„ Mein Leben mit Virginia“ von Leonard Woolf: Die Menschen, das Leben – alles ist Rohmaterial
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„ Mein Leben mit Virginia“ von Leonard Woolf: Die Menschen, das Leben – alles ist Rohmaterial

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Virginia Woolf auf einem 1928 veröffentlichten Foto.
Virginia Woolf auf einem 1928 veröffentlichten Foto. © imago images/Everett Collection

Die absolute Schriftstellerin Virginia Woolf in den Erinnerungen ihres Mannes Leonard.

Ein Leben voller persönlicher Tragik und großer Glücksmomente. Ein Werk, das neben den Büchern von James Joyce oder Franz Kafka zu den Meilensteinen der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts zählt. Virginia Woolf schrieb Romane, die in den 1920er Jahren ihren Namen international auf die Literaturseiten der Zeitungen brachten. Aber, so schreibt ihr Ehemann und Lebensdeuter Leonard Woolf, „niemand hätte sie als populäre oder gar erfolgreiche Schriftstellerin bezeichnet, und sie hätte aus den Einnahmen ihrer Bücher schlicht nicht leben können“. Heute gehören Romane wie „Jakobs Zimmer“, „Mrs. Dalloway“ oder der leichthändige und witzige „Orlando“ zum Kanon der Weltliteratur.

Dreißig Jahre lebten Virginia und Leonard Woolf zusammen. Sie waren 1905 bei der Gründung der später legendären Bloomsbury Group dabei, zu der Intellektuelle wie der Maler Roger Fry, der Schriftsteller E. M. Forster, die Schriftstellerin Vita Sackville-West und ihr Ehemann, der Diplomat Harald Nicolson, sowie einer der bedeutendsten und einflussreichsten Wirtschaftstheoretiker seines Jahrhunderts, John Maynard Keynes, zählten. „Unsere Wurzeln“, schreibt Leonard Woolf, „und die Wurzeln unserer Freundschaft gründeten in der Universität Cambridge.“

Kinder der Elite, die die viktorianische Enge und Prüderie überwinden wollen: mit offenen Beziehungen, freier Kunst, fröhlichen, diskutierwütigen Treffen. Aber immer wieder begleiten auch gefährliche Lebensmomente diese Intellektuellen, die stellvertretend für ein geistiges Großbritannien stehen, dessen Weltreich mit dem Ersten Weltkrieg endgültig in die Schlussphase eingetreten ist. Ohne die Wirkung der Bloomsbury Group wären epochale Werke wie Aldous Huxleys Roman „Brave New World“ (1932) und George Orwells „1984“, erschienen 1949, kaum denkbar.

Leonard Woolf – zunächst Kolonialbeamter im damaligen Ceylon, dann Schriftsteller und Verleger – lässt in seinen Erinnerungen, die jetzt in einem wichtigen Teilstück neu erschienen sind, das Denken und das Empfinden dieser Welt wiederaufleben.

Im Zentrum steht sein Zusammenleben mit Virginia Woolf in London und in ihren Häusern im ländlichen Sussex. Ihre Liebe zum Buch und zum Druckerhandwerk, ihr Drang nach künstlerischer Unabhängigkeit führt sie 1915 zum Kauf einer Handpresse, die sie im Wohnzimmer aufstellen. Es ist der Anfang der berühmten Hogarth-Presse, benannt nach dem Haus in Richmond, in dem die Woolfs damals leben. Virginia lernt das Setzhandwerk und übernimmt das Lektorat, Leonard stellt den Druck her, nimmt die kaufmännischen Geschicke in die Hand. Beide binden in den ersten Jahren die in schmalen Bänden entstehenden Druckerzeugnisse.

Das Buch

Leonard Woolf: Mein Leben mit Virginia. Erinnerungen. Hrsg. v. Friederike Groth. A. d. Engl. v. Ilse Strasmann. Schöffling & Co., 2023. 336 S., 28 Euro.

Berühmte Namen werden veröffentlicht: Natürlich die Romane von Virginia Woolf und die ihrer engsten Freundin Vita Sackville-West, dazu Texte von E. M. Forster, Katherine Mansfield, John Maynard Keynes, George B. Shaw, Robert Graves, Christopher Isherwood oder H. G. Wells. Das ihnen angebotene, umfangreiche Manuskript von James Joyces’ „Ulysses“ können die Woolfs nicht veröffentlichen, weil sie die dafür notwendige größere Druckerei nicht finden.

Im Zentrum der Erinnerungen Leonards steht die Künstlerschaft und die Krankheit seiner Ehefrau. Seit jungen Jahren leidet sie an schubweise auftauchenden Depressionen, die ihr Leben bestimmen. Leonard erzählt von den intensiven Arbeitszeiten, in denen ihre wunderbaren, nicht immer leicht sich erschließenden, aber mit literarischer Genialität geschaffenen Romane entstehen. Während der Niederschrift des Manuskriptes von „Jakobs Zimmer“ schreibt sie 1920 über ihren „neuen“ Stil: „Kein Gerüst, man wird kaum einen Baustein sehen, alles bleibt im Zwielicht, aber das Herz, die Leidenschaft, die Stimmung, das alles leuchtet wie Feuer im Nebel.“

Die Monate der totalen schöpferischen Verausgabung aber wechseln mit Zeiten schwerer Zusammenbrüche, die zu Wahnvorstellungen, Nahrungs- und Schlafverweigerung führen. Immer wieder die Angst vor dem geistigen Zusammenbruch, immer wieder das Leugnen ihrer Krankheit, immer wieder die Stimmen aus dem Nichts, immer wieder Krankenschwestern und Ärzte, die sie vor dem letzten Schritt behüten sollen. Aber die Psychoanalyse steckt trotz der bahnbrechenden Schriften des Dr. Freud aus der Wiener Berggasse noch in den Kinderschuhen.

Wenn Virginia Woolf arbeitet, gerät sie an die Grenzen ihrer Kraft. Jeder Text erlebt vor der Veröffentlichung mehrere vollständige Fassungen, auf Kritik reagiert sie mit dramatischen Abwehrgesten. In Phasen der Ruhe ist sie dagegen lebenszugewandt. „Sie hatte nicht nur Freude an der Gesellschaft, dem Kaleidoskop von Menschen, den Gesprächen, der Erregung von Partys, sie war ebenso durch und durch Schriftstellerin, dass sie alles als Rohmaterial ihres Handwerks ansah.“

Sie ist nicht zu retten. „Ich fühle deutlich, dass ich wieder verrückt werde“, schreibt sie am 28. März 1941 in ihrem bewegend verzweifelten Abschiedsbrief. Dann entschwindet sie im Dunkel des Flusses Ouse. Wenige Tage vorher hat Virginia Woolf ihren letzten Roman vollendet, „Zwischen den Akten“. Neue schriftstellerische Pläne sind schon angedacht. Der verzweifelte Todeswunsch ist stärker. „Unbesiegt und unnachgiebig will ich mich Dir entgegenwerfen, o Tod.“

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