Der sozialistische Praktiker der Kritischen Theorie

Jörg Später | Nachruf |

Der sozialistische Praktiker der Kritischen Theorie

Nachruf auf Oskar Negt

Porträt von Oskar Negt
Porträt von Oskar Negt, Quelle: Wikimedia Commons, © Maoista-bodhisattva

Oskar Negt gehörte zu den markantesten politischen Intellektuellen der Bonner Republik. Die Zeit seiner größten Wirkung lag in den 1970er-Jahren, nachdem sich der „58er“ – wie er sich nannte – als Mentor der antiautoritären Protestbewegung bereits um 1968 einen Namen gemacht hatte. Nach dem Zerfall des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) bewährte er sich als Vordenker der Neuen Linken. Dass er Soziologieprofessor wurde, überraschte ihn selber, da er seinen Weg eher in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit gesehen hatte.

Oskar Negt, geboren 1934, wuchs auf einem wohlgeordneten Kleinbauernhof in der Nähe von Königsberg, der Stadt Immanuel Kants, auf. Seine ostpreußische und bäuerliche Herkunft war zwar bekannt, über seine lebensgefährliche Flucht als Kind gegen Kriegsende sprach er jedoch erst gegen Ende der 1990er-Jahre öffentlich. In seiner Autobiografie „Überlebensglück“ (2016) kann man nachlesen, wie er sein Elternhaus verlor und lernte, Arbeitsfelder zu beackern, Wissensvorräte anzulegen. Protestantische Arbeitsethik und kantische Gewissenhaftigkeit schienen ihm offenkundig in die Wiege gelegt. Das Überlebensglück musste nachträglich und redlich verdient werden.

Frankfurter Schuljahre

Negt studierte ab 1955/56 in Frankfurt bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Philosophie und Soziologie. Die Erfahrungsspuren von Krieg, Zusammenbruch auch der familiären Ordnung und Flucht prägten auch die Frankfurter Lehrjahre. Trotz aller philosophischen Höhenflüge, die er nun dank Horkheimer, Adorno und Habermas unternehmen konnte, waren seine eigenen sozialphilosophischen Schritte davon angetrieben, Auswege aus dem Unglück zu finden und immer das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Negt wusste, dass Lebensverhältnisse und Lernprozesse unmittelbar zusammengehören, so wie Freiheitsmöglichkeiten und eine sozialistische Ethik nicht voneinander zu trennen sind. Überhaupt wurde bei Negt „Erfahrung“ zum Zentralbegriff von Erkenntnis und Interesse, von Genesis und Geltung einer kritischen Theorie in sozialistischer Absicht.

Dieser Schüler Adornos war so ganz anders als sein musisch-bürgerlicher Lehrer. Während Adorno sogar eine Schwäche für den Adel hatte, legte Negt Wert auf seine Bindung an die Arbeiterbewegung. Der pädagogischen Vermittlung legte Negt einen hohen Stellenwert bei, da orientierte er sich am älteren der Frankfurter Lehrer: „Horkheimer hatte die Fähigkeit, auch den dümmsten und abwegigsten Fragen einen rationalen Kern abzugewinnen; das ermutigte sehr viele, sich an dem philosophischen Gespräch zu beteiligen.“[1] An Adorno beeindruckte Negt am meisten, dass dieser Kant und Marx in all ihrer Gegensätzlichkeit zusammendachte.

„Kritische Theorie“ bedeutete für Negt die Anmaßung, auf die gesellschaftliche Totalität zu zielen und dabei dialektisch vorzugehen, also in jedem einzelnen Phänomen das Allgemeine zu entschlüsseln und das Subjekt vor der totalen Vergesellschaftung zu schützen. Dabei zeichnete ihn ein für Frankfurter Verhältnisse eigentümliches Verhältnis zur Praxis aus: Negt war ein Praktiker der kritischen Theorie, die er lieber klein schrieb. Denn zur „Frankfurter Schule“ zählte er nicht nur seine Frankfurter Lehrer, sondern die gesamte Tradition der von Kant und Marx herkommenden kritischen Tradition im zwanzigsten Jahrhundert, von Karl Korsch über Wolfgang Abendroth, den linkssozialistischen europäischen Genossen, bis hin zu Jürgen Habermas, mit dem ihn ein besonderes, manchmal aber prekäres Verhältnis verband.

Politische Arbeiterbildung

Mehr als für andere Frankfurter Schüle gab es für Negt ein Leben außerhalb der Universität. Er engagierte sich im SDS und trat als Vermittler zu linken Gruppen, den Gewerkschaften und der SPD in Erscheinung, aus der er wie alle anderen SDS-Mitglieder 1961 allerdings ausgeschlossen wurde. Ab Winter 1960 bekleidete Negt eine Assistentenstelle an der DGB-Bundesschule Oberursel und wurde praktisch Schulleiter, weil der offizielle Leiter für den Internationalen Bund Freier Gewerkschaften in Afrika in Sachen Organisationshilfe tätig und daher kaum anwesend war.[2] In der Bildungsabteilung des Hauptvorstandes der IG Metall, wo Negt seinen Platz fand und sich mit dem späteren multiplen Bundesminister Hans Matthöfer anfreundete, ging es wie am Institut für Sozialforschung erneut ums Lernen, dieses Mal aber explizit um politische Bewusstseinsbildung, mit Negt in der Rolle des Lehrers. „Erziehung, Bildung und Entwicklung des Mutes zu öffentlich eingreifender Urteilskraft“ war für ihn das Ziel, hier wie in Frankfurt,[3] wobei er durchaus zugestand, dass Theorie und Praxis ihre je eigene Logik besitzen.

In diesem gewerkschaftlichen Rahmen verfasste Negt eine soziologische Bildungstheorie, die 1968 unter dem Titel Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen in der Europäischen Verlagsanstalt (EVA) in der Reihe Theorie und Praxis der Gewerkschaften erschien. Die EVA war der Frankfurter Verlag für Linkssozialisten und Reformmarxisten.[4] Dieses Buch sollte für linke Maßstäbe ein Bestseller werden: 1975 erschien bereits die sechste Auflage mit dem 33. bis 37. Tausend. Was sollten die Arbeiter Negt zufolge lernen? Vor allem dies: die „condition ouvrière“ im gesellschaftlichen „Ganzen“ zu verstehen und politische Bedürfnisse zu artikulieren.

Habermas und die Linke

Weil die Laufbahn beim DGB blockiert war – die Gewerkschafter trauten der Soziologie nicht über den Weg, da konnte auch Matthöfer nichts machen –, nahm Negt das Angebot von Habermas an, dessen Assistent zu sein. Nachdem er seine Dissertation über die Gesellschaftslehren Comtes und Hegels bei Adorno fertiggestellt hatte, folgte er dem jungen Professor zunächst nach Heidelberg und dann 1965 zurück nach Frankfurt. In den Protesttagen 1968 fand Negt nichts dabei, mit seinem Chef öffentlich abzurechnen, als dieser mit Bezug auf die SDS-Aktivisten von „Linksfaschismus“ und „Scheinrevolution“ sprach. „Die Linke antwortet Jürgen Habermas“ war ein von Negt organisiertes Buch betitelt, für das er sich später entschuldigte. Das bedeutete den Bruch zwischen Habermas und der Neuen Linken, nicht aber mit Negt, den er gewähren ließ.

Jener scheute übrigens ebenfalls die klaren und umstrittenen Worte nicht, als er 1972 auf einem Solidaritätskongress für Angela Davis erklärte, dass die RAF von Sozialisten keine Solidarität zu erwarten habe. Im militanten Frankfurter Milieu brauchte es dazu Mut, aber die Kritik der Gewalt war für Negt von der Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht zu trennen. Ulrike Meinhof witterte in Negts Haltung „Verrat“, die Militanten Cohn-Bendit und Fischer folgten jedoch mit Verzögerung Negts Vorgabe und distanzierten sich noch als Linksradikale vom Terrorismus, der aus der APO entstanden war.

Negt war selbst ein Radikaler im öffentlichen Dienst, also einer, der den Dingen an die Wurzeln geht, durchaus kein Extremist. Überraschend wurde er 1971 Ordentlicher Professor in Hannover. Der niedersächsische Kultusminister Peter von Oertzen, der den Soziologen an die dortige Technische Hochschule rief, baute in jenen Jahren dort die „rote“ Fünfte Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften auf und holte einen Frankfurter nach dem anderen. Negt brachte seine Frankfurter SDS-Gruppe mit. Hannover entwickelte sich zu einer der Nischen, in denen linke Akademiker unterkommen konnten und von denen es damals weniger gab, als man heute vielleicht denkt: die FU in Berlin und die Universität Marburg natürlich, seit 1968 das Soziologische Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen, das marxistische Theorie und Industriesoziologie miteinander ins Gespräch brachte, die Pädagogische Hochschule in Lüneburg, wo unter dem Adorno-Schüler Hermann Schweppenhäuser eine lebendige Szene entstand, und bald die 1971 gegründete Universität Bremen. In Frankfurt suchte das nach Adornos Tod kopflose Institut für Sozialforschung indessen nach einem neuen Profil, während am Philosophischen Seminar der Goethe-Universität die Philosophie entsoziologisiert wurde.

Professor an der Peter-von-Oertzen-Universität

In Hannover also wollte Oskar Negt vor den Werkstoren von VW, Hanomag und Continental ein gallisches Dorf errichten, das mit dem Zaubertrank der Kritischen Theorie dem Großindustriekapital Paroli bieten würde. Der Versuch, Marx wissenschaftlich in die Bundesrepublik einzubürgern, gelang zwar durchaus, doch den Anspruch der Kritischen Theorie, mehr als eine akademische Angelegenheit zu sein, konnte „Hannover“ nicht erfüllen. Auch die Entwicklung einer Corporate Identity, die der von Adorno geförderten Schulbildung nahegekommen wäre, gelang nicht. Zu eigensinnig waren die individuellen Sozial- und Geisteswissenschaftler, zu denen Peter Brückner, Jürgen Seifert, Detlev Claussen, Bernd Leineweber, Regina Becker-Schmidt, Elisabeth Lenk, Peter Bulthaup und Günter Mensching zählten. Und zu feindselig gegen die 68er-Kulturrevolution war inzwischen das politische Klima. Die Fünfte Fakultät galt bald als fünftes Rad am Wagen, insbesondere als 1977 der Deutsche Herbst begann. An den beständigen und andauernden Restriktionen und Exklusionen von Peter Brückner, der der flüchtigen Meinhof im Herbst 1970 Unterschlupf gewährt haben soll, kann man erahnen, welch ein Alpdruck auf den politisierten Akademikern lag. Den einen galten sie als Sympathisanten, wenn nicht „intellektuelle Bombenleger“, den anderen als akademische Karrieristen, wenn nicht Verräter. Es herrschte ein Klima der Verdächtigungen.

All dem zum Trotz brillierte Negt in Hannover mit seinen Vorlesungen. Von Beginn an waren die Hörsäle brechend voll. Die Pädagogik Horkheimers hatte ihm ebenso imponiert wie die Art und Weise, in der Adorno in Vorlesungen seine Gedanken coram publico entwickelte.[5] Auch Habermas war ein role model für das „öffentliche, in freier Rede entwickelte Denken“, das Negt bei seinen eigenen Vorlesungen über „Philosophie und Gesellschaft“ praktizierte, die er ab dem Wintersemester 1974/75 regelmäßig hielt.

„Zusammenhänge herzustellen, große Bögen zu spannen, das war mein eigentliches Anliegen“, beschrieb er später seine Lieblingstätigkeit und Methode.[6] Gerade in diesen Großveranstaltungen konnte er die Traditionslinien der Kritischen Theorie von Kant bis Marx, von Hegel bis Freud herausstellen oder aus ihrer Perspektive auf die Philosophieschichte seit der griechischen Antike schauen. Es galt, den gesellschaftlichen und politischen Erfahrungsgehalt von wirkmächtigen Ideen und Begriffen zu heben, mit dem Ziel, eine neue Interpretation des Marxismus als epochaler Theorie in praktischer Absicht vorzulegen. Wer will, kann sie auch heute noch anhören: 680 Stunden Negt sind mittlerweile digitalisiert auf DVD verfügbar.[7]

Der sozialistische Intellektuelle

Negt reüssierte in diesen schwierigen Jahren vor allem als politischer Intellektueller und Orientierungsfigur der zerfallenden 68er-Bewegung. In Zeiten der sogenannten Tendenzwende, Negt bevorzugte das Wort der „zweiten Restauration“, bekannte er sich zum Sozialismus, wobei Sozialismus Selbstbestimmung und -verwaltung bedeuten sollte, von unten nach oben organisiert. Er selbst gründete mit anderen Eltern in diesem Sinne die antiautoritäre Glockseeschule, ein Kind der Reformpädagogik, das heute bereits über fünfzig Jahre alt ist. Sein Sozialismus zielte nicht auf die Eroberung der Macht im Staat, sondern auf die Generierung von Erfahrungen und Lernprozessen im Geiste der Selbstbestimmung durch Gegenöffentlichkeit und Demokratisierung der Alltagswelt.

Seit er 1961 aus der SPD ausgeschlossen worden war, stand Negt den Parteien fern, auch als während der Gründungsphase der Grünen Rudi Dutschke ihn für dieses Projekt gewinnen wollte. Negt war keineswegs antiparlamentarisch eingestellt, sah Demokratie aber zuerst als Lebensform an. Seine politische Heimat war das Sozialistische Büro in Offenbach, wo sein Talent für die Pädagogisierung von Kritischer Theorie zum Tragen kam. Zuerst die Zwangsverhältnisse kritisch durchschauen, dann emanzipatorische Politikprozesse von unten anschieben! Er schrieb die theoretischen Leitartikel, etwa 1972 „Organisation nach Interessen, nicht nach Köpfen“, in dem er dem Sozialistischen Büro die Funktion eines „überfraktionelle[n] Bewußtseins“ zusprach, von wo aus Strategien einer sozialistischen Politik entwickelt werden könnten.[8]

Die öffentlich-eigensinnige Kooperation mit Alexander Kluge

Von großer Bedeutung und beflügelnd war für Negt die schriftstellerische Kooperation mit Alexander Kluge. Im Autorentandem paarten sich Negts Theorie- und Kluges Schreiblust, „bäuerlicher Materialismus“ und „frei assoziierende Künstlerintelligenz“, eine Konstellation, die sich als glücklich erwies. Das Experiment, so Negt später, habe sein Leben verändert.[9] Daraus entstanden drei Bücher, zwei davon mit Titeln, die den Zeitgeist spiegeln: Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), Geschichte und Eigensinn (1981). Diese Theoriewälzer – der zweite umfasst tausenddreihundert Seiten – wurden zu Kultbüchern für die undogmatische und doch an Marx interessierte, meist im Kulturbereich aktive Szene; und die Zusammenarbeit mit Kluge ging weiter, als diese Szene sich bereits aufgelöst hatte.

Erfahrung und Öffentlichkeit sollte ein Konzept Gegenöffentlichkeit entwickeln, damals hieß das „proletarische Öffentlichkeit“. Die Theoriearbeit zielte auf den Gebrauchswert und die Praxis: „Unser politisches Interesse an diesem Buch ist es, einen Rahmen für eine Diskussion zu setzen, die die analytischen Begriffe der politischen Ökonomie nach unten, zu den wirklichen Erfahrungen der Menschen hin öffnet.“[10] Hinter den Politkategorien standen gemeinsame philosophische Fragen: „Woher beziehen Menschen ihr Selbstbewußtsein? Was veranlaßt Menschen, ihren Erfahrungen zu vertrauen? Wie produziert sich Autonomie im einzelnen?“[11] Im Grunde genommen ging es um den Ausweg aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, den Kant angeordnet hatte, aber auch aus unverschuldeter Unmündigkeit, wofür man Marx brauchte. Der Schlüsselbegriff zur qualitativen Vermessung von Öffentlichkeit war „Erfahrung“, ein magischer Gegenbegriff zu „Entfremdung“.

Geschichte und Eigensinn umfasste nicht weniger als die Gattungsgeschichte, eine Universalgeschichte menschlicher Arbeit auf der Suche nach einer Gestalt schöpferischer, nichtentfremdeter, autonomer Arbeit, mit historischem Blick auf die spezifisch deutschen Bedingungen und auch auf alles, was jenseits der Arbeitsstätten im gesellschaftlichen Zusammenhang so passiert. Ein „kritisches Wimmelbild“ (Jürgen Kaube) war im Teamwork entstanden; „die politische Ökonomie der lebendigen Arbeitskraft“, also alles, was nicht vom Kapital subsumiert worden ist, wurde nun bedacht. So wie Negt/Kluge 1973 der bürgerlichen Öffentlichkeit die proletarische an die Seite gestellt hatten, so ergänzten sie ein Jahrzehnt später die politische Ökonomie des Kapitals um die politische Ökonomie der Arbeitskraft. Dem Konzept der Gegenöffentlichkeit folgte eines der Gegenproduktion, um Arbeit und wirkliches Leben zu versöhnen. Negts Arbeitssozialphilosophie blieb leitend, wo andere schon das Ende der Arbeitsgesellschaft propagierten: Arbeit sei die Kategorie der gesellschaftlichen Veränderung und der Kern gesellschaftlicher Verhältnisse. Für Negt hörte sie nie auf, die Arbeit.

Der unbotmäßige Zeitgenosse

Eine andere Tätigkeit währte indessen nicht allzu lange, nämlich die im Beraterstab für Gerhard Schröder, dem einstigen Hannoveraner Juso-Vorsitzenden, den Negt seit dessen politischen Anfangsjahren kannte. Als Schröder, der 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen wurde, das Kanzleramt antrat, unterstützte ihn der SPD-Paria Negt. Im Zuge der von Schröder installierten Hartz 4-Reform für den Arbeitsmarkt legte der gewerkschaftsnahe intellektuelle Ratgeber Anfang der 2000er-Jahre seine Beratertätigkeit für den Bundeskanzler dann aber nieder. Zum 65. Geburtstag 1999 hatte Schröder für die Festschrift noch einen Beitrag über das Verhältnis von Intellektuellen und Sozialdemokratie, also über Negt und ihn selbst, beigesteuert.

Negt verstand sich durchweg als unbotmäßiger Zeitgenosse. „Keine Demokratie ohne Sozialismus“ hieß sein Credo in den Siebzigern, als die CDU/CSU „Freiheit statt Sozialismus“ propagierte. Der Umkehrschluss „Kein Sozialismus ohne Demokratie“ blieb für die Linken in Deutschland, die wie er beharrlich dicke Bretter bohrten, ein Leitmotiv. Auch wenn Negt keine Politik der Köpfe verfolgte, war er für die mediale Öffentlichkeit genau das: der Kopf jener Kreise, die der APO entwachsen waren, ein bodenständiger Promi mit betont aufrechtem Gang, für den ein direkter Weg von der Aufklärung zum Sozialismus führte – freilich nur, wenn man lernte und bereit war, die vielen schlimmen Fehler der Linken zuzugeben, aufzuarbeiten und zu bereuen.

Die Arbeit hört nie auf

Negt war immer der erste, der Buße tat, selbst, wenn er selbst ohne Schuld war. Das nahm fast pastorale Züge an. Negt war ein durch und durch redlicher Intellektueller, erfüllt von protestantischer Ethik. Unermüdlich wie ein Maulwurf grub er sich durch immer neue Erdschichten, welche die falsche Gesellschaft unter dem Zwang kapitalistischer Produktionsweise von der wirklichen Freiheit trennten. Seine Schlüsselbegriffe transportierten das protestantische Arbeits- und Gewissensethos in die linkssozialistischen und gewerkschaftlichen Milieus der Bundesrepublik:[12] soziales Lernen, Erinnerungsarbeit, Verarbeitung von kollektiven Erfahrungen, Schulung des politischen Bewusstseins, politische Gedankenarbeit, Werkstätten der Vernunft. Auch die nichtentfremdete Arbeit roch nach Anstrengung. Im Schweiße seines Angesichts sollte der Mensch, ob Bauer oder Ärztin, sich emanzipieren. Dabei war Negt kein Eiferer, sondern ein duldsamer Mahner. Der Eigensinn des Intellektuellen, so Negt, sei der „öffentliche Gebrauch der Vernunft“, er benötige den „materialistischen Grundzug einer Theorie“, gepaart mit „lebendiger Erfahrungsfähigkeit“ und einem Willen zur „Kritik“, dazu „Resistenzfähigkeit“ und einen „langen Atem“.[13]

Ohne solches Pathos und mit Sinn für eine funktionalistische Betrachtung beschrieben, heißt das: Negt besetzte eine Scharnierfunktion zwischen der medialen Öffentlichkeit und dem „subkulturellen“ linken Milieu. Er half mit, den Marxismus an die westdeutsche Universität zu bringen. Das von ihm protegierte Konzept der Demokratisierung der Lebenswelt war durchaus erfolgreich, wenngleich heute kein Mensch mehr von Sozialismus und Klassengesellschaft spricht.

Am Freitag, den 2. Februar 2024, ist Oskar Negt im Alter von 89 Jahren in Hannover gestorben.

  1. Oskar Negt, Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise, Göttingen 2019, S. 57 f.; über seine Frankfurter Eindrücke siehe auch: ders., Denken als Gegenproduktion, in: Josef Früchtl / Maria Calloni (Hg.), Geist gegen den Zeitgeist, Frankfurt am Main 1991, S. 76–93.
  2. So Negt in einem Gespräch mit dem Verfasser im Januar 2019.
  3. Negt, Erfahrungsspuren, S. 73 f.
  4. Der Titel Soziologische Phantasie war von dem amerikanischen Soziologen C. Wright Mills geborgt. Das Buch erschien, wie Negt später angab, in enger Kooperation mit Hans Matthöfer, vgl. Oskar Negt, Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen, Frankfurt am Main 1994, S. 16.
  5. Negt im Gespräch mit dem Verfasser im Januar 2019. Vgl. die Nachworte von Hendrik Wallat in den drei Bänden Politische Philosophie des Gemeinsinns, Bd. 1: Ursprünge europäischen Denkens, Göttingen 2019; Bd. 2: Moral und Gesellschaft: Immanuel Kant, Göttingen 2020; Bd. 3: Politik der Ästhetik: Die Romantik, Göttingen 2022. Demnächst erscheint Bd. 4: Das Erbe des Marxismus: Revolutionäre Theorie, Legitimationswissenschaft, Krise und Erneuerung.
  6. Negt, „Vorbemerkung (Juni 2019)“, in: ders., Politische Philosophie des Gemeinsinns, Bd. 1, S. 7–9.
  7. Oskar Negt, Philosophie der Frankfurter Schule. Vorlesung an der Universität Hannover, Sommersemester 1998, DVD.
  8. Der Artikel „Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren!“, der aus einem Referat bei einer Tagung des SB im Oktober 1972 hervorging, erschien zuerst in der links. Die jüngste Wiederveröffentlichung: Negt, Keine Demokratie ohne Sozialismus. Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral (=Schriften. Band 5, Göttingen 2016, S. 279–290).
  9. Negt, Erfahrungsspuren, S. 203 und 306.
  10. Oskar Negt / Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 1972, S. 16.
  11. Kluge, Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit, in: Wolfgang Lenk u.a. (Hg.), Kritische Theorie und politischer Eingriff, Hannover 1999, S. 25–41, hier S. 35.
  12. Vgl. Wolfgang Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung, in: ders. (Hg.), Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung, Frankfurt am Main 1978, S. 8–67; dort heißt es: „das ist der Sozialismus, der aus der protestantischen Ethik kommt“ (S. 11).
  13. So passim in seinen Porträts anderer „unbotmäßiger Zeitgenossen“, vgl. das gleichnamige Buch Frankfurt am Main 1994.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

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Jörg Später

Jörg Später, geb. 1966, ist freier Autor und Lektor. Als Historiker gehört er zur Forschungsgruppe Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und ist Stipendiat der Gerda Henkel-Stiftung. Er arbeitet an einem Buch über Frankfurter Schüler in der alten Bundesrepublik, in dem Schweppenhäuser und Lüneburg eine tragende Rolle spielen. Im Juni 2024 erscheint von ihm „Adornos Erben“ im Suhrkamp Verlag.

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