahren im Haus, es wird viel gestorben. Ein nettes Ehepaar bei uns am Tisch ist kurz hintereinander gestorben. Und natürlich werden viele Menschen krank, können nicht mehr alleine raus, können nicht mehr gut lesen und sich kaum bewegen. Aber auch dann ist man hier gut aufgehoben, wir haben Filmvorführungen, Konzerte, man kann Sprachen lernen oder Gedächtnistraining machen.

Was macht man beim Gedächtnistraining?

Liselotte Vogel: Da werden Sie drüber lachen, ich habe auch zum Anfang drüber gelacht. Man lernt einfach gewisse Übungen und Tricks, beispielsweise, wenn man Einkaufen geht, damit man sich daran erinnert, an welcher Ecke es die Eier gibt.

Machen Sie auch Gedächtnistraining, Herr Vogel?

Hans-Jochen Vogel: Noch nicht.

Liselotte Vogel: Braucht er nicht.

Hans-Jochen Vogel: Wir haben eine Gedächtnisübung besonderer Art. Wenn uns Namen nicht einfallen, steuert meine Frau die Vokale bei. Und ich die Konsonanten. Plötzlich haben wir?s.

Liselotte Vogel: Das ist schon was Ärgerliches. Das Kurzzeitgedächtnis lässt einfach schon nach.

Hans-Jochen Vogel: Mit neuen Namen ist es schwieriger als mit alten.

Wann haben Sie gemerkt, dass sie alt werden?

Hans-Jochen Vogel: In den letzten drei Jahren hat?s bei mir erkennbar Fortschritte gemacht.

Liselotte Vogel: Ab 80 war?s gravierender, find? ich auch.

Hans-Jochen Vogel: Bei dir war?s die steile Treppe in unserer Wohnung.

Liselotte Vogel: Ja, und das Vorhofflimmern.

Wird der Tag länger oder kürzer, wenn man älter ist?

Liselotte Vogel: Ich finde es sehr erschreckend, wie schnell die Zeit vergeht. Das sagst du ja auch.

Hans-Jochen Vogel: Ja, dass schon wieder Mittwoch ist. Deutlich schneller vergeht die Zeit. Ich habe eine spitzfindige Erklärung dafür. Wenn ein elfjähriger Junge 12 wird, so ist das ein Zwölftel seines Lebens. Wenn ein 82-Jähriger 83 wird, ist das ein 83stel seines Lebens und erklärt vielleicht auch, warum im Alter die Zeit schneller läuft. Vielleicht wird man auch etwas langsamer.

Liselotte Vogel: Ich glaube, dass auch eine Rolle spielt, dass das Leben endlicher wird. Zumal, wenn man mal eine Krankheit gehabt hat, die einem das klarmacht, und die Erfahrung habe ich machen müssen. Ich rechne Zeit eher von hinten. Nicht, weil mich das beängstigt. Zum Beispiel diese Olympiabewerbung 2018, das ist ja so was von uninteressant für mich, weil ich das nicht mehr erleben werde.

Hans-Jochen Vogel: Die Endlichkeit tritt stärker ins Bewusstsein.

Aber 2018 könnten Sie doch durchaus noch erleben.

Hans-Jochen Vogel: Ja, das ist mir neulich auch klar geworden. Da bist du 91.

Liselotte Vogel: Oh Gott.

Man hat ja immer wieder Phasen im Leben, in denen es einem schlechter geht, die Beine wehtun, man müde ist. Wie merkt man, dass es das Alter ist, dass es nicht mehr vorbeigeht?

Liselotte Vogel: Ich glaube, das kann man nicht verallgemeinern. Das hängt sicher mit der Energie eines Menschen zusammen. Manche geben ganz schnell nach, andere sagen, das wird jetzt trainiert. Ich habe eine Freundin, die macht jeden Tag eine halbe Stunde Gymnastik. Sie hat miserable Knochen und bricht sich ständig irgendwas. Die läge schon längst als Pflegefall im Bett, wenn sie nicht so hinterher wäre.

Hans-Jochen Vogel: Darf ich nochmal eine Zwischenfrage stellen. Kriegen wir das Interview vorher nochmal zu lesen?

Ja, Sie können es gerne autorisieren. Haben Sie denn eine E-Mail-Adresse?

Liselotte Vogel: Wir finden uns mit einem Fax schon sehr modern. Das ist heute gerade kaputtgegangen.

Heute Morgen? Was haben Sie denn heute schon alles gemacht?

Liselotte Vogel: Mittwochmorgens kommt die Putzfrau. Das bedeutet, dass man schon ein wenig früher aufsteht und dass man meinen Mann aus seinem Raum herausbekommt, damit sie da saubermachen kann.

Hans-Jochen Vogel: Herausbittet.

Liselotte Vogel: Dann sitzt mein Mann am Schreibtisch und ich erledige meine Post oder ich gehe zum Gedächtnistraining und zum Singkreis. Unsere Leiterin hat einen schwarzen Spaniel, der bei unserem Schlusskanon immer mitsingt. Und was tue ich noch? Yoga, das schaffe ich aber im Moment nicht.

Machen Sie auch Yoga, Herr Vogel?

Hans-Jochen Vogel: Nein, aber zum Heurigen- oder Sommerfest, da komme ich, weil wir eine sehr sympathische Tischgemeinschaft haben, meine Frau und vier weitere Damen, ich bin der einzige männliche Teilhaber. Aber weil Sie nach dem heutigen Tag gefragt haben, ich gehe zum Mittagessen in den Ratskeller, deswegen muss ich auch gleich los. Um 14.15 Uhr habe ich den nächsten Termin. Um 16 Uhr ist die Thomas-Wimmer-Stiftung, und um 19 Uhr trifft sich eine Altherrenrunde.

Liselotte Vogel: Jetzt erhebt sich die Frage, warum du im Altenheim bist.

Hans-Jochen Vogel: Ich wollte nur deine These untermauern, dass wir soziale Kontakte mitgenommen haben.

Das klingt, als wäre das eher die Ausnahme?

Liselotte Vogel: Es gibt viele Leute im Heim, die wegen ihrer Kinder hergezogen sind. Aber die Kinder haben natürlich auch heute nicht viel mehr Zeit als sie hatten, als ihre Eltern noch in Siegen oder in Wesel wohnten. Das ist bei uns anders. Ich habe mein Leben zum größten Teil in München verbracht und mein Mann auch. Für uns sind die Freunde und Bekannten halt alle in München.

Wenn Ihr Mann unterwegs ist wie heute, sitzen dann nur Frauen am Mittagstisch?

Liselotte Vogel: Beim Essen sind wir dann alleine. Das ist eigentlich schade.

Hans-Jochen Vogel: Was? Das ist ja ein Kompliment!

Liselotte Vogel: Es ist nicht langweilig, es entbehrt nur eines gewissen Pfiffs, weil du Themen mitbringst, die zu angeregten Diskussionen führen.

Reden Sie über Politik?

Liselotte Vogel: Ab und an, aber nicht über Parteipolitik.

Und über Krankheiten?

Lieselotte Vogel: Nein, bei Tisch nicht. Ich weiß von der einen, dass sie einen niedrigen Blutdruck hat und morgens nicht in die Gänge kommt und von der anderen, dass sie ein Herzflimmern hat, aber das ist kein Thema, es wäre nicht gut, wenn man jeden Mittag über Krankheiten reden würde.

Sie sprechen also weder über Krankheiten, noch über Parteipolitik? Worüber reden Sie dann?

Liselotte Vogel: Sarkozy war lange ein Thema, wir haben eine Dame am Tisch, die hört leider sehr schwer, aber ihr Mann war bei der OECD in Paris, und über Sarkozy steht ja immer irgendwas Ulkiges in der Zeitung. Über die Wahlen oder die Regierungsbildung haben wir natürlich auch geredet, aber nicht sehr lange. Denn wenn mein Mann in seine politische Leidenschaft kommt, dann ist es, wie soll man sagen, kein Gespräch mehr.

Bremsen Sie ihn dann?

Liselotte Vogel: Ich beginne, von was anderem zu reden.

Siezen Sie sich am Tisch?

Hans-Jochen Vogel: Ja.

Liselotte Vogel: Es gibt Freundschaften im Haus, aber auch Leute, die kein einziges Wort miteinander wechseln wollen. Wir haben einen Herrentisch, da wird gar nicht gesprochen. Du hast gerade auf die Uhr geschaut, musst du gehen?

Hans-Jochen Vogel: Wenn Sie noch eine ganz spezielle Frage haben ?

Kennen Sie das Buch von dem Sozialphilosophen André Gorz: Geschichte einer Liebe?

Hans-Jochen Vogel: Nein, worum geht es da?

André Gorz? Frau war schwer krank, die beiden haben sich 2007 gemeinsam das Leben genommen. Können Sie das nachvollziehen?

Liselotte Vogel: Nachvollziehen kann ich?s, aber ich würde das nicht machen wollen.

Hans-Jochen Vogel: Das, was Sie da geschildert haben, respektiere ich. Es ist seine Entscheidung, die er auch selber verantworten muss. Aber ich denke, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist, dass wir durch eine enge Pforte gehen in einen neuen Abschnitt, von dem man keine konkrete Vorstellung hat, nur, dass man sich wieder begegnet, in welcher Form auch immer.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Liselotte Vogel: In meiner jetzigen Lage nicht, ich will nicht ausschließen, dass es mich erwischt, wenn ich in der konkreten Situation bin. Meine Mutter hat nie Angst gehabt und dann in den letzten zwei Tagen vor ihrem Tod hat es sie gepackt. Das kann man nicht vorhersagen.

Hans-Jochen Vogel: Also, ich habe keine Angst vor dem Lebensende, auch weil man ja ein erfülltes Leben schon hinter sich hat. Ich bin besorgt, wie das Ende sich gestaltet, ob das mit langen Schmerzen verbunden ist. Aber das Ende selber macht mir keine Angst. Da spielt wohl auch eine gewisse Rolle, ob man mit sich einigermaßen im Reinen ist.

(Hans-Jochen Vogel zieht sich an und geht zum Mittagessen ins Rathaus.)

Liselotte Vogel: Bis heute Abend.

Hans-Jochen Vogel: Wiederschau?n.

Frau Vogel, wie ist das, wenn an Ihrem Tisch plötzlich ein Stuhl leer ist, weil jemand gestorben ist?

Liselotte Vogel: Ja, der Platz von meiner Freundin, die gerade gestorben ist, der bleibt leer.

Sie lassen ihn ganz bewusst frei?

Liselotte Vogel: Sie saß zwischen meinem Mann und mir auf der Bank, da hätte außer meiner sehr schmalen Freundin kaum jemand Platz.

War Ihre Freundin Ihretwegen hierher gezogen?

Liselotte Vogel: Ja. Sie hat vorher alleine in ihrem Haus gewohnt, mit 86, ist auch noch Auto gefahren. Der ganze Bekanntenkreis hat sich große Sorgen gemacht. Dann habe ich sie einmal zum Kaffeetrinken eingeladen, wir wohnen im 12. Stock, es war ein schöner Tag, und man sieht von uns aus die gesamte Alpenkette. Als wir da so saßen, sagte sie, das könnte sie sich auch gut vorstellen. Aber dann hat sie sich nicht mehr eingewöhnt. Sie hat ihr Haus vermisst, ihre täglichen kleinen Arbeiten. Sie hatte nichts mehr zu tun, und dann machte sie einfach nichts mehr. Sie hat einfach aufgehört zu essen und sich mehr oder weniger zu Tode gehungert.

Ihre Freundin ist hier im Heim gestorben?

Liselotte Vogel: Sie hatte eine Patientenverfügung, und das war ein Glück, sie musste nicht künstlich ernährt oder ins Krankenhaus gebracht werden. Sie ist friedlich eingeschlafen. Danach wurde eine Aussegnung gemacht, in ihrem Zimmer. Das habe ich das erste Mal miterlebt, es war sehr eindrucksvoll. Da kamen auch alle Pflegerinnen, die mit ihr zu tun hatten und natürlich die Stiftspfarrerin.

Wäre es für ihre Freundin letztlich besser gewesen, zu Hause zu bleiben?

Liselotte Vogel: Das habe ich mich manchmal gefragt. Ich fürchte, irgendwann wäre sie die Treppe runtergefallen und hätte da gelegen, bis sie jemand gefunden hätte.

Wird man trauriger, wenn man so oft mit dem Tod in Berührung kommt wie Sie oder gewöhnt man sich daran?

Liselotte Vogel: Man geht damit um wie mit etwas Selbstverständlichem, das ist richtig. Ich möchte aber nicht, dass ich mich daran gewöhne. Wir haben am letzten Samstag einen Gedenkgottesdienst für alle Verstorbenen des Jahres gehabt. Letztes Jahr waren es 58, diesmal 66. Es gibt Musik und für jeden Verstorbenen wird eine Kerze angezündet.

Interview: Anja Reich

Auch interessant