Paris Memories | Kritik | Film | critic.de

Paris Memories – Kritik

Cannes 2022 – Quinzaine des Réalisateurs: Alice Winocour zeichnet angenehm unsubtil das Trauma der Überlebenden eines Terroranschlags nach. Paris Memories handelt von gelingender Heilung und der Unmöglichkeit, weiterzumachen.

Mia (Virginie Efira) erfreut sich gern an anderen, viel mehr wissen wir erstmal nicht, müssen wir nicht wissen über ein Leben, das ohnehin bald ein anderes sein wird. Nachdem sie kurz erschrickt, als der Körper eines Halbstarken von außen an die Fensterscheibe des Bistros prallt, an der sie gerade sitzt, lacht sie schon im nächsten Moment über die straßenberauschte Jugend. Auch als am Tisch gegenüber zwei Paris-Touris Selfies mit ihren Drinks machen, muss sie schmunzeln. Und als wiederum ein Tisch weiter die Anwesenden eines Geburtstagsdinners in die Hände klatschen, während der Jubilar die Kerzen auf der Torte ausbläst, klatscht Mia ein bisschen mit und grinst dann ein bisschen in sich hinein, belustigt über sich selbst.

Nach der Schwarzblende eine andere Welt

Die Kopfschüsse kommen unvermittelt und ohne weitere Fragen, treffen die beiden, die gerade vor Mia das Bistro verlassen wollen. Mia ist auf einmal auf dem Boden, nicht getroffen, aber in Lebensgefahr, bewaffnete Schritte um sie herum, weitere Schüsse in sich noch regende Körper. Was dem öffentlichen Diskurs ein Terroranschlag sein wird, ist diesem Film zwei Minuten Point-of-View-Action und eine Schwarzblende.

Und was Mia eine Gedächtnislücke sein wird, ist dem Film eine Ellipse: Die Welt kommt nach der Schwarzblende zurück, ist aber eine andere. Mia nimmt erstmal nicht mehr Teil am Leben, Paris ist ihr entglitten. Sie ist nach drei Monaten bei ihrer Mutter auf dem Land zurück in der Stadt, aber das Trauma hat von ihr Besitz ergriffen. Freunde wissen nicht, was sie fragen sollen, Mia ist in Gedanken ohnehin woanders, ihr Mann Vincent (Grégoire Colin) weiß nicht, wie umgehen mit ihr, plagt sich wohl auch mit eigenen Schuldgefühlen, ist Mia doch nur in dem Bistro gelandet, weil er das gemeinsame Dinner verlassen, nochmal auf der Arbeit nach dem Rechten gucken musste.

Die Unsichtbaren in den Küchen

Mia besucht dieses Bistro bald erneut, lernt eine Gruppe von Überlebenden und Angehörigen kennen, die einmal die Woche im Café zusammenkommt. Dort sieht sie auch Thomas (Benoît Magimel) wieder, das Geburtstagskind vom Nebentisch, dessen Bein nach dem Anschlag im Arsch ist und der ihr irgendwann gesteht, dass er nach dem Blickkontakt am verhängnisvollen Abend vorgehabt hatte, sie anzusprechen.

Thomas erinnert sich an alles, beneidet Mia deshalb fast um ihre Teilamnesie, doch auch Mias Erinnerungen kommen allmählich, manchmal auch schockhaft zurück. Jemand hat ihre Hand gehalten, weiß sie irgendwann, im Schrank, in dem sie sich versteckt hielt. Die Suche nach der Hand, die zum dramaturgischen Fluchtpunkt des Films wird, führt auch auf dessen politische Ebene, die nicht über den Islamismus eingezogen wird, sondern über die Bistro-Bediensteten ohne Papiere, deren prekärer Status nicht nur das Leben erschwert, sondern auch den Tod, ein Status, der Recherchen müßig, Trauer anonym werden lässt. Der Terror tötet die Sichtbaren in den Bistros wie die Unsichtbaren in ihren Küchen. Ob die Hand, die Mia hielt, noch am Leben ist, weiß sie nicht.

Keim Trauma Porn

Winocour, deren Bruder den Anschlag aufs Bataclan überlebte, erzählt von Mias Umgang mit dem Ereignis angenehm vorhersehbar und unsubtil, entschuldigt sich für nichts. Alles ist irgendwie dick aufgetragen, aber dann so behutsam und gleichmäßig auf der Leinwand verteilt, dass es schnell einzieht und vollkommen klar und plausibel erscheint. Paris Memories ist kein Trauma Porn, im Gegenteil: eher die Geschichte einer gelingenden Heilung, arg optimistisch vielleicht, aber gerade deshalb kostbar. Nachdem in den letzten Jahren verschiedenste Filme und Serien eine gnadenlose Totalität des Traumas in allerlei unkonventionelle Erzählstrategien übersetzt haben, wirkt ein solch linearer, mitunter klassisch pathetischer Ansatz fast schon wieder erfrischend.

Vor allem setzt sich Paris Memories von vielen anderen Trauma-Narrativen dadurch ab, dass er die kollektive Verarbeitung in den Vordergrund rückt. Der Film gehört zwar einerseits ganz der unglaublichen Virginie Efira, ist aber andererseits fast Ensemblefilm, schaut immer wieder vorbei bei den anderen Mitgliedern ihrer Ersatzfamilie aus Überlebenden und Hinterbliebenen, einer Familie, die bei Zusammenkünften nicht über Jahrzehnte angesammelte Ereignisse bespricht, sondern nur das immer gleiche Ereignis rekonstruiert, aber das minutiös: wer wo saß, wer was weiß, wessen letzte Sekunden wie aussahen. Gemeinsam setzen diese Menschen ein Puzzle des Schreckens zusammen, dessen Teile manchmal bittere Erkenntnisse tragen, das als Gesamtbild aber doch trösten soll. Besonders rührend ist die jugendliche Félicia (Nastya Golubeva-Carax), die nicht auf den Paris-Trip ihrer Eltern mitwollte, die sich jetzt an jede Info klammert, die sie über den Abend im Bistro ergattern kann. Paris Memories gestattet sich dann sogar Rückblenden in die Leben derer, die man gemeinhin Nebenfiguren nennt.

Ein neuer Stadtplan für die alte Stadt

Naiv ist Paris Memories aber nie, ist er doch auch ein Film über die Unmöglichkeit, einfach weiterzumachen. Es gibt keinen Neustart, und doch muss alles anders werden. Ein neues Betriebssystem vielleicht, eine neue Konfiguration, selbst wenn dann diejenigen deaktiviert werden müssen, die doch nur helfen wollen, die man vielleicht geliebt hat, die vielleicht noch immer lieben. Aber Mia braucht Thomas bald mehr als Vincent, und beide erkunden auf ihre Weise ein Leben, das ihnen fast genommen wurde, sehen Paris neu, so wie es der der Originaltitel des Films, Revoir Paris, will. Eine neue Begleitung und ein neuer Stadtplan für die alte Stadt, vielleicht ist das schon genug.

Trailer zu „Paris Memories“


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