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Politik Abschied aus der Politik

Darum ging Franz Müntefering wirklich

dpa-Bild des Jahres 2007: Platz 1 Politik dpa-Bild des Jahres 2007: Platz 1 Politik
Schließt ein Comeback nicht aus: Ex-Vizekanzler Franz Müntefering kritisiert den Kurs von Kurt Beck
Quelle: DPA
Der 13. November 2007 ist ein Tag, der die Berliner Republik erschüttert: Franz Müntefering kündigt seinen Rücktritt als Arbeitsminister und Vizekanzler an – weil er seiner krebskranken Frau beistehen will. Für die SPD ist sein Abgang nur schwer zu verkraften. Immer mehr Genossen sehnen sich nach seiner Rückkehr.

Bald schon wird sich alles ändern. Die Statik der Großen Koalition, die Machtstruktur in der SPD, der Umgang miteinander in Regierung wie Partei, der Anteil des Authentischen in der Politik. Bald schon wird das, was zwei Jahre zuvor als so eigenwillige Mischung aus Zwangsehe und Glücksverheißung begann, das schwarz-rote Bündnis in Berlin, seine bis dato größte Zäsur erleben. Bald schon wird das Menschliche in die Politik hereinbrechen. Bald schon wird das Leben des Franz Müntefering ein anderes sein – nicht besser, nicht schlechter, anders eben.

Doch der Tag, es ist der 13. November 2007, an dem sich, wie man so sagt, die Ereignisse noch überschlagen werden, beginnt zäh, beginnt in der gedehnten Zeit eines nächtlichen politischen Stellungsgefechts. Seit 19.30 Uhr des Vortages tagt der Koalitionsausschuss, beraten die Spitzen von CDU/CSU und SPD bei Angela Merkel im Bundeskanzleramt. Kurz nach Mitternacht geht nichts mehr. Gereizte Stimmung, verhärtete Fronten, überall Probleme, nirgends eine Lösung. Es geht um den Post-Mindestlohn, Münteferings Thema.

Bis in die späten Abendstunden hinein hat Müntefering immer wieder mal den Sitzungssaal verlassen, um zu telefonieren. Privat. Um 23.30 Uhr haben sich beide Seiten separat zurückgezogen, um einen Ausweg auszuloten. Als sie gegen 1 Uhr wieder zusammenkommen, beharren Union und SPD weiterhin auf Positionen, die keinen Kompromiss erlauben. Müntefering ist kurz davor, „im Stehen zu argumentieren“, wie er das nennt, wenn er sich fürchterlich aufregt, bleibt aber sitzen. Noch mehr als eine Stunde halten beide Seiten unter mittelschwerem Beschuss ihre Stellungen – ohne den geringsten Geländegewinn.

Beck macht lautes Getöse und Müntefering zieht sich zurück

Um 2.30 Uhr in der Früh treten SPD-Chef Kurt Beck, sein CSU-Pendant Erwin Huber sowie die Vorsitzenden der beiden Bundestagsfraktionen, Peter Struck (SPD) und Volker Kauder (CDU), vor die Kameras am Kanzleramt. „Wortbruch“, giftet Beck, „Quatsch“ Kauder. Hoch oben, in der achten Etage des Kanzleramtes sitzen die übrigen Großkoalitionäre noch auf ein Glas beisammen. Der Rote nach dem Sturm. Nur Müntefering zieht sich umgehend zurück. Nicht, weil er verärgert ist, dass er sein Renommierthema, den Mindestlohn, nicht durchsetzen konnte. Nicht, weil ihm die, wie er das später nennen wird, „blanke Lobbypolitik“ von CDU und CSU die Laune verdorben hat. Nicht, weil er persönlich enttäuscht ist von einer Kanzlerin, die ihm schon bei einem Gespräch im Juni, noch vor der Kabinettsklausur von Meseberg, signalisiert hat, seine Pläne mitzutragen, und die ihn in dieser Nacht, wie er das empfindet, so schmählich im Stich ließ. Müntefering zieht sich zurück, weil er nicht sagen will, was er sagen müsste, wenn er bliebe.

Die Stunden zuvor, als es um die Bahn-Privatisierung ging, um die Senkung des Arbeitslosenbeitrags, um die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, um den Post-Mindestlohn, war es leicht durchzuhalten, das Schweigen in eigener Sache. Jetzt, beim zwanglosen Ausklang einer langen Nacht, ginge das nicht mehr. Müntefering müsste sagen, was er vor fünf Tagen entschieden hat: dass er sein Amt als Bundesminister für Arbeit und Soziales niederlegen wird – und damit auch seine Funktion als Vizekanzler. Bald schon, in wenigen Stunden.


17 Tage zuvor, am 27. Oktober, beim Delegiertenfest des Parteitages der SPD, gönnt sich Müntefering zu vorgerückter Stunde an einem Stehtisch im Congress Center Hamburg (CCH) noch ein Pils. Typisch. Lieber Bier als Wein, lieber Zweireiher von der Stange als Einreiher vom Edelausstatter, lieber rote Anstecknadel aus dem „Willy wählen“-Wahlkampf am Revers als dicke Zigarre aus Havanna im Mund, lieber sauerländische Kargheit als schaumgekröntes Aufsteigergetue, lieber Stehtisch mit Volk als Blitzlicht mit Prominenz.

In der Innentasche von Münteferings Sakko steckt ein DIN-A4-Blatt, zweimal gefaltet, so wie man einen Brief faltet, bevor man ihn in einen Umschlag steckt. Am Morgen hat Müntefering das gefaltete Blatt aus seinem Sakko gezogen, hochkant vor sich hingelegt – und, so sieht es aus, wild drauf rumgekritzelt; so wild, dass das Geschriebene wohl nur noch von Müntefering selbst zu dechiffrieren ist. Es ist Münteferings Redemanuskript. Der Entwurf eines Vortrags, mit dem ihm am Nachmittag Überraschendes, ja Sensationelles gelungen war. Ein Dokument für das Bonner Haus der Geschichte.

Müntefering zeigt sich "tief enttäuscht"

Es ist kurz nach 7 Uhr in der Früh, als Müntefering sich am Tag seines Rückzugs erstmals öffentlich äußert. Nicht über das, was kommt, sondern über das, was war. Der Deutschlandfunk hat mit seinem Büro bereits vor Tagen ein Telefoninterview für den Morgen nach dem Koalitionsgipfel vereinbart. In zweieinhalb Stunden wird Müntefering erneut im Kanzleramt sein, diesmal, um Frau Merkel seinen Rücktritt mitzuteilen. Selbstverständlich sagt er das Interview nicht ab. Zugesagt ist zugesagt. Und es fällt ihm überhaupt nicht schwer.


Schwer war es, eine Entscheidung zu treffen. Schwer war es, einen genauen Ablaufplan auszutüfteln, wer wann zu informieren ist. Die Entscheidung umzusetzen, den Ablaufplan einzuhalten, ist leicht. Also steht Müntefering der Deutschlandfunk-Moderatorin Elke Durak kurz nach sieben Rede und Antwort. In seiner Wohnung in Berlin-Mitte, nach drei Stunden Schlaf. Müntefering zeigt sich „tief enttäuscht“ darüber, dass eine Einigung mit der Union beim Post-Mindestlohn nicht möglich war. Beide würden „offensichtlich Lobbypolitik für ganz bestimmte Leute“ betreiben, sie hätten sich letzte Nacht verweigert. Auf die Frage „Und, geben Sie auf?“ antwortet Müntefering: „Nein. Aufgeben tun wir nie.“

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Nach dem Gespräch verlässt Müntefering seine Wohnung, läuft über die Straße – und betritt das Gebäude des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Das Koalitionsfrühstück mit den Spitzen der Arbeitsgruppen um 7.30 Uhr lässt er sausen. Er hat anderes zu tun.


Müntefering ist als ein de facto Ausgestoßener zum Parteitag nach Hamburg gekommen; als Lordsiegelbewahrer eines Parteierbes, das die Partei nicht mehr haben will; als letzter Schröderianer, dem zuletzt sogar Gerhard Schröder selbst von der Fahne gegangen ist; als Zuchtmeister einer Reformpolitik, von der die Sozialdemokraten immer entschiedener abrücken – und als ein geschlagener Mann. Im Streit mit SPD-Chef Kurt Beck über die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, das Symbolthema für das Abrücken von Schröders einstigem Reformprojekt, der Agenda 2010, war Müntefering am Montag vor dem Parteitag endgültig unterlegen. Der SPD-Vorstand entschied mit großer Mehrheit für den Parteichef und gegen den Vizekanzler. Für die Sozialdemokraten war Müntefering der Verlierer – in den Augen der Wähler aber ein Gewinner.


Schon lange hatten sie so etwas nicht mehr erlebt. Geprägt von der Erfahrung, dass die Politik im überdrehten Medienzeitalter dem Zeitgeist hinterher hechelt, gelockt von einer neuen Partei, der Linken, die Gestalten in Zeiten der Globalisierung ungeniert als Wiederholung des „Wünsch dir was“-Programms der 70er-Jahre präsentiert, geführt – zuweilen gar an der Nase herum – von einer Kanzlerin, die im Wahlkampf radikalreformerisch redet und im Alltag radikalsozialdemokratisch regiert, durften die Deutschen etwas erleben, was sie lange entbehren mussten: Wie ein Politiker radikal zu dem steht, was er für richtig hält. Selbst wenn es im Höchstmaß unpopulär ist, ob nun in der Partei oder weit über sie hinaus. Die Wähler dankten es.


In Umfragen befürworteten sie zwar deutlich die becksche Wende, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wieder zu verlängern, nachdem die SPD diese im Rahmen der Agenda-Politik zuvor gekürzt hatte. Zugleich ließen sie aber den aufrechten Müntefering am wendigen Beck in den Popularitätswerten vorbeiziehen. Die Leute wollten zwar nicht Münteferings Politik, aber sie wollten Politiker wie Müntefering. Im Unterschied zur SPD.


Die meisten Sozialdemokraten hatten da genug von ihrem „Münte“. Von den Zuchtmeistereien, von dem „Politik ist Organisation“-Credo, von den Mahnungen vor der Sehnsucht nach dem Vergangenen, von dem Regierungsfähigkeits-Mantra, von der Kurs-halten-Rhetorik. Vergessen die sozialdemokratischen Erweckungsmessen, bei denen die Basisgenossen einst, im Frühjahr und Sommer 2004, die Dreiwortsätze ihres neuen Parteivorsitzenden inhalierten wie Katholiken den Weihrauch. Verflogen die Dankbarkeit, als ihnen der heilige Franz der Mehrzweckhallen erschien, der dem schröderschen Reformkurs nicht nur einen Namen und viele Spiegelstriche gab, sondern auch Sinn und Überbau. Vorbei, der Kult um Franz. Die Genossen hatten genug.


Genug von, wie ausgerechnet Gerhard Schröder spottete, einem „Moses“, der ihnen die Agenda 2010 wie die Zehn Gebote vor die Nase hielt – sie wollten lieber tanzen. Tanzen um den vergoldeten Kurt. Um ihren neuen Parteichef Beck. Der war ihnen zwar gestern noch als ein von der Aura der Niederlage umwehter bräsiger Provinzfürst erschienen, zu pfälzisch-brummbärig für die große Berliner Schaubühne.


Doch nach seiner Wende wider die Agenda sah er plötzlich ganz anders aus, er sah aus wie die rosarote Zukunft. Wie ein Mann, der die SPD zurückführen wird zu einer Politik, die noch wärmte. Zu einer Zeit, als es noch keine Neue Mitte, keine Zumutungen und keinen Mitgliederschwund gab. Zu dem Gefühl, Sozialdemokrat und stolz darauf zu sein. Zu einer Welt, in der das Morgen so schön sein wird, wie das Gestern war – und mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes hat der Kurt ja den ersten Beweis bereits geliefert, dass dies möglich ist. Müntefering hält das für Unfug.

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Diese Stimmung, die Anti-Münte/Pro-Beck-Stimmung, dominiert die ersten Stunden des SPD-Parteitages von Hamburg. Am frühen Nachmittag des zweiten Tages tritt Müntefering ans Rednerpult, ohne Sakko, knallrote Krawatte über grauem Hemd. Als er zu reden beginnt, verstummt das Gemurmel. Journalisten verlassen ihre Presseplätze, um näher dran zu sein am Geschehen. Müntefering spricht über den Mindestlohn der Arbeitnehmer und die Höchstlöhne der Manager, er spricht über die Würde des Menschen, über Globalisierung, Mobilität und die Erfolge der Agenda-Politik. Müntefering fordert den ökologischen Umbau der Wirtschaft, mahnt, sich auf die alternde Gesellschaft einzustellen und stellt die naheliegende Frage, wer das alles bezahlen soll.

Es fehlt der rote Faden, der tiefere Sinn, die Botschaft

Natürlich ist wichtig, was er sagt. Noch viel wichtiger ist aber, wie er es sagt. Am Tag zuvor haben die 500 Delegierten ihren Parteichef reden hören, reden hören müssen, ewig dauernde eindreiviertel Stunden lang. Es war eine Rede, wie man sie von Kurt Beck schon öfter gehört hat. Die Sätze beginnen im Irgendwo, führen über Endlosschleifen zum Prädikat und verlaufen sich schließlich im Nirwana unerforschter Schachtelkonstruktionen. Es fehlt der rote Faden, der tiefere Sinn, die Botschaft.


Ganz anders Müntefering. Klare Struktur, klare Worte, klare Kante. Hier will einer führen – und nicht kuscheln. Hier will einer eine politische Linie vorgeben, Widerstände überwinden, seine Genossen mitnehmen – und nicht mit weitem Herz für alle da sein. Hier beweist einer, ein Spätberufener, dass man jenseits der 60 immer noch von Jahr zu Jahr besser werden kann – und mit 67 noch lange nicht reif für die Rente sein muss. Und je länger Müntefering spricht, desto spürbarer wird, dass hier gerade etwas Überraschendes, ja Sensationelles, wenn nicht gar Wundersames geschieht: Müntefering wieder belebt sich selbst – und die SPD gleich mit.


Viele hatten vom Hamburger Parteitag einen politischen Abgesang auf Müntefering erwartet, ein politisches Begräbnis der Vizekanzlerklasse, bei dem der Verschiedene selbst die Grabrede hält und die Delegierten andächtig schweigen. Doch jetzt jubeln sie, die Delegierten, lassen sich von einem Mann, den sie 45 Minuten zuvor mit Eiseskälte empfangen haben, nun zu stehenden Ovationen hinreißen. Einen stärkeren Auftritt als den von Müntefering in Hamburg hat die SPD schon lange nicht mehr erlebt.


Noch ein Pils also, abends, beim Parteifest am Stehtisch im CCH. Müntefering fühlt sich wieder aufgenommen, respektiert, fühlt sich wieder zu Hause in seiner SPD. Und er fühlt auch die Verpflichtung weiterzumachen. Nicht zuletzt für all jene in der Partei, die ihm in den vergangenen Tagen und Wochen Briefe geschrieben, ihn angemailt, mit ihm telefoniert haben. Sein Kurs sei der richtige, ohne ihn gerate die SPD in linke Schräglage, hieß es da stets. In dieser Stimmung steigt er rund 16 Stunden später, als der Parteitag zu Ende ist, in seinen Dienstwagen. Es ist ein Sonntag. Auf der Fahrt nach Berlin klingelt das Telefon. Seine Frau Ankepetra.


Kurz nach acht Uhr ruft Müntefering seine engsten Mitarbeiter im Ministerium zusammen, nicht mehr als drei, vielleicht vier Personen – und informiert sie in seinem Büro über seine Entscheidung. Ein kurzer Anruf im Kanzleramt, um den Vizekanzler für 9.30 Uhr anzukündigen. Anschließend fährt er rüber in den Bundestag, zu Peter Struck, danach weiter zur Kanzlerin. Angela Merkel ist perplex. In einer Mischung aus Mitgefühl und Sorge, Mitgefühl mit den Münteferings, Sorge um die Stabilität ihrer Regierung, bietet sie ihrem Stellvertreter eine Auszeit an, sechs, sieben Woche solle er zu Hause bleiben, dann könne man weitersehen.


Müntefering weiß, dass die Perspektive aussichtslos ist, und lehnt ab. Er bittet die Kanzlerin, sich erst öffentlich zu äußern, nachdem er selbst sich am Nachmittag vor der Presse erklärt hat. Frau Merkel hält sich daran. Sie wird Müntefering später, am frühen Abend, als „Stabilisator“ der Großen Koalition würdigen. „Er stand für Vernunft in der SPD. Aber es gibt im Leben Wichtigeres als Politik.“

Der Vize-Kanzler eilt besorgt zu seiner Frau

Ankepetra Müntefering berichtet am Telefon von neuen Schwierigkeiten, von neuen Komplikationen. Vier Krebsoperationen hat die 61-Jährige bereits hinter sich, die Krankheit ist seit geraumer Zeit wieder da, die Symptome werden stärker. Müntefering macht sich Sorgen, seine Frau beschwichtigt, gemeinsam verabreden sie, Franz solle keine weiteren Termine absagen. Den letzten Koalitionsgipfel hat er wegen der Erkrankung seiner Frau erst kürzlich ausfallen lassen müssen. Weitere Untersuchungen sollen zunächst einmal abgewartet werden. Doch die verheißen nichts Gutes. Am Dienstagabend bricht Müntefering seine Reise zu Unternehmen in Süddeutschland ab und fährt, von Bayern aus, nach Bonn.


Dorthin, in die alte Heimat, sind die Münteferings von Berlin zurückgezogen, als im Frühjahr 2007 klar war, dass Ankepetra nach einer neuerlichen Krebsoperation und anschließender Chemotherapie ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen kann. Und in Bonn musste sie nun, an diesem Dienstag, in die neurochirurgische Uniklinik auf dem Venusberg eingeliefert werden. Lähmungserscheinungen, womöglich Folge eines Tumors im Kopf. Untersuchungen in den kommenden zwei Tagen bringen Gewissheit: Ankepetra Müntefering muss operiert werden, der Termin wird für Montag, den 5. November, angesetzt.


Franz und Ankepetra Müntefering sind seit 1995 verheiratet, für beide ist es die zweite Ehe. Seit Jahren bereits leben sie mit der Krankheit. Ihm ist stets bewusst, dass ein Punkt erreicht werden könnte, an dem beides nicht mehr zusammenpasst, das Leben für die Politik und das Leben für Ankepetra. Ein Punkt, an dem er sich entscheiden muss. Franz Müntefering führt vor der Operation zahlreiche Gespräche mit den Ärzten, über die Risiken des Eingriffs, über die Symptome danach, über notwendige Rehamaßnahmen. Als seine Frau operiert wird, ist das Ausmaß dessen, was folgt, noch nicht abzusehen. Die kommenden drei Tage bleibt es weiter unklar.


Am Donnerstag, dem 8. November, führt Müntefering ein langes Gespräch mit der leitenden Ärztin – und danach hat er Gewissheit: Das Leben für die Politik und das Leben für Ankepetra passen nicht mehr zusammen. Müntefering wandelt die Flure der Uniklinik entlang – und entscheidet. Mit seiner Frau hat er sich beraten, mit sonst niemandem. Nicht mit seinen beiden Töchtern, nicht mit Freunden, nicht mit Vertrauten aus der Politik. „Ich war meistens ein Alleiner“, hat Müntefering einmal in einem Interview mit dem Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt.


Und Alleiner entscheiden für sich selbst. Sie müssen es, und sie wollen es auch. Alleiner entscheiden nach einem Prinzip, dem Müntefering stets gefolgt ist, schon als junger Mann. Damals, als er gerade mal 21 Jahre alt war und mit seinem Verein, dem TuS Sundern, gegen die Sportfreunde aus Neheim antreten musste. Sauerland-Derby.


Kurz zuvor hat er sich noch neue Fußballschuhe gekauft, vorne schön flach, keine mehr mit Stahlkappe. „Wenn wir gegen die nicht gewinnen, dann höre ich auf“, sagt Müntefering vor dem Spiel in der Umkleidekabine. Oder gut 40 Jahre später, als er, seit gut eineinhalb Jahren SPD-Vorsitzender, seinen Wunschkandidaten für den Posten des Generalsekretärs nicht durch die Parteigremien bringt. Und wenn dann ein Fußballspiel nur 1:1 endet oder Kajo Wasserhövel als Kandidat scheitert, dann folgen Alleiner dem, was ihrer Natur entspricht, sie folgen dem Prinzip klare Kante – und Schluss. Ein münteferingscher Imperativ.

Medienhype um Müntes Rückzug

Kaum hat Müntefering das Kanzleramt verlassen, bricht der Medienhype los. Die „Berliner Zeitung“ meldet als erste den Rückzug des Vizekanzlers aus „rein familiären Gründen“. Eilmeldungen, Bestätigungen, Stellungnahmen jagen einander, um 16.30 Uhr, so eine Ankündigung, wird sich Müntefering vor der Bundespressekonferenz erklären. Um 10.45 Uhr informiert der Arbeitsminister die Staatssekretäre über die Hintergründe, die Spitze seines Hauses, danach den erweiterten Kreis seines Büros, seine Mitarbeiter im Bundestag, und im sauerländischen Wahlkreis beruhigt er mit der Nachricht, er werde Abgeordneter bleiben – und sie werden ihre Jobs behalten. Dann schreibt er einen Brief an die Partei.


Dazwischen Telefonate mit dem Willy-Brandt-Haus. Gegen Mittag steht fest: Steinmeier wird Vizekanzler, Scholz Arbeitsminister, so wie Müntefering es wollte. Beck tritt nicht ins Kabinett ein. Der SPD-Chef erreicht um 14.45 Uhr Bundespräsident Horst Köhler in Afrika und informiert ihn über die Vorgänge. Um 15 Uhr erscheint Müntefering vor der SPD-Fraktion, die Abgeordneten erheben sich. Unsicher wirken sie, wie sie mit der Situation umgehen sollen.


Struck erteilt Müntefering das Wort, seinem Vorgänger im Amt. Für diesen, den einstigen Zuchtmeister der Fraktion, ist dieser Moment der vielleicht emotionalste an diesem Tag. Müntefering, der Rationalist, sei „fast zu Tränen gerührt“, so berichten Teilnehmer, als er zu den Abgeordneten spricht: „Ich werde zu Hause schlichtweg gebraucht.“ Dass er wegen des Koalitionskrachs hingeworfen habe, sei Unfug. „Ich bin Streit nie aus dem Weg gegangen.“ Und zum Schluss: „Ihr seid klasse. Ran an die Arbeit.“


Wie erklären, wie vorgehen, wen informieren, wann in die Öffentlichkeit gehen, wie sich verabschieden, wie vermeiden, dass alle Welt über andere Rücktrittsgründe spekuliert, über politische, wie alles so organisieren, dass keiner Schaden nimmt? Nicht er selbst, nicht das Ministerium, nicht die Regierung, nicht die SPD – die vor allem nicht.


In den kommenden Tagen entwirft Müntefering den Fahrplan seines Rückzuges. Erster Schritt: diejenigen informieren, die es persönlich betrifft. Also telefoniert Müntefering am Sonntag, es ist der 11. November, mit seinen Töchtern, den Kindern seiner Frau – und mit seinem engsten politischen Vertrauten, Kajo Wasserhövel, mittlerweile Staatssekretär im Arbeitsministerium, wo er als eine Art Vizekanzleramtschef die SPD-geführten Ressorts koordiniert. Wasserhövel versucht gar nicht erst, Müntefering umzustimmen. Dafür kennt er ihn zu gut. Er weiß seit Langem, dass ein solcher Moment kommen konnte. Schnell besprechen sie den weiteren Ablaufplan. Wichtigste Punkte: der Koalitionsausschuss am nächsten Abend soll beraten wie geplant, das Thema Post-Mindestlohn darf nicht überschattet sein vom Rücktritt. Und: Kurt Beck soll vorher informiert werden. Das gehört sich so.

Müntefering macht sich insbesondere für Scholz stark

Deshalb trifft Müntefering den SPD-Chef schon am Montagnachmittag gegen 17 Uhr zum Vieraugengespräch im Willy-Brandt-Haus. Eine Stunde sprechen die beiden miteinander. Zunächst legt Müntefering seine Gründe dar, schildert die Situation seiner Frau Ankepetra, Beck fragt behutsam, mitfühlend nach.


Doch schnell sind die beiden bei den Folgen seines Rückzugs, bei der Frage, wer nachrücken könnte, wer Vizekanzler und wer Arbeitsminister werden soll. Die Namen Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz fallen da bereits. Müntefering macht sich insbesondere für Scholz stark. Beck lässt sich von Müntefering die Erlaubnis geben, den SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck zu informieren. Kurz darauf sitzen die drei mit den übrigen SPD-Teilnehmern zusammen, um den Koalitionsgipfel vorzubereiten. Kein Wort vom anstehenden Rücktritt.


So routiniert läuft alles ab, dass niemand etwas ahnt. Um 19.15 Uhr bricht die SPD-Delegation ins Kanzleramt auf. Eine Viertelstunde später beginnen dort die Verhandlungen. „Wenn ich kalt dusche, zähle ich bis hundert. Ich gehe nicht eher drunter weg“, hat Müntefering einmal gesagt. Und wenn er verhandelt, dann kämpft er unverdrossen weiter. Selbst wenn er sich dabei so fühlt wie beim Kaltduschen, wenn sich – im wärmefernen Niemandsland – die Sinnfrage stellt: „Was mache ich hier eigentlich?“

Müntefering will sich nicht erklären, nur verabschieden

Um 16.30 Uhr beginnt Münteferings Pressekonferenz. Er will sich nicht nur erklären, sondern auch von den Journalisten verabschieden, die ihn in den letzten Jahren, den Jahren seines späten politischen Höhenflugs, eng begleitet haben. Das gehört für ihn dazu.


Münteferings Abschiedsvorstellung bietet, paradoxerweise, eine wunderbare Gelegenheit, ihn kennenzulernen. So weit er so etwas überhaupt zulässt, das Kennen lernen. Jedenfalls kann man nach den rund 50 Minuten Münte-Gala gut verstehen, warum langjährige Fraktionsmitarbeiter, die ihre Vorsitzenden haben kommen und haben gehen sehen, mit glasigen Augen und belegter Stimme sagen: „Franz ist der Beste.“ Und man kann gut verstehen, warum langjährige enge Mitarbeiter, die Müntefering jeden Morgen haben kommen und jeden Abend haben gehen sehen, letztlich auch an ihm verzweifeln: „Wie der Franz wirklich tickt – keine Ahnung.“


Müntefering präsentiert noch einmal all das, worauf die Sozialdemokraten, die Große Koalition und das ganze politische Berlin – für lange Zeit, vielleicht für immer – werden verzichten müssen: Klarheit in der Sprache, Herzblut in der Sache, Selbstironie – und ein Resträtsel, das sich nie auflösen lässt.


Müntefering beginnt mit „Ich habe was Neues“ und endet mit „Ein Arbeiterführer reicht“. Dazwischen erläutert er den Grund seines Rücktritts und bilanziert die 16 Jahre politische Arbeit in herausgehobener Position mit: „Ich habe etwas erreicht, bin ganz zufrieden, hat Spaß gemacht“ – und beantwortet geduldig Fragen. Wie die beiden wichtigen Frauen, seine Gattin und die Kanzlerin, auf seinen Entschluss regiert hätten? „Meine Frau findet das gut – die Kanzlerin nicht.“ Ob Frau Merkel nach ihrem Nein zum Post-Mindestlohn noch eine verlässliche Partnerin sei? „Jeder Mensch kann sich bessern, keiner wird abgeschrieben.“


Als der scheidende Vizekanzler auf die Frage, wer denn nun, da er ja gehe, für die SPD der große Stabilisator in der Koalition sein solle, ungewohnt ausweichend antwortet, entgegnet ihm der Frager: „Ich weiß immer noch nicht, wer das sein soll.“ Replik Münteferings: „Ich auch nicht.“


Doch Müntefering gewährt auch Einblick in sein Selbstbild. Immer wieder betont er die „Verantwortung für das Ganze“, „das Augenmaß“ – „dafür stehe ich“. Partikularinteressen, parteigeleitete Wohlfühlpolitik, die Sehnsucht nach programmatischer wie ideologischer Reinheit – all das wurde ihm mit zunehmendem Alter regelrecht zuwider. Etwas als richtig erkennen, dafür streiten, es gegen Widerstände durchsetzen: So geht Politik. Und nicht dem Zeitgeist hinterher hecheln – und nicht den Umfragen.


Lust, weiter mitzumischen, so Müntefering am Ende, habe er schon noch. „Aber jetzt müssen erst mal alle gesund werden, dann sehen wir weiter.“ Eins würde ihn ja schon noch reizen: bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen das SPD-Kernland zurückerobern. „Ich bin ja dann erst 70.“


Die Uniklinik auf dem Venusberg in Bonn. Franz Müntefering ist nach seiner Pressekonferenz sofort zum Flughafen aufgebrochen und an den Rhein geflogen. Jetzt steht er am Bett seiner Frau. Im Fernsehen laufen Sondersendungen über seinen Rücktritt, das politische Berlin erregt sich, die Republik ist erschüttert. Müntefering interessiert das alles nicht. Er lässt ein zweites Bett in das Zimmer seiner Frau bringen – und legt sich hin. Das Leben für die Politik ist zu Ende. Das Leben für Ankepetra beginnt jetzt erst richtig.

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