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Geschichte Lyndon B. Johnson

Der Präsident, dem der Kennedy-Mord zugetraut wird

Schlächter von Vietnam oder Kämpfer für die Bürgerrechte? Die Amerikaner streiten wieder über Lyndon B. Johnson. Einige trauen ihm sogar zu, in das Kennedy-Attentat verwickelt zu sein.

Die Erinnerung der Europäer an den 36. US-Präsidenten Lyndon Baines Johnson alias LBJ (1908–1973) schwankt zwischen zwei eingebrannten Bildern: Einmal ist das Johnson in der Nacht des 22. November 1963 in Air Force One auf dem Rückflug von Dallas nach Washington, die Hand zum Amtseid erhoben, die Miene seltsam ruhig, neben Jackie Kennedy im blutbefleckten Kostüm, deren Mund von unfassbarem Schrecken leicht geöffnet wird. Der Traum war tot, die Nation im Schock erstarrt, einem ungeliebten Ungewählten fällt die Macht zu.

Das andere Bild, in Farbe, verschmilzt Dutzende TV-Aufnahmen zu einem: Johnson, die Miene abweisend und gekränkt, verteidigt die jüngsten schlechten Nachrichten aus Vietnam – LBJ verantwortet die Eskalation von 16.000 US-Soldaten 1963 auf 550.000 GIs im Jahr 1968, und sein Ansehen wird verzerrt zum Kriegstreiber.

"How many kids did you kill today?"

Die US-Collegekids lehrten die deutsche Linke damals den Sprechchor: "Hey, hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today?" In einem Abgrund von Verdrängung und Vergessen versank, nicht nur in Europa und anderswo, was Johnson in fünf Jahren für die Schwachen in Amerika, vor allem gegenüber Schwarzen, Armen, Alten, geleistet hat: LBJ war der Vollstrecker der Vision John F. Kennedys, er ist der meist unbesungene Pate der Bürgerrechtsbewegung.

Dies zu ändern, LBJ aus der Gefangenschaft seines Kriegsklischees zu befreien, trat vor beinahe 40 Jahren der Journalist und Historiker Robert Caro an. Eine Biografie in drei Bänden hatte Caro im Sinn. Etliche Preise und Millionenauflagen später erschien vor kurzem endlich der vierte, 700 Seiten starke Band "The Passage of Power".

Seit Wochen beugt sich das gewöhnlich zerstrittene Washington so einhellig entzückt über Caros jüngsten LBJ-Geniestreich, wie Harry-Potter-Fans einst dem Lesen des neuesten Abenteuers ihres Helden entgegenfieberten. Kein Politiker, der auf sich hält, kein Polit-Junkie in Thinktanks, Medien, besserer Gesellschaft kommt an der Lektüre vorbei.

Johnson war ein Meister der Überzeugung

Prominentester und erfahrungsreichster Rezensent war am 6. Mai in der "New York Times" William Jefferson Clinton. Clinton rühmte den Meistertaktiker LBJ, der ein unwiderstehlicher Verkäufer seiner Ziele war. Schmeichelnd wie feines Parfum, tödlich charmant wie eine Kettensäge, ganz nach dem Belieben und Befinden seiner Gegenüber.

Eine berühmte Fotoserie zeigt Johnson, wie er einem Senator gestikulierend zu Leibe rückt: immer näher, bis die ganzen 193 Zentimeter seiner Statur sich drohend, nosferatugleich schattenwerfend über dem entsetzten Opfer neigen. Bill Clinton bewundert die aus Erpressung und Überredung gekreuzte Kunst LBJs, der Freund wie Feind nicht widerstehen konnte.

Das unvollendete "Great Society"-Reformwerk JFKs, im Kongress von Südstaaten-Demokraten und Republikanern blockiert, wäre ohne LBJ womöglich nie Gesetz geworden: Der historische Civil Rights Act, Medicare und Medicaid, eine staatliche Gesundheitsfürsorge für Alte und Arme, die unter dem Kampfruf "War on poverty" den Staat helfend, nicht strafend einsetzte – nichts davon war Gesetz, als Kennedy starb, das meiste galt im Parlament als tot geboren.

Er hasste Robert Kennedy

Es zahlte sich aus, dass der Texaner Johnson von 1949 bis 1961 im Senat, davon sechs Jahre als der mächtigste Fraktionschef der Geschichte, sein Handwerk gelernt und mit skrupellosem Machtwillen gehärtet hatte. Johnson kannte jeden und konnte mit jedem. Die Patrizierbrüder John, Robert und Edward Kennedy waren für ihn anämische Parvenüs (er schimpfte sie "die Harvards"), die im Senat so viel verloren hatten wie Elvis Presley.

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JFK verachtete er als "einen kleinen, dürren, rachitischen Kerl", der nicht einmal die Senatsregeln beherrsche. Robert Kennedy, den LBJ inbrünstig hasste und bei dem er seinen Hass erwidert fand, erkannte in Johnson einen "gemeinen, bitteren, bösartigen (Mann), ein Tier in vielerlei Sinn".

Anekdoten im Dutzend überliefern Roberts absichtsvolle Kränkungen, verweigerte Handschläge, halblauter Spott, den LBJ hören sollte. Der einst mächtigste Mann des Senats wurde von Robert behandelt wie ein tumber Cowboy. Sie verziehen einander niemals.

Die Kennedys bemerkten seinen Machtwillen

Die Jahre als Vizepräsident, der von JFKs innerem Kreis, angeführt von RFK, verhöhnt und ins Abseits gedrängt wurde, waren die Hölle für den stolzen Machtpolitiker. Caro erzählt, wie Johnson morgens durchschaubare Vorwände fand, um zur Präsidentenrunde im Oval Office zugelassen zu werden. Und regelmäßig ausgesperrt blieb wie ein räudiger, wunder Hund, "a cut dog" nannte er sich einmal selbst.

Wieso hatte er sich auf den Job eingelassen? Eine Position, die laut John Garner, dem Vizepräsidenten an der Seite Franklin Roosevelts, "keinen Eimer warmer Spucke wert ist"? Robert Caro beschreibt in fabelhafter Anekdotendichte, wie Johnson 1960 sein Team beauftragte, zu prüfen, wie viele Präsidenten im Amt gestorben seien.

Sieben von 33 lautete die Auskunft, und einige Vizepräsidenten wurden später zu Präsidenten gewählt. LBJ, notiert Caro, fand die Wette annehmbar und prahlte offen mit seinen statistischen Beförderungschancen. Dem Präsidentenehepaar Kennedy entging nicht der kaum gezügelte, beleidigte Machtwille LBJs, den Senator Daniel Moynihan als "Bullen, der sehr spät in seinem Leben kastriert wurde" verspottete.

Johnson wurde verhöhnt

Jackie Kennedy schrieb Jahre später an einen Vertrauten: "Sie müssen gewusst haben, wie sehr mein Mann sich davor fürchtete, Johnson könnte Präsident werden." Nicht jedem Europäer erschließt sich das Bedürfnis der Amerikaner, ihre Präsidenten mit monarchischer Würde zu salben, ihnen göttergleiche Fähigkeiten zuzueignen und einen eigenen Historikerzweig mit der Erforschung ihrer Amtszeiten zu betrauen.

Robert Caros an Shakespeares Königsdramen erinnerndes LBJ-Kunstwerk wäre kaum vorstellbar zum Leben Margaret Thatchers oder Willy Brandts, nicht einmal zu Winston Churchill. Staunenswert bleibt, wie kühn und loyal LBJ das gesetzgeberische Erbe Kennedys antrat.

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All die Erniedrigungen durch Robert Kennedy, all das Misstrauen und der Hohn des inneren Kreises um JFK ließen Johnson nicht zögern, die Macht zu nutzen. die er so lange ersehnt hatte. LBJs Hass auf Robert, der sich weigerte, ihn je als "Mr. President" zu akzeptieren, erlosch nicht 1968, sondern erst mit dem eigenen Tod.

Er verzichtete auf eine zweite Kandidatur

Bill Clinton und andere bewundern LBJ für seinen Mut, aussichtslos scheinende Reformen gegen seinen Staat und große Teile seiner Partei durchzusetzen. Gefragt, warum er sich das aufhalse, schnappte er zurück: "Wozu zum Teufel soll die Präsidentschaft denn sonst gut sein?"

Nun beginnt das Warten auf den letzten Band von Robert Caros Johnson-Biografie. Er wird die "sehr düstere, traurige Geschichte" von LBJs Vietnamkrieg erzählen und von dem Verzicht des unpopulären, verkannten Präsidenten auf eine zweite Kandidatur 1968.

Dass sich das Ansehen LBJs noch nicht erholt hat, bezeugt Caro selbst. In Briefen, bei Lesungen, bei Vorträgen an Colleges komme unfehlbar und früh dieselbe Frage: "Hat er es getan? Hat er die Verschwörung, Kennedy zu ermorden, geführt?" Und wenn er dann entgegne, dass er in all den Jahren der Forschung nicht einen Hinweis auf eine Beteiligung LBJs an dem Attentat entdeckt habe, "dann spüre ich, dass ich mein Publikum verliere. Es kann es nicht akzeptieren."

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