Carl Gustav Jung gilt als Mystiker unter den Pionieren der Tiefenpsychologie. Verglichen mit Freud und Adler zeigte der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut ein bedeutend größeres Interesse an Parapsychologie, Aberglauben, religiösen Fragestellungen und okkulten Phänomenen. Von manchen Kritikern wurde er daher der Fraktion der Gegenaufklärung innerhalb der Psychoanalyse zugerechnet. Gleichwohl enthalten seine Schriften anthropologisch relevante Überlegungen (◉ Abb. 1).

Abb. 1
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Carl Gustav Jung (*1875; 1961). (Stumm et al. 2005)

Biographisches

Jung wurde 1875 in Kesswil auf der Schweizer Seite des Bodensees im Kanton Thurgau geboren. Sein Vater war als Pfarrer tätig und zog mit seiner Familie zuerst in die Nähe von Schaffhausen und dann nach Basel, wo Carl Gustav seine Kindheit und Jugend verlebte. Diese Zeit war von der schwierigen Ehe der Eltern und vom zeitweiligen Schulversagen des Knaben geprägt.

Nach dem Abitur studierte Jung in Basel Medizin und wählte die Psychiatrie als Spezialgebiet. 1900 wurde er Assistenzarzt bei Eugen Bleuler in dessen Klinik Burghölzli in Zürich. Ein Semester hospitierte der angehende Nervenarzt bei Pierre Janet in Paris. 1903 heiratete er Emma Rauschenbach, die Tochter eines Schaffhauser Fabrikanten.

Diese Heirat bedeutete für Jung einen großen finanziellen Rückhalt, da Emma eine beträchtliche Summe in die Ehe einbrachte. Das stattliche Wohnhaus in Küsnacht, direkt am Zürichsee gelegen, sowie das später erbaute Turm-Anwesen in Bollingen wurden zu keinem geringen Teil durch die Mitgift von Emma Jung finanziert. Mit ihr zusammen hatte er fünf Kinder. Während der letzten Schwangerschaft der Gattin bahnte sich eine Liebschaft Jungs mit der Psychoanalytikerin Toni Wolff an, die viele Jahre bestand und zu einer spannungsreichen Dreieckskonstellation führte.

1905 habilitierte sich Jung mit experimentellen Arbeiten, die er unter dem Titel Diagnostische Assoziationsstudien publizierte. Darin befasste er sich mit der Theorie gefühlsbetonter Komplexe – eine Theorie, welche der Psychoanalyse nahe kam. So überrascht es nicht, dass sich zu jener Zeit zwischen Freud und Jung ein Briefwechsel anbahnte, der bis zum Jahre 1913 andauerte.

Jungs Chef Bleuler war beinahe der einzige Psychiater in Europa, der damals die Psychoanalyse mit Interesse und Wohlwollen beurteilte; durch ihn war sein Assistenzarzt auf Freud aufmerksam geworden. 1907 stattete Jung einen Antrittsbesuch in Wien ab. Angeblich soll er mit übersprudelnder Rhetorik mehrere Stunden auf Freud eingeredet haben, bis der Meister endlich sagte: „Nun wollen wir doch alles der Reihe nach vornehmen.“ Es ergab sich ein fast zehn Stunden dauerndes Gespräch, das zu vielen Übereinstimmungen führte.

1907 veröffentlichte Jung sein Buch Über die Psychologie der Dementia praecox. Darin beschrieb er, wie psychoanalytische Theorien in der Diagnostik und Therapie von Geisteskrankheiten (Schizophrenie) Eingang finden sollten. Freud war hiervon begeistert – eröffnete sich ihm doch damit die Chance, seine Lehre in die Psychiatrie einzubringen. Überhaupt war ihm die Anhängerschaft der Zürcher (es bildete sich bald ein Kreis junger Ärzte um Jung) wertvoll, da sie offenkundig belegten, dass die neue Seelenheilkunde keine rein österreichische oder jüdische Angelegenheit war.

Freud favorisierte Jung und dessen Gruppe am Zürichsee in besonderer Weise. Als er 1909 in die USA an die Clark University eingeladen wurde, um dort Vorlesungen zu halten und den einzigen Ehrendoktor seines Lebens entgegenzunehmen, war er froh, dass auch Jung mit von der Partie war. Dieser erhielt ebenfalls einen Doktor honoris causa (in Jurisprudenz), weil seine Assoziationsstudien den Weg zum Lügendetektor im Bereich der Kriminalistik bahnten.

1910 wurde Jung zum Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ernannt. Freud sah in ihm den Erben und Kronprinzen der psychoanalytischen Bewegung; Jung schien der Sache sehr ergeben zu sein. Außerdem war er energisch und zielstrebig, so dass Freud meinen konnte, seine Ideen könnten durch den hünenhaften Schweizer gut protegiert werden.

Die vernachlässigten Wiener Analytiker mit Alfred Adler und Wilhelm Stekel an der Spitze betonten schon damals, dass Jung konservativ, autoritär und selbstherrlich sei. Das wollte Freud vorerst nicht wahrhaben. Als aber 1912 Jungs Frühwerk Wandlungen und Symbole der Libido erschien, musste auch er sich eingestehen, dass sein Adlatus nicht die Absicht hatte, zu einem Aufklärer und zum Rebellen gegen die bürgerliche Gesellschaft zu werden.

Bereits ein Jahr später kam es zum Bruch ihrer Beziehung. Die Loslösung von Freud ergab eine gewaltige seelische Krise, die Jung in die Nähe einer psychotischen Erkrankung brachte. Er schrieb damals, dem Diktat seines Unbewussten folgend, die Sieben Ansprachen an die Toten (1916), die reichlich konfus anmuten.

Parallel dazu gelang es Jung, eine gutgehende psychoanalytische Privatpraxis aufzubauen; vor allem betuchte ältere Damen zählten zu seiner Klientel. Außerdem gründete er mit Hilfe amerikanischer Gönner 1916 seinen Psychologischen Club in Zürich, wo er eine Stätte für sein Wirken als Lehrer und Meister fand. Unter seinen Anhängern gab es viele Frauen; auch ehemalige Patienten, die meisten aus der Oberklasse stammend, waren im Club anwesend.

Jung war umfassend gebildet und publizierte viel in jenen Jahren. Herausragend war das Werk Psychologische Typen, das 1921 erschien. Es führte den Gegensatz von Extraversion und Introversion ein und beschrieb mit beachtlichem Geschick das Typenproblem im Alltag, im Kulturleben und in der Geistesgeschichte.

Neben seiner universalen Bildung machten sich in Jungs Schriften jedoch auch dessen religiöse Einstellung sowie Neigungen zu Okkultismus, Parapsychologie, Alchemie und Esoterik bemerkbar. Er war überzeugt, dass etwa die Gnosis voll von psychologischer Symbolik sei. Hier finde man die Archetypen des Seelenlebens, jene Urbilder, welche der Conditio humana von alters her zugrunde liegen. Die Menschen der Moderne seien immer noch von archetypischen Erlebnissen bestimmt, was vor allem in Krankheiten, aber auch in Kunst, Märchen, Mythen, Dichtung, Religion und Phantasiebildungen aller Art nachweisbar sei.

In den 20er Jahren unternahm Jung Reisen nach Nord- und Ostafrika sowie nach Nordamerika. Überall suchte er Zugang zu den naturwüchsigen Verhältnissen, um seine Auffassungen über urtümliches Menschenverhalten zu überprüfen. So befasste er sich eingehend mit den Religionsvorstellungen von Eingeborenen, bei denen er manche Bestätigung für seine Archetypenlehre zu finden glaubte.

Als nach 1930 in Deutschland der Nationalsozialismus an die Macht drängte, bezog Jung zunehmend problematische Positionen. Schon früh hatte er respektvolle Worte für Mussolini gefunden. Als nun 1933 Ernst Kretschmer die Leitung der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie niederlegte, übernahm Jung diesen Posten, was einer Sympathieerklärung für den Faschismus gleichkam. Ein kritisches Urteil dem Totalitarismus gegenüber entwickelte Jung auch die kommenden Jahre nicht – dazu fehlte ihm die Courage ebenso wie die intellektuelle Redlichkeit und die politische Weitsicht.

In der von ihm geleiteten Ärztegesellschaft waren überzeugte Nationalsozialisten (z. B. Matthias Göring, Walter Cimbal) tonangebend. Jung stützte deren Antisemitismus, indem er von einem jüdischen und germanischen Unbewussten und einer ebensolchen Psychologie sprach und daneben gehässige Polemiken gegen Freud und die Psychoanalyse formulierte, die man schlicht als dümmlich bezeichnen muss. Nach 1945 wollte Jung von diesen geistigen Verfehlungen wenig wissen; dem Rabbiner Leo Baeck gegenüber verharmloste er seine Haltung mit den Worten, er sei damals eben „ausgerutscht“. Und in einem Brief aus dem September 1945 schrieb er sogar:

Es ist schwierig, die antichristliche Einstellung der Juden nach den schrecklichen Dingen, die in Deutschland geschehen sind, zu erwähnen, doch die Juden sind nicht wirklich so verflucht unschuldig – die Rolle, die die intellektuellen Juden im Vorkriegsdeutschland gespielt haben, wäre ein interessanter Untersuchungsgegenstand (Jung: Brief an Mary Mellon vom 24.09.1945, zit. nach Bair 2005, S. 629).

In den 30er Jahren erhielt Jung erste öffentliche Ehrungen, etwa den Literaturpreis der Stadt Zürich, einige Ehrendoktorate sowie eine Titularprofessur an der Technischen Hochschule, der 1943 eine Professur für Medizinische Psychologie in Basel folgte. 1933 bot ihm die holländische Millionärin Olga Fröbe-Kapteyn an, im Tessin Tagungen im Geiste seiner Psychologie durchzuführen. So entstand der Erános-Kreis, bei dem sich Jung jährlich mit ähnlich denkenden Forschern traf, um die kulturelle Situation der Gegenwart zu reflektieren. Die dabei gehaltenen Vorträge wurden jeweils als Erános-Jahrbücher veröffentlicht.

Jungs Publizistik tendierte immer mehr zu Themen, die am Rande oder außerhalb der Wissenschaftssphäre standen. 1944 hatte er den Text Psychologie und Alchemie herausgegeben; 1948 folgte die Symbolik des Geistes und 1951 das Buch Äon, welches den Untertitel Untersuchungen zur Symbolgeschichte trägt. Im selben Jahr erschien Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge, worin er sich mit übergreifenden Zusammenhängen befasste, die scheinbar zufällige Parallelereignisse erklären sollten. 1952 veröffentlichte Jung die Schrift Antwort auf Hiob, die eine analytische Untersuchung Gottes enthält. Ein Jahr später ermöglichte ihm eine Rockefeller-Erbin die Herausgabe seiner Collected Works.

Schon Jahre zuvor war in Zürich ein C. G. Jung-Institut gegründet worden, das als Ausbildungsstätte fungierte. Schüler und Freunde bevölkerten diese Institution, die zu einem Weltzentrum für die Analytische oder Komplexe Psychologie Jung‘scher Prägung wurde. Auch in anderen Ländern entstanden ähnliche Institute.

1955 erhielt der 80-Jährige den Ehrendoktor der ETH in Zürich. Zwei Jahre zuvor war seine Gattin Emma gestorben. Eine englische Hausgenossin übernahm daraufhin die Betreuung des zunehmend hinfälligen Psychologen. Seine Schülerin Aniela Jaffé wurde zu seiner Sekretärin, der er seinen Lebensrückblick unter dem Titel Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung diktierte.

Dieses eigenartige Buch wirkt wie der Schlussstein zum Oeuvre des Psychologen. Jung berichtete darin zwar über seine Kindheit, Jugend, Familienverhältnisse, Studienerlebnisse, Reisen und Beziehungen zu Zeitgenossen wie Sigmund Freud , Richard Wilhelm (Sinologie), Heinrich Zimmer (Indologie) und Karl Kerényi (klassische Philologie). Den Hauptteil des Werkes machen jedoch die Schilderungen von Jungs Träumen sowie parapsychologischen Erfahrungen und Erlebnissen aus.

Die Lektüre dieses Erinnerungsbuchs vermittelt den Eindruck eines Menschen mit großen inneren Konflikten und starkem Narzissmus, der immer wieder in der Nähe des seelisch-geistigen Zusammenbruchs lebte. Okkultes, Abergläubisches und schlichte Frömmigkeit kommen darin ebenso vor wie rational anmutende Überlegungen zu Natur und Kultur des Menschen – eine Mischung, die vor allem von einem konservativ und religiös orientierten Publikum mit Applaus bedacht wurde.

Jung starb hochbetagt 1961 in seinem Haus in Küsnacht am Zürichsee. Er hat das Alter von 86 Jahren erreicht, wurde also drei Jahre älter als Freud und neunzehn Jahre älter als Adler . Seine Gesammelten Werke wurden in zwanzig voluminösen Bänden im Walter-Verlag Olten herausgegeben.

Werkanalyse

Ähnlich wie bei Freud und Adler haben auch die Schriften C. G. Jungs auf die medizinische und psychologische Anthropologie des 20. Jahrhunderts nachhaltigen Einfluss genommen. Dies wird folgend anhand zentraler Begriffe der Komplexen Psychologie demonstriert.

Die Libido

Dieser Begriff spielt hinsichtlich der anthropologischen Grundannahmen in der Psychoanalyse wie in der Komplexen Psychologie eine zentrale Rolle. Jung hat den Terminus und einige Gesichtspunkte des damit verbundenen Menschenbildes erstmals in Wandlungen und Symbole der Libido (1912) erläutert. Mit diesem Buch begann die Phase seiner Absetzbewegung von Freud.

In der Psychoanalyse wurde Libido als die psychische Seite des sexuellen Bedürfnisses definiert. Freud formulierte mehrere Triebtheorien und legte dabei stets großen Wert auf eine dualistische Auslegung des Triebgeschehens (Ich-Triebe versus Sexualtriebe; Eros versus Thanatos). Die Libido vertrat als Energie die Sexualtriebe respektive den Eros, nicht aber den gesamten seelischen Energiehaushalt oder alle Triebregungen.

Jung entwickelte dagegen einen monistischen Standpunkt . In den Wandlungen schlug er vor, den Begriff der Libido gleichbedeutend mit der ganzen psychischen Energie eines Individuums zu gebrauchen. Als solche vertrete sie nicht nur den Sexualtrieb, sondern letztlich auch diejenigen Triebanteile, die in der Psychoanalyse als aggressiv oder thanatisch gelten.

Die Libido im Sinne von umfassend gemeinter seelischer Energie kleide sich in unterschiedliche Gewänder und imponiere als Interesse, Streben, Intentionalität, Lust oder allgemein als Aktivität. Sie gleiche dem Schopenhauer ‘schen Willen , der sich ebenfalls in vielerlei Gestalten kundtue und das Gesamt der meist unbewussten Kräfte und Antriebe des Menschen darstelle. Auch gebe es Parallelen zwischen der Libido und dem Terminus der Energie, der in der Physik in verschiedenen Bereichen wie Thermodynamik, Mechanik oder Elektrizität Anwendung findet.

Jung postulierte eine Art Urlibido , die ursprünglich der Ei- und Samenproduktion diene und später in allen weiteren Aktivitäten des Menschen enthalten sei. Im Laufe der Entwicklung eines Individuums verändere sich diese Urlibido permanent und zeige neben der Sexualfunktion ein imposantes Arsenal von Nebenfunktionen.

Wenn sich diese Nebenfunktionen zum Nutzen des Betreffenden erweisen, spreche man von Sublimierung , anderenfalls von Verdrängung . Alle in der Psychoanalyse Freuds auftauchenden Triebe stellen Jung zufolge Abspaltungen von der Urlibido respektive von der Lebensenergie eines Individuums dar.

Die Libido als Gesamtheit der seelischen Energie drückt sich in unterschiedlichen körperlichen, seelischen und geistigen Formen und Symbolen aus. Die Letzteren bedeuteten für Jung nicht nur Hinweise auf unbewusste Konflikte oder Triebkalamitäten. Für ihn stellten sie vielmehr Erscheinungsformen von etwas Geheimnisvollem und Numinosem dar. Diese seien auf Symbole angewiesen und könnten sich nur in ihnen kenntlich machen. Andere Zeichen oder die Alltagssprache taugen nach Jung nicht zur Wiedergabe der mysteriösen und göttlichen Dimensionen der menschlichen Existenz.

Unter dem Numinosen und Unbestimmten verstand Jung nicht nur die in der Psychoanalyse beschriebenen unbewussten und verdrängten Seeleninhalte eines Menschen. Vielmehr melden sich in den Symbolen auch das Hintergründige und Noch-nicht-Gewusste sowie alle sedimentierten Erfahrungen der individuellen und der gesamten Menschheitsgeschichte. In späteren Schriften subsumierte der Begründer der Komplexen Psychologie darunter die Archetypen , die Urerfahrungen der Menschen, die sich seit Jahrzehntausenden wiederholen und in einer universellen Bildersprache, eben den Symbolen, tradiert werden.

Jungs monistisches Libido-Konzept wurde in gewisser Weise vom Psychoanalytiker und Psychosomatiker Georg Groddeck weiterentwickelt. In dessen Buch vom Es (1923) erhielt das Es als unbewusste und universell aktive Energie ähnliche Potenzen zugesprochen wie die Libido . Auch das Groddeck‘sche Es schafft körperliche und seelische Krankheits- und Gesundheitssymptome und ist wie die Jung‘sche Libido ursächlich für alle sozialen und geistigen Aktivitäten eines Menschen verantwortlich.

Eine Art Verwandtschaft zeigt sich auch zwischen dem Libido-Begriff Jungs und dem Konzept des „élan vital “ von Henri Bergson . Dessen Idee einer Lebensschwungkraft, die letztlich alle Phänomene der Natur und Menschenwelt hervorgebracht haben soll, ist allerdings viel mehr von einer idealistischen Warte her konzipiert als das Libidomodell Jungs, der den Ursprung der libidinösen Energie in den Organismus des Einzelnen bzw. in die Natur generell verlegte.

Man würde Jung jedoch falsch interpretieren, wenn man ihn als Vertreter einer materialistischen Weltanschauung einordnen wollte. Anders als Freud , dessen Menschenbild von der Überzeugung geprägt war, dass im Seelenleben das Kausalitätsprinzip alleinige Geltung habe und beinahe alles und jedes streng determiniert sei, vertrat der Schweizer Arzt viel stärker die Auffassung, dass die menschliche Psyche und ihre Libido auch finale Aspekte aufweise.

Ähnlich wie Alfred Adler ging er davon aus, dass Seelisches durch Ziele, Zwecke und Werte und nicht nur durch Ursachen bestimmt sei. Das Verstehen eines Menschen werde sogar erleichtert, sobald man eine finale neben einer lediglich kausalen Betrachtungsweise gelten lässt. Das Tun und Lassen eines Individuums werde verständlicher, wenn man nachvollziehen kann, wohin der Betreffende strebt, und nicht nur weiß, woher er kommt.

Ausgehend davon wollte Jung die Entstehung psychosozialer und teilweise auch körperlicher Störungen und Erkrankungen nicht nur aus Triebverdrängungen und unbewältigten Kindheitstraumen heraus erklären. Er war einer der Ersten, der ethische Probleme im Gefolge von Neurosen, Psychosen, Suchterkrankungen und Psychosomatosen zur Sprache brachte.

Solche Krankheiten gingen für ihn mit einer defizitären Gestaltung allgemeiner Lebensprobleme (Liebe, Arbeit und Sinnfindung) einher. Daher sollten derart Erkrankte für Jung nicht nur analysiert, sondern auch erzogen und moralisch gefördert werden.

Fehlgeleitete Libido oder Lebensenergie bedeutete für Jung nicht nur bei Neurosen und Psychosen, sondern auch bei somatischen Störungen einen krankheitsauslösenden Faktor. Analog zu den seelischen Komplexen meinte er etwa in Herzrhythmusstörungen, Dysmenorrhoen, Hyperventilationszuständen, Verdauungsschwierigkeiten und anderen Funktionsstörungen des menschlichen Organismus das anarchische Wirken libidinöser Energieanteile zu erkennen.

Das Unbewusste

Schon vor seiner Bekanntschaft mit Freud war Jung mit Problemen des Unbewussten in Kontakt gekommen. Er befasste sich bei seinen Assoziationsstudien mit der Frage, wie Versuchspersonen auf gewisse Reizworte reagieren. Es war unverkennbar, dass emotional bedeutsame Worte bei den Probanden eine verlängerte Reaktionsdauer und sonderbare Reizantworten ergaben.

Jung führte das auf Komplexe zurück, wobei er diese als Niederschlag affektgeladener Erlebnisse in der Vergangenheit eines Menschen ansah. Aus moralischen Erwägungen werden diese aus dem Bewusstsein verdrängt und stören den Ablauf psychischer Prozesse. Weil sie die Einheit der menschlichen Person unterminieren, betrachtete sie Jung als Krankheitsfaktoren ersten Ranges.

In seinen Büchern Wandlungen und Symbole der Libido (1912) und Psychologische Typen (1921) modifizierte Jung seine frühen Ansichten zum Unbewussten . Von Freud hatte er die Idee eines individuellen Unbewussten übernommen, das sich aus Triebregungen und dem Verdrängten zusammensetzt. In seiner bilderreichen Sprache nannte der Dissident vom Zürichsee Letzteres den Schatten . Damit zielte er auf jene Teile einer Persönlichkeit ab, die Menschen nicht gerne wahrhaben wollen und deshalb aus dem Lichtkreis ihres Bewusstseins heraushalten.

Damit aber nicht genug. Jung postulierte weitere Phänomene des Unbewussten , die in der Tiefe eines jeden Individuums zu finden seien. So stoße man unterhalb der Schicht des Schattens auf die Schicksal bestimmenden Strukturen von Animus und Anima , die jeweils die Bilder des anderen Geschlechtes beinhalten. Der Mann trägt im Innern ein in der Regel unbewusstes Seelenbild der Frau und vice versa. Die produktive Beschäftigung mit diesen Imagines (Bildern) entscheidet über das Liebes- und Lebensgeschick des Einzelnen.

Für Jung wies das Unbewusste noch weitere Dimensionen auf, die er mit geologischen Verhältnissen verglich. Ähnlich wie tiefliegende Gesteinsschichten Aussagen über die Vorgeschichte der Erde ermöglichen, treffe man in der menschlichen Psyche auf Ablagerungen uralter Erfahrungen, die analog zu den Instinkten der Tiere festgelegte Verhaltensdispositionen bekunden.

So gebe es jenseits des persönlichen ein kollektives Unbewusstes , welches der Sitz der sogenannten Archetypen ist. Die Archetypen sind Zentren der psychischen Energie. Sie weisen eine numinose Eigenschaft auf und wirken aufwühlend und erschreckend, oft aber auch heilsam und fördernd. Archetypen erscheinen in Träumen sowie beim absichtlichen Phantasieren (Imaginieren) und spontanen Zeichnen (das Jung in der Psychotherapie als Hilfsmethode einsetzte). Außerdem entdecke man archetypische Gestaltungen in den Religionen und Mythen, in der Dichtung und der Kunst überhaupt. Sogar philosophische Systeme können archetypisch inspiriert sein.

Eine zentrale Aufgabe der Psychotherapie besteht nach Jung in der Auseinandersetzung mit diesen Archetypen . So gibt es den Archetypus des Geistes, der in Träumen als Wind, Ahnengestalt, helfendes Tier und Gottheit erscheinen kann. Auch Medizinmänner und jede Art von Heilern sind Konkretisierungen dieses Urbildes.

Noch wichtiger ist der Archetypus des Selbst . Dieser wird aktiviert, wenn sich der Mensch auf den Weg der Individuation begibt, welche nach Jung die eigentliche Zielsetzung jeder seelenärztlichen Behandlung ist. Nach den Jungianern ist der Selbstverlust die Urform aller Neurosen. Der Einzelne würde seelisch nicht erkranken, wenn ihn nicht Erziehung, Gesellschaft und eigene Bequemlichkeit von sich selbst entfremden, so dass er an den wesentlichen Sphären seiner Innerlichkeit vorbei lebt.

Das kollektive Unbewusste enthält noch weitere Archetypen . Wir erwähnen die Quaternität (also die Vierzahl), das göttliche Kind, das Mandala (ein Kreissymbol, das vor allem im fernen Osten seit jeher als Symbol der Ganzheit gilt) und den Gottes-Archetypus. Jung behauptete zwar, dass er lediglich Aussagen über die Existenz eines Gottesbildes in der menschlichen Seele machen könne, indes die Existenz Gottes ein Feld für Theologen und Metaphysiker sei. Doch er unterstrich diese These noch durch das Postulat, die Seele sei „naturaliter christiana et religiosa“. So enthielt das von ihm beschriebene kollektive Unbewusste nolens volens ein Bekenntnis zur traditionellen Religion.

Auf die politischen Verwicklungen Jungs während der Zeit des Faschismus wurde bereits hingewiesen. Damals will er auch ein „rassisches Unbewusstes“ entdeckt haben, und in seiner Abhandlung Der Gegensatz Freud und Jung (1929) sowie in späteren Arbeiten schreckte er nicht davor zurück, von einem jüdischen und germanischen Unbewussten zu sprechen, wobei er dem Letzteren gewaltige Seelentiefe und schöpferische Dispositionen zuschrieb.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Jung mit seinem Konstrukt eines kollektiven Unbewussten eine überpersönliche seelische Konstante in die Natur des Menschen legte. Ihm zufolge soll diese allgemeine psychische Grundlage angeboren und im Gehirn verortet sein. Das Fundament jedes subjektiven Seelenlebens stellen demnach weltweit verbreitete, bei allen Individuen wiederkehrende psychosoziale Muster dar, die sich in Bildern, Symbolen, Phantasien, Träumen, Märchen und Mythen, aber auch in Krankheitssymptomen (etwa in psychotischen Spuk- und Zerrgespinsten) ausdrücken.

In seiner Abhandlung Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten (1934) ging Jung der Tradition des kollektiven Unbewussten und der Archetypen ideengeschichtlich nach. Schon Augustinus sowie einige Denker der Renaissance hätten auf unbewusste, bei allen Menschen vorhandene Urbilder abgehoben, die für die Ausgestaltung mythologischer und religiöser Vorstellungen verantwortlich seien.

Jung war es wichtig zu betonen, dass es sich bei den Archetypen um Strukturen oder Muster und nicht um Inhalte handele. Diese Strukturen oder Muster seien als psychophysische oder anatomische Phänomene zu verstehen, die vom Menschen grundsätzlich nicht wahrgenommen werden können. Was unter optimalen Bedingungen wahrnehmbar sei, sind archetypische Bilder und Figuren, die in Visionen, Metaphern und Symbolen ihren Ausdruck finden.

Im Schlaf, im Zustand der Intoxikation (Alkohol, Drogen) oder auch in Krisenzeiten, wenn das Ich eines Menschen geschwächt ist, dominiere das archetypische Verhalten. Dies zeichne sich durch Grenzenlosigkeit, mächtige Affekte und Leidenschaften sowie eine gewisse Distanz zum intellektuell-logischen Urteilen und Denken bei gleichzeitiger Bevorzugung des mythologisch-bildhaften und irrationalen Begreifens der Welt aus.

Bei psychotischer Disposition oder Krankheit könne es geschehen, dass sich die archetypischen Figuren und ihre Inszenierungen von der Bewusstseinskontrolle befreien und völlige Selbständigkeit erlangen. Die relative Autonomie, welche den Archetypen im Seelenhaushalt sowieso zukomme, sei dann absolut und ungezügelt und rufe Zustände der Besessenheit und Verrücktheit hervor.

Jung erwähnte an dieser Stelle den Fall Schreber, der durch seinen Bericht über die eigenen Wahngedanken (Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, 1903) sowie durch die Abhandlung Freuds über ihn (Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, 1911) zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt geworden war. Jung interpretierte die paranoiden Ideen Schrebers als Animabesessenheit, die dazu führte, dass sich der Kranke durch Selbstkastration in eine Frau verwandeln wollte oder zumindest befürchtete, dass so etwas mit ihm geschehen könnte.

Psychologische Typen

Als frühes Modell einer psychophysiologischen Typenlehre , die körperliche und seelische Einzelphänomene zu größeren Einheiten zusammenfasste, gilt die in der griechisch antiken Medizin und Philosophie (z. B. beim Aristoteles -Schüler Theophrast ) formulierte Temperamentenlehre des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers. Diese vier Typen wurden auf die Mischungsverhältnisse der Körpersäfte Blut und Schleim sowie gelbe und schwarze Galle und damit letztlich auf die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer zurückgeführt. Die somatischen und psychischen Verhältnisse beim Individuum (Mikrokosmos) hatten so ihre Entsprechung im Makrokosmos.

Mit seinem 1921 publizierten Werk Psychologische Typen setzte Jung diese uralte Tradition der Typenlehre fort. Ausgehend von den von ihm formulierten seelischen Grundfunktionen unterschied er Denk-, Fühl-, Intuitions- und Empfindungstypen . Diese Funktionstypen wurden von ihm in zwei Klassen unterteilt: rationale und irrationale Typen. Eine noch weiter reichende Charakterisierung der Funktionstypen nahm er insofern vor, als er von Introversion und Extraversion sprach.

Die Grundfunktionen des Denkens, Fühlens, Intuierens und Empfindens sind nach Jung Ausdrucks- und Erscheinungsformen der Libido oder allgemein der seelischen Energie eines Menschen. Als Grundfunktionen werden sie bezeichnet, weil sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen und sich fundamental voneinander unterscheiden.

Jeder Mensch weise in der Regel eine dieser vier Grundfunktionen als dominierende auf, wohingegen die verbleibenden als minderwertige Funktionen mehr oder minder brach liegen und im Unbewussten ihre Wirkung entfalten. Mit der dominierenden seelischen Funktion versuche das Individuum bevorzugt, den Anforderungen seines Lebens gerecht zu werden, was zu einer Perpetuierung dieser Einseitigkeiten beitrage.

Wenn sich der Einzelne mit der bei ihm am weitesten entwickelten Funktion identifiziert und sie wertschätzt, ist er zum jeweiligen Typus geworden. Der Denktypus setzt einen Großteil seiner seelischen Energie dafür ein, mittels intellektueller Bemühungen die Welt in begrifflichen Zusammenhängen zu erfassen und zu gestalten. Der Fühltypus verlässt sich auf Stimmungen und Gefühle, um Situationen und Mitmenschen zu beurteilen. Der Intuitionstypus greift auf instinktives Erfassen von Gestalten und Ganzheiten zurück, um sich in der Welt zu orientieren – eine Form der Erkenntnis, die ähnlich bereits von Spinoza als „scientia intuitiva“ beschrieben wurde. Der Empfindungstypus schließlich benutzt seine Sinnesorgane und die Perzeption seines Körperinneren, um für sich Gewissheit bezüglich der Fragen seiner Existenz zu gewinnen.

Denken und Fühlen wurden von Jung als rationale Funktionen bezeichnet, weil bei ihnen Überlegung und Vernunftgesetze eine wichtige Rolle spielen. In ihnen waltet seiner Meinung nach die Vernunft, welche dem Prinzip objektiver Werte verpflichtet ist, worauf die rationalen Funktionen abzielen.

Irrationale Funktionen wie Intuieren und Empfinden ermöglichen dagegen Wahrnehmungen und Urteile unter Umgehung von rationaler Ableitung und vernunftgemäßer Hervorbringung von Gedanken und Gefühlen. Die dabei wahrgenommenen Inhalte haben den Charakter des Gegebenen, ohne dass dieses Gegebene in Worte gefasst oder in seiner Entstehung nachvollzogen werden könnte.

Jung betonte, dass man nur selten reine Typen beobachten könne. Bei den meisten Menschen kommen deren sekundäre Funktionen als oftmals unbewusste Beimengungen der Hauptfunktion zur Geltung. Insbesondere bei den rationalen Typen und Funktionen (Denken und Fühlen) schwingen die irrationalen Funktionen des Intuierens und Empfindens stets mit. Aber auch umgekehrt könne man bei Intuitions- und Empfindungstypen immer wieder Denken und Fühlen als Nebenstrategien der Existenzorientierung feststellen.

Ganz entscheidend werden die verschiedenen Funktionstypen von den Einstellungen der Extraversion und der Introversion geprägt. Unter Extraversion verstand Jung die Auswärtswendung der Libido eines Menschen hin auf seine Umwelt und die Objekte, die ihm dort begegnen. Die Interessen des Extravertierten sind auf Mitmenschen, Situationen und Dinge gerichtet, denen er sich denkend, fühlend, intuierend oder empfindend zuwendet. Wenn es sich bei der Extraversion lediglich um eine passagere Haltung handelt, sprach Jung von Einstellung , bei Persistenz dieser Haltung von Typus .

Analog unterschied Jung eine introvertierte Einstellung von einem introvertierten Typus. Bei Menschen mit überwiegender Introversion lässt sich eine Einwärtswendung der Libido, also ein Rückzug von Interessen auf das eigene Subjekt, beobachten. Andere Menschen oder die Umwelt spielen dabei hinsichtlich der Motivation und Problemlösungen eines Individuums nur eine untergeordnete Rolle.

Bei einem pathologischen Überwiegen introvertierter Einstellungen kann es zu einer Introversionsneurose kommen. Die Betroffenen imponieren durch ein in sich verfangenes Wesen, durch Hemmungen und soziales Desinteresse bis hin zu schizoiden oder autistisch anmutenden Ausprägungen ihres Charakters. Analog könnte man beim einseitigen und fixierten Dominieren extravertierter Einstellungen von einer Extraversionsneurose sprechen, die von einem permanenten Außer-sich-Sein und der Abwesenheit von Innerlichkeit, Wesensmitte und autonomer Urteilskraft gekennzeichnet ist.

In späteren Schriften verknüpfte Jung seine Typenlehre mit der Entwicklungspsychologie. Dabei führte er aus, dass bis zur Lebensmitte ein Überwiegen der Extraversion bei den meisten Menschen feststellbar und wünschbar sei. Die Lebensaufgaben in Beruf, Partnerschaft und Gesellschaft machen ein extravertiertes Vorgehen notwendig. Wer sich diesbezüglich als introvertiert erweise, gerate entweder unter Neuroseverdacht oder scheitere sogar an den Herausforderungen des Daseins.

In der zweiten Hälfte des Lebens komme es jedoch bei vielen Individuen zu einer Zunahme der Introversion. Diese Verschiebung von Interessen und Zuwendung sei sinnvoll und entspreche der Rolle älterer Menschen. Wer seinen beruflichen und sozialen Platz in Gesellschaft und Kultur erobert habe, tue gut daran, sich nach der Lebensmitte verstärkt um die Aus- und Weiterbildung der eigenen Person und deren Innerlichkeit zu bemühen. Diesbezügliche Unterlassungen führen nicht selten zu krisenhaften Zuspitzungen der Existenz („Midlifekrise“) oder zu körperlichen und seelischen Erkrankungen aller Art.

Als Beispiele und Belege für die in seiner Typenlehre postulierten Polaritäten (rational/irrational; extravertiert/introvertiert; bewusst/unbewusst) griff Jung unter anderem auf mythologische Gestalten der europäischen Kulturgeschichte zurück. So könne man an den griechisch-antiken Figuren Prometheus (vorausdenkend) und Epimetheus (hinterherdenkend) ebenso wie an den Gottheiten Apollo und Dionysos die Antagonismen von Intro- und Extraversion sowie von Rationalität und Irrationalität aufzeigen. Auch in den Schriften Nietzsches , so Jung, werde mehrfach auf derlei polare Einstellungen und Haltungen angespielt.

Individuation

Eine tiefere Bedeutung körperlicher und seelischer Krankheiten sah Jung darin, den Betreffenden daran zu erinnern, dass er eventuell im Status der Selbstentfremdung lebt. Medizinische und psychologische Diagnostik und Therapie sollten stets auch das Thema der Selbstfindung ins Visier nehmen – eine Thematik, die vom Schweizer Arzt mit dem Begriff der Individuation bezeichnet wurde. In diesem Terminus ist das Gesundheitskonzept der Komplexen Psychoanalyse mit enthalten.

Jung kritisierte an vielen Stellen seines Werks die angepassten Durchschnittsbürger, die es versäumen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, und die in einem scheinbar konfliktfreien und problemarmen Zustand leben, den sie mit psychosozialer Normalität verwechseln. Neurotisch oder körperlich Erkrankte sind in dieser Hinsicht möglicherweise in einer günstigeren Situation, da sie die Anpassung an die bürgerliche Norm nicht umfassend zustande bringen und deshalb nicht selten das Potential zur Freilegung und zum Wachstum ihrer Person in sich tragen.

Allerdings darf man nicht übersehen, dass psychosomatische oder neurotische Störungen häufig lediglich Defizitformen der Nichtanpassung bedeuten. Wenn daraus ein erfolgreicher Individuationsprozess werden soll, braucht es in der Regel gewaltige Anstrengungen des Lernens und der Selbsterziehung. Jung betonte, dass es sich dabei um eine beiderseitige Anstrengung handelt: Der Therapeut muss ebenso wie der Patient sein Selbst wandeln, um das Gegenüber zu verstehen und es seinerseits zur Selbstwerdung zu ermutigen.

Viele Erkrankungen haben zwar ihren Ursprung in der Kindheit und Jugend: biologische Defizite, belastende Umweltverhältnisse, ungünstige Sozialisation und prekäre Charaktere der Eltern. Gleichwohl wäre es falsch, das Wesen neurotischer oder psychosomatischer Störungen allein in infantilen Traumatisierungen und Fixierungen suchen zu wollen.

Jung wies mit Nachdruck darauf hin, dass in jeder dieser Störungen Gegenwartsprobleme enthalten sind, die eine vorrangige Berücksichtigung verdienen. Die Erörterung von Kindheitserlebnissen, die in der orthodoxen Psychoanalyse oft im Mittelpunkt steht, lenke von der aktuellen Situation ab, die doch primär bewältigt sein will. Menschen leben in der Gegenwart und haben sich in ihr zu bewähren:

Wenn man die Geschichte einer Neurose aufmerksam verfolgt, findet man regelmäßig einen kritischen Moment, in dem ein Problem auftauchte, welchem ausgewichen wurde. Nun ist dieses Ausweichen eine so natürliche und überall vorhandene Reaktion wie die ihm zugrunde liegende Faulheit, Bequemlichkeit, Feigheit, Ängstlichkeit, Unwissenheit und Unbewusstheit. Wo es unangenehm, schwierig und gefährlich wird, da zögert man meistens und geht womöglich nicht hin (Jung 1995, S. 27).

Angesichts von Krankheitssymptomen dürfen sich Arzt und Patient fragen, welche Lebensaufgabe der Letztere nicht zu lösen vermochte und wie ihn die Therapie dafür gewinnen kann, diese Aufgabenstellung zu erkennen und anzugehen. Das Zurückweichen vor der Realität ergibt pathologische Phantasietätigkeit, die man zwar untersuchen und analysieren soll, wobei man aber im Auge behalten muss, dass sich das wirkliche Leben nicht im Imaginären abspielt. Jung wollte seine Patienten dazu ermutigen, sich aktiv mit ihrer Wirklichkeit auseinanderzusetzen:

Das, was die Psychotherapie vom Patienten fordert, ist gerade das Gegenteil von dem, was der Patient bisher getan hat. Der Patient gleicht einem Menschen, der unabsichtlich ins Wasser gefallen ist und untersinkt, während die Psychotherapie von ihm fordert, er solle ein Taucher sein. Nämlich jene Stelle, wo der Patient hinein fällt, ist keine zufällige. Dort liegt ein versunkener Schatz. Aber nur ein Taucher kann ihn heben (Jung 1994, S. 212).

Hatte der Patient seine dringlichsten Probleme bewältigt, begab sich Jung mit ihm auf den Weg der Personwerdung . Die Individuation sollte durch eine tiefgehende Untersuchung des eigenen Innenlebens eingeleitet werden. Hierzu wurden weitgehend die Träume des Analysanden verwendet. Für Jung bedeutete der Traum keine infantile Trieberfüllung, sondern ein Naturereignis, welches die tiefsten Tiefen der menschlichen Psyche bloßlegt. Man kann Träume auf objektiver und subjektiver Stufe interpretieren: Im ersten Fall spiegeln sie ein Stück Welterfahrung wider, im letzteren Fall verweisen sie als Symbolisierungen auf das Selbst des Träumers.

Jung war überzeugt, dass es beim Patienten zu umfassender Gesundung nur komme, wenn er sich der Thematik der Individuation aktiv zuwende. Dadurch sollte er aus fragwürdigen gesellschaftlichen Hüllen und Rollen (deren Gesamtheit Jung als Persona bezeichnete) befreit und zur Personwerdung animiert werden. Um die ethischen Implikationen zu unterstreichen, die im Individuationsbegriff mit enthalten sind, zitierte Jung in diesem Zusammenhang die Forderung des spätmittelalterlichen Arztes Paracelsus : „Keinem anderen gehöre, der sein eigen sein kann!“

Conclusio

So sehr Jung ein monistisches Menschenbild entworfen hat, welches nur die eine Energie und Grundkraft der Libido kennt, so sehr war er gleichzeitig überzeugt, dass Menschen durch ihre polar angeordneten Haltungen und Eigenschaften charakterisiert werden.

Einige dieser von Jung beschriebenen Antagonismen wurden bereits skizziert: bewusst und unbewusst; extravertiert und introvertiert ; rationale (Denken, Fühlen) und irrationale psychische Funktionen (Empfinden, Intuieren); „Anima “ und „Animus “; Persona und Person ; Selbstentfremdung und Individuation . Ergänzen kann man diese um die Gegensatzpaare von Regression und Progression (der Libido), geistig und materiell sowie lebendig und tot.

Das menschliche Dasein ereignet sich als dauerndes Oszillieren zwischen diesen Polaritäten, und die gesamte seelisch-geistige wie auch körperliche Dynamik eines Menschen wird verständlich, wenn man sich die antagonistischen Strebungen von dessen Existenz vor Augen hält. Gesundheit entsteht oder bleibt nach Jung am ehesten erhalten, wenn sich der Einzelne um einen Ausgleich der verschiedenen Antagonismen bemüht. Existentielle Spannungen, Konflikte und Erschütterungen sowie viele Krankheiten resultieren dem Schweizer Arzt zufolge häufig aus fixierten einseitigen Lebenseinstellungen, welche der Polarität des individuellen und kollektiven Daseins nicht ausreichend gerecht werden.

Aus diesen anthropologischen Grundannahmen Jungs erwachsen weitreichende Konsequenzen für die Theorie, Diagnostik und Therapie der medizinischen und psychologischen Heilkunde. Ihm zufolge reicht es nicht hin, Entstehung, Verlauf und Behandlung körperlicher oder seelischer Erkrankungen lediglich mit den herkömmlichen Pathogenese-, Diagnose- und Therapiemanualen zu erfassen. Diese müssen um wesentliche Gesichtspunkte erweitert werden.

Nach Jung lebt der Großteil der Menschen zumindest in der westlichen Welt in einem betont extravertierten und selbstentfremdeten Zustand . Ihr Dasein ist bevorzugt auf materielle Werte wie Geld und Besitz sowie auf gesellschaftliche Anerkennung und berufliche Karriere (Status des Persona -Seins) ausgerichtet. Glück und Zufriedenheit wird von ihnen in der Regel mit den Attributen jung, reich und schön verknüpft, und Leben findet für sie da statt, wo Zerstreuung, Spiel und Spaß geboten wird.

Erkranken Menschen mit solchen Lebensstilen, versuchen sie meist ebenso wie ihre Ärzte, die betreffenden körperlichen oder seelischen Funktionsausfälle rasch zu beseitigen. In vielen Fällen gelingt dies problemlos aufgrund moderner medizinischer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, und nicht selten sind die ehemalig Erkrankten damit in die Lage versetzt, ihr bisheriges (krankmachendes) Daseinsprogramm ohne größere Einbußen oder Veränderungen fortzusetzen.

Damit aber verspielen Patienten wie Ärzte wichtige Chancen der existentiellen Erkenntnis und Wandlung. Krankheiten enthalten nämlich eine unausgesprochene Aufforderung zur Introversion und zur Besinnung auf die zentralen Aspekte der eigenen Existenz. Der erzwungene Rückzug (Bettlägerigkeit, Schonung) kann als Gelegenheit zur Innenschau und zur Distanz gegenüber dem geschäftigen Alltagstreiben verstanden werden, was Anlass zu einer Umwertung nicht aller, aber immerhin einiger Werte geben könnte.

Ein Paradebeispiel für solche Krankheitseffekte stellt die Biographie Friedrich Nietzsches dar. Er war als junger Mann als Professor nach Basel berufen worden. Seine vielfältigen körperlichen Beschwerden bewirkten letztlich, dass er sich aus seinem ungeliebten Professorendasein lösen und ein Leben als freier Denker führen konnte. Seine Ausführungen in Menschliches, Allzumenschliches waren aus eigenem Erleben gespeist:

Wert der Krankheit. – Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: Er gewinnt diese Weisheit aus der Muße, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt (Nietzsche 1988, S. 234).

Krankheiten sind in der Regel mit Schwäche, Verlust von Freiheits- und Autonomiegraden sowie Ohnmachterlebnissen aller Art verbunden. Diese Zustände werden in den meisten Kulturen als wenig attraktiv beurteilt und, wenn immer möglich, gemieden. Im Patriarchat hat es sich darüber hinaus eingebürgert, solche Mängel im entwertenden Sinne als weiblich („Anima “) zu bezeichnen, indes Stärke, Kraft und Macht als männliche Attribute („Animus “) und damit als erstrebenswert gelten.

Dies bedeutet, dass die Krankenrolle dem männlichen Patienten Gelegenheiten bietet, bei sich Anima-Anteile wahrzunehmen und wenn möglich auch zu integrieren. Männer wie Frauen werden durch Krankheit mit Nichtkönnen und Unterlegenheitsempfindungen aller Art konfrontiert. Wenn sie daraus nicht sofort kompensatorische Überlegenheitsgefühle (Krankheitsgewinn) entspringen lassen, bietet sich ihnen die Chance, ihre eventuell einseitig auf den Animus-Pol hin orientierte Persönlichkeit um die Anima-Qualitäten von Hingabefähigkeit und Eingeständnis von Schwäche zu ergänzen.

Analog kann man vor allem bei körperlichen Krankheiten zeigen, dass sie die Betroffenen mit der Notwendigkeit konfrontieren, sich mit den oftmals abgewerteten irrationalen seelischen Funktionen von Empfindung und Intuition auseinander zu setzen. Viele somatische Krankheitsprozesse sind mit rationalen Erwägungen allein nicht umfassend einzuordnen; man muss ihnen im Erleben des eigenen Leibes mittels empfindsamer und intuitiver Körperwahrnehmung nachspüren.

So enthalten Krankheiten für die Patienten und nicht selten auch für die Ärzte ein regelrechtes Programm der Selbstwahrnehmung , Selbsterkenntnis und Selbstwandlung . Diese Gesichtspunkte freilich sind im herkömmlichen Medizinalbetrieb in der Regel unterrepräsentiert. Die technisch-apparativen Möglichkeiten von Diagnostik und Therapie machen längere Zeiten von Heilung und Rekonvaleszenz häufig überflüssig, und damit entfallen Chancen für nachdenkliche und die eigene Persönlichkeit verändernde Reflexion. Außerdem sind bei weitem nicht alle Ärzte willens und in der Lage, ihre Patienten zu derartigen Überlegungen anzuregen.

Über die Fähigkeit, bei Patienten Prozesse der Veränderung ihrer Person anzustoßen, verfügen am ehesten jene Heilkundigen, welche der Aufgabe der Individuation bei sich selbst (in Ansätzen) nachkommen. Zumindest theoretisch war sich Jung dieser Zusammenhänge bewusst:

Der entscheidende Punkt ist, dass ich als Mensch einem Menschen gegenüberstehe. Die Analyse ist ein Dialog, zu dem zwei Partner gehören. Analytiker und Patient sitzen einander gegenüber – Aug in Auge. Der Arzt hat etwas zu sagen, aber der Patient auch … Nur wo der Arzt selber getroffen ist, wirkt er (Jung 1971, S. 137ff.).

Leider wies Jungs Persönlichkeit erhebliche Tendenzen zur Anpassung an eine bürgerlich-konservative Weltanschauung auf, in der Elemente wie Religiosität, Esoterik, Konformismus, Aberglauben, Vorurteilshaftigkeit und Akzeptanz von Autoritarismen nicht fehlten. Dazu passte die ihn umgebende Aura eines Gurus, der anscheinend Zugang zu außerordentlichen Wahrheiten hatte, welche den mittleren Menschen für immer vorenthalten bleiben werden.

So stilisierte sich der alternde Seelenarzt zu einem regelrechten Mystagogen, bei dem sich alle jene Zeitgenossen glücklich schätzen sollten, die an ihm irgendwie teilhaben durften. Er gab vor, ein Weiser zu sein, der zu fast allen existentiellen und kulturellen Dimensionen des menschlichen Daseins Originelles beizusteuern wusste – entsprechend angespannt muss sein basales Lebensgefühl gewesen sein.

Applaus erhielt Jung vor allem von jenen Patienten und Anhängern, die eine ihm entsprechende ideologische Orientierung aufwiesen, und deren Narzissmus befriedigt wurde, indem ihnen der Guru vom Zürichsee attestierte, wie sehr ihre Existenz einem großartigen Mysterium glich, zu dessen Tiefendimensionen er ihnen Zugang schuf. Für nicht wenige Menschen bedeutete es denn auch eine Stabilisierung ihres Selbstwerts, nicht nur an einer schlichten Allerweltsneurose erkrankt zu sein, sondern von einer offenkundigen Koryphäe bescheinigt zu bekommen, dass sich in ihren Symptomen das gesamte Menschheitsschicksal widerspiegelt.

Den kulturkritischen Auftrag der Psychoanalyse vergaß Jung dabei geflissentlich. Anders als Freud und Adler verkörperte er den Typus des Sehers und Zauberers unter den Seelenärzten, der zwar mit manchen seiner Konzepte die Tiefenpsychologie und Anthropologie bereicherte, mit seiner Persönlichkeit das Niveau der Vorbildlichkeit im Gegensatz zu den beiden anderen Pionieren der Psychoanalyse jedoch nicht erreichte.