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Natur & Umwelt Sagenumwobener Ort

Wie eine Flut das Atlantis der Nordsee verschlang

Der Untergang Rungholts im nordfriesischen Wattenmeer ist aufgeklärt: Forscher rekonstruierten jetzt die letzten Stunden der sagenhaften Stadt.

Die Katastrophe bahnte sich an der englischen Ostküste an: Eine verheerende Sturmflut führte am 15./16.Januar 1362 zum Untergang der Stadt Dunwich. Der Unheil bringende Orkan zog ostwärts – und ließ am 16./17.Januar die Stadt Rungholt im nordfriesischen Wattenmeer versinken. Da es keine Schriftstücke, sondern nur mündliche Überlieferungen gab, wurde Rungholt im Laufe der Jahrhunderte zu einem sagenumwobenen Ort.

Erst in den 1920er-Jahren fand man Siedlungsreste im Watt südöstlich der Insel Pellworm, doch blieb das Schicksal des „Atlantis des Nordens“ weiterhin nahezu ungeklärt. Erst jetzt haben Meteorologen, Geologen, Archäologen, Heimatforscher und Historiker in akribischer Kleinarbeit die letzten Stunden des Kirchspiels Rungholt rekonstruiert und Zusammenhänge erkannt, die zur Katastrophe führten.

„Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor 500 Jahren...“ So beginnt die wohl bekannteste Ballade, „Trutz, Blanke Hans“, zu dem sagenhaften Ort, 1882 geschrieben vom Schriftsteller Detlev von Liliencron (1844–1909). Sie erzählt von einer reichen Stadt „wie zur Blütezeit im alten Rom“, aber auch von „lärmenden Leuten, betrunkenen Massen“. Verschiedene Beschreibungen von ungezügeltem Leben und gotteslästerlichem Verhalten der Rungholter führten dazu, dass der Untergang der Stadt (geschätzte Einwohnerzahl: 2000) über Jahrhunderte als Rache Gottes gesehen wurde.

Die Notizen und Legenden enthalten einen wahren Kern, bestätigt die heutige Wissenschaft. So war Rungholt tatsächlich viel reicher als die Nachbarorte. Das stellte der Heimatforscher Albert Panten fest, als er im dänischen Staatsarchiv in Kopenhagen Steuererfassungsbücher aus dem Mittelalter wälzte. Damals gehörte Nordfriesland zum dänischen Hoheitsgebiet – Eintragungen aus dem Jahr 1231 belegen, dass Rungholt doppelt so viel Steuern abführte wie die Nachbarbezirke.

Doch was machte das Städtchen auf der damaligen Insel Strand, von der sich heute nur noch der nördliche Teil aus dem Meer erhebt, so reich? Die Antwort findet sich im Untergrund: Salztorf. Aus ihm gewannen die Rungholter Salz, ein begehrter Stoff zur Haltbarmachung von Lebensmitteln. Mit ihm trieben die Nordfriesen regen Handel. Das belegen auch Funde von Keramikscherben, von denen etwa ein Drittel aus ferneren Ländern stammt.

Schon der Nordstrander Andreas Busch, Bauer und enthusiastischer Rungholt-Forscher, kartierte mit Freunden in den 1920er-Jahren Warften, Felder, Brunnen (eher Zisternen) – und Siele, die er „Schleusen“ nannte. Sie zeugen von einem bäuerlichen Handelshafen. Das größere Siel hatte eine 23,5 Meter lange und 5,36 Meter breite Kammer mit Bohlenwänden. Mehrere Urkunden aus dem 13.und 14.Jahrhundert belegen den Handel zwischen Flandern, Bremen, Hamburg und dem mittelalterlichen Bezirk Edomsharde mit seinem Haupthafen Rungholt.

Doch im 14.Jahrhunderts begann der Niedergang der blühenden Stadt. Anhand von Tropfstein-Analysen aus einer österreichischen Alpenhöhle wiesen Geologen extreme Klimaschwankungen für diesen Zeitraum nach. Es gab lang anhaltende Regenfälle und Unwetter, die Ernten vernichteten. Hungersnöte brachen aus, die Pest raffte die Hälfte der schleswig-holsteinischen Bevölkerung dahin.

Die Rungholter kämpften ums Überleben, wobei die Vorsorge, etwa die Unterhaltung der rund zwei Meter hohen Deiche, vermutlich zu kurz kam. Die Küstenbewohner, die durch den Torfabbau ihr Land tiefer legten und damit der Nordsee zusätzliche Angriffsflächen boten, waren den Sturmfluten fast schutzlos ausgeliefert. Auch ihre Warften, die etwa einen Meter höher als die Deichkrone waren, konnten sie nicht retten.

Obendrein waren Rungholt, das aus den beiden Orten Grote Rungholt und Lütke Rungholt bestand, sowie der ebenfalls versunkene Nachbarort Niedam besonders verwundbar: Sie waren auf Moor und Sand gebaut. Die sich zurückziehenden Gletscher der Saale-Eiszeit (vor 250.000 bis 130.000 Jahren) hinterließen an der nordfriesischen Küste eine Moränenlandschaft, die von der Weichsel-Eiszeit (vor 120.000 bis 10.000 Jahren) weiter geformt wurde.

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Es entstanden Schluchten, die die Nordsee allmählich mit losen Sedimenten zur Wattenmeerküste auffüllte. Viele Rungholter Warften standen auf diesem weichen Grund, der der Flut kaum Widerstand bot. Auch deshalb traf die Sturmflut 1362 die Siedlungen und etwa 30 andere Ortschaften so vernichtend, riss vermutlich mindestens 10000 Menschen in den Tod. Die Flut bekam die Namen „Grote Mandränke“ (große Manntränke) oder – benannt nach dem Namenstag am 16.Januar – Marcellusflut.

Das Meer legt neue Spuren frei

Die Siedlungsreste, die einst der Bauer Andreas Busch fand, hat sich das Meer längst wieder genommen. Immerhin konnte eine Vielzahl von Warften, Brunnen und sogar ein Deichfuß kartografiert werden, die eine gute Vorstellung von der Größe der Stadt vermitteln. Zudem fanden sich immer wieder Pflugspuren in alten, untergegangenen Äckern im Watt sowie Keramik und Ziegelreste.

Aber das Meer legt auch immer wieder neue Spuren frei. So sind aus dem Flugzeug bei günstigen Bedingungen mit bloßem Auge Brunnenringe und andere markante Strukturen sichtbar. Denn noch immer ruht ein Teil der versunkenen Stadt im Watt. Das Meer hat Rungholt zuerst zerstört und anschließend begraben.

Bereits Andreas Busch stellte im Laufe der Jahrzehnte fest, dass seine Fundstätte immer stärker überspült wurde – und erkannte als Ursache den steigenden Meeresspiegel. Er ist der entscheidende Faktor für den heutigen Küstenschutz, denn vieles spricht dafür, dass er durch die globale Erwärmung deutlich ansteigen wird. Wissenschaftler und Techniker arbeiten daran, dass sich eine Katastrophe wie bei Rungholt nicht wiederholt.

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