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„Die Macht des Geldes hat toxisches Niveau erreicht“

Al Gore, früherer US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat Al Gore, früherer US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat
Al Gore, früherer US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat
Quelle: REUTERS
Der ehemalige US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat Al Gore beklagt den wachsenden Einfluss der Wirtschaft auf das politische Geschäft. Eine Ausnahme aber macht er: Sanktionen gegen Putin.

Al Gore war US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat. Er ist Friedensnobelpreisträger und Autor diverser Bücher. Soeben erschien sein neuestes: „Die Zukunft – sechs Kräfte, die unsere Welt verändern werden“ (Siedler Verlag). Wir erreichten ihn am Telefon zu Hause in Nashville (Tennessee).

Die Welt: Für wie gefährlich halten Sie die Situation in der Ukraine, treibt Wladimir Putin Europa in den Krieg?

Al Gore: Die Lage ist sehr gefährlich, ohne Frage. Wladimir Putin ist ein Paradebeispiel für die Strategie eines autoritären Politikers. Konfrontiert mit innenpolitischer Unruhe und sinkender Wirtschaftsleistung, flüchtet er sich in Nationalismus. Keiner weiß, wie es ausgehen wird.

Die Welt: Halten Sie eine militärische Auseinandersetzung in Europa heute wieder für möglich?

Gore: Ich zitiere in meinem Buch den Friedensnobelpreisträger Norman Angell, der 1910 geschrieben hat, dass die Integration der Weltwirtschaft Kriege überflüssig machen würde. Heute wissen wir, dass es anders kam. Die heutige Lage kann man nicht mit damals gleichsetzen. Die weltweite Abhängigkeit der Staaten untereinander ist viel, viel größer geworden.

Die Welt: Gilt das auch für Russland, wo sich doch Putin so verhält, als habe er totale Handlungsfreiheit?

Gore: Dann täuscht er sich. Der russische Aktienmarkt ist bereits beim ersten Anzeichen von Sanktionen eingebrochen. Ausländische Investoren haben Angst bekommen. Putin weiß genau, dass er einen hohen Preis zahlen wird, wenn er das Krim-Abenteuer in der Ostukraine wiederholt. Nun, ich bin optimistisch, dass die USA, zusammen mit Deutschland und der EU, die Gewalt in den Griff bekommen können. Und ich hoffe, dass Putin wirklich seine Armee von der Grenze abzieht und die prorussischen Extremisten in der Ostukraine zügelt.

Die Welt: Die Ukraine zerfällt als UN-Staat im Bürgerkrieg. Wie stark sind die UN, die ja auf dem Konzept stabiler Nationalstaaten aufbauen?

Gore: Sehen Sie es mir nach, wenn ich jetzt einmal ziemlich stolz auf die Rolle meines Landes bei der Gründung der Vereinten Nationen bin. Sie haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu mehr Frieden und Wohlstand geführt. Sie haben gut funktioniert, wenn die USA Führungsstärke zeigten, wenn wir unser Bestes gegeben haben. Und ich bin der Meinung, sie haben auf weit absehbare Zeit Bestand – auch wenn die Verflechtung und Abhängigkeit zwischen den Staaten immer weiter zunimmt –, nicht nur durch die Weltwirtschaft, als viel mehr durch das Weltbewusstsein durchs Internet, das heute ja eine Art Weltgewissen formt. Das war lange nur eine Fantasiererei in unseren Köpfe, nun ist es zunehmend Realität. Durch die Computer sind wir mehr und mehr auf dem Weg zu einer gemeinsamen Weltsicht.

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Die Welt: US-Präsident Barack Obama hat gerade gesagt, die Politik sei nicht mehr wirklich funktionsfähig.

Gore: Da ist was dran. Die Macht des Geldes hat in der amerikanischen Politik ein hochtoxisches Niveau erreicht. Der Oberste Gerichtshof hat kürzlich dazu beigetragen, indem er etwa Firmen politische Spenden in unbegrenzter Höhe erlaubte. Damit können jetzt auch Konzerne Grundrechte in Anspruch nehmen und die Politik dominieren.

Die Welt: Bedeutet das das Ende der amerikanischen Führungsrolle?

Gore: Amerikas Einfluss in der Welt sinkt ohne Frage, das bedeutet aber nicht gleich den Niedergang. Ob Amerika seine Führungsrolle wieder zurückgewinnt, hängt allerdings davon ab, ob wir es schaffen, wieder wirklich Demokratie zu leben, statt uns dem Diktat des Geldes und großer Medienkonzerne wie Fernsehanstalten zu unterwerfen. Jürgen Habermas, der Philosoph, hat diese Entwicklung mal die „Refeudalisierung in der Demokratie“ genannt. Genau das muss sich wieder ändern. Ich will nicht chauvinistisch klingen, aber mein Land wurde Führungsnation, weil wir mehrfach durch eine wirklich lebendige, vielseitige Meinungsbildung nicht nur eine visionäre Weltsicht hatten, sondern diese auch aktiv umgesetzt haben.

Die Welt: Wie sehen Sie die Chancen, dass Hillary Clinton bei der Präsidentschaftswahl 2016 kandidiert?

Gore: Es ist zu früh, das jetzt zu diskutieren. Ich bin kein politischer Kolumnist. Amerika ist sicher bereit für eine Frau.

Die Welt: Sie wollten 2000 selbst Präsident werden. Vermissen Sie heute die Macht?

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Gore: Ich vermisse die Chance, Gutes zu tun, Macht für neue Ideen zu nutzen. Es gibt allerdings auch Aspekte der Politik, die ich überhaupt nicht vermisse, wenn ich etwa an den wachsenden Einfluss des großen Geldes heute denke.

Die Welt: „Gore the Bore“ wurden Sie damals von manchen genannt – Gore, der Langweiler. Hat Sie das eigentlich je getroffen?

Gore: (Lacht) Ich habe das lange nicht mehr gehört, aber ich weiß, das war mal verbreitet, ja. Ein Witz über mich ging so: Woran erkennen Sie Al Gore in einem Raum voller Sicherheitsbeamter? Antwort: Das ist der, der stocksteif aus der Wäsche guckt.

Die Welt: Treffer.

Gore: Es gibt noch einen besseren: Al Gore, der ist so langweilig, dass der Secret Service im Walky-Talky-Funkverkehr den Codenamen „Al Gore“ für ihn erfand.

Die Welt: Keine Beleidigung?

Gore: Ach, man muss doch Selbstironie haben. Ganz besonders, wenn man in der Öffentlichkeit steht.

Die Welt: Soeben erschien Ihr neues Buch bei uns in Deutschland: „Die Zukunft – sechs Kräfte, die unsere Welt verändern.“ Eines Ihrer Themen auf 624 Seiten darin ist das Verhältnis von Sicherheit und Überwachung im Internet. Edward Snowden erwähnen Sie nicht – warum?

Gore: Ganz einfach, ich wusste noch nichts von ihm, als ich das Buch abschloss. Das, was durch ihn ans Licht kam, war dennoch nichts völlig Neues. Frühere NSA-Informanten, die ich ja im Buch nenne, hatten die Dimension schon umrissen.

Die Welt: Sie schreiben, Banken kalkulierten bei Internettransaktionen inzwischen mit Millionstelsekunden. Genauso schnell könnte ein Cyberangriff ablaufen. Wie schützen wir uns davor?

Gore: Wir brauchen Abwehrstrategien, vor allem aber Reformen zum Schutz der Privatsphäre. Der digitale Fortschritt und die Angst vor dem Terrorismus, die die Regierung Bush zum Teil ausnutzte, haben zu Missbrauch geführt. In den USA unterstützen mittlerweile beide großen Parteien Reformen. Ich bin mir sicher, der Kongress wird in der Frage handeln.

Die Welt: Manche glauben, dass China bald der weltgrößte Forschungsstandort für Gentechnik wird, während Deutschland sich sogar gegen Genmais stemmt. Können Sie die deutsche Haltung nachvollziehen?

Gore: Klar kann ich das nachvollziehen. Die gentechnische Veränderung von Pflanzen und Tieren muss reguliert werden. Die meisten Eingriffe sind unkritisch, aber eben nicht alle. Die großflächige Anwendung von Antibiotika in Mastställen ist ein Beispiel: Diese Ställe sind zur Brutstätte für impfimmune Bakterien geworden, das bedroht ein ganzes Jahrhundert Medizinfortschritt. Das sollten wir wohl im Kopf haben, wenn wir immer heiklere Entscheidungen zu immer ausgefeilteren, manchmal subtil verführerischen Gentechnologien treffen müssen.

Die Welt: Sie sitzen im Aufsichtsrat von Apple und waren früher Berater bei Google. Der Europäische Gerichtshof beschloss in dieser Woche das sogenannte Recht auf Vergessenwerden durch Suchmaschinen. Es wird breit diskutiert, ob Google die Zeitungsverlage ruiniere und Bezahlschranken eine Chance haben. Sollte es Grenzen geben für das, was Firmen wie Google tun und lassen dürfen?

Gore: Was soll ich sagen, es ist der klassische Fall, dass neue Technik die alte verdrängt. Faire Regeln sind hier natürlich wichtig. Die aktuellen Auseinandersetzungen zu Google aber will ich nicht kommentieren, ich kenne auch die Details nicht.

Die Welt: Sie waren selbst mal Reporter, im Vietnamkrieg. Haben es Journalisten heute leichter oder schwerer?

Gore: Es wäre geheuchelt zu sagen, ich sei ein Experte auf diesem Gebiet. Es gab für Journalisten eine goldene Zeit, da hatten Zeitungen und Magazine Geld für hoch qualifizierte Autoren und investigativen Journalismus. Der Druck durch das Fernsehen und besonders das Internet ist für viele Medien ein Problem. Ich glaube aber, es beginnt gerade ein neues goldenes Zeitalter. Es gibt zwar noch keine erprobten Geschäftsmodelle für Internetjournalismus, aber es gibt gute Gründe zu glauben, dass der Journalismus im Internet noch viel größere Chancen hat als in den besten Tagen des Prints.

Die Welt: Sie kämpfen gegen den Klimawandel, andererseits arbeiten Sie für Stromfresser wie Apple oder Google. Kein Widerspruch?

Gore: Nein. Apple ist ökologisch vorbildlich. Das Unternehmen bezieht seinen Strom für die Serverfarmen bereits zu 100 Prozent aus Solarzellen und Windparks und deckt bald seinen gesamten Verbrauch mit Alternativenergie. Darauf bin ich stolz. Gut, Google hinkt noch etwas hinterher, aber verfolgt dasselbe Ziel.

Die Welt: Wie sieht Ihre persönliche CO2-Bilanz aus: Schalten Sie nachts Computer und Handys ab? Nutzen Sie noch chemische Reinigungen?

Gore: Ich tue, was ich kann. Sowohl zu Hause als auch im Büro nutze ich erneuerbare Energien. Mein Dach ist eine einzige Solarzelle, im Garten habe ich geothermische Brunnen. Bei mir zu Hause in Nashville gehe ich zur grünen Reinigung. Auf Reisen lasse ich meine Kleidung normalerweise nur bügeln.

Die Welt: Eine Frage noch an den Preisträger des Oscars, den Sie 2006 für Ihre Dokumentation „Eine unbequeme Wahrheit“ über die globale Erwärmung erhielten: Was war das Beste, das Sie von Schauspieler und Regisseur Tommy Lee Jones gelernt haben, Ihrem früheren Mitbewohner in Harvard?

Gore: Ha! Ja, er war und ist für mich ein wirklich guter Freund, einer meiner engsten. Wir stammen ja beide aus dem Süden und waren fasziniert von – Wurfmessern! Das haben wir – heute würde ich es nicht mehr machen – eifrig an Bäumen trainiert. Na gut, die Bäume haben es zum Glück überlebt.

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