Ann Napolitano – Hallo, du Schöne - Rezensöhnchen
Ann Napolitano – Hallo, du Schöne
Ann Napolitano – Hallo, du Schöne

Ann Napolitano – Hallo, du Schöne

Von Liebe und Zerfall

CW: Alkoholkonsum, Angststörung, Depression, emotionale Vernachlässigung, Homophobie, Krebserkrankung, negatives Körperbild, Suizidversuch, Tod, Trauer, Trauma, Verlust

„Die ersten sechs Tage seines Lebens war William Waters kein Einzelkind.“ Williams Schwester verstirbt kurz nach seiner Geburt, was für den Jungen den Beginn einer schmerzlichen Kindheit markiert. Seine Eltern vernachlässigen ihn völlig, doch auch abseits seiner dysfunktionalen Familie führt William ein Leben in Einsamkeit. Nur beim Basketballspielen fühlt er sich zugehörig, was sich ein Stück weit ändert, als Julia Padavano sich in ihn verliebt. Mit seiner ersten Liebe treten Julias drei Schwestern und ihre Eltern in sein Leben, wodurch er erstmals familiären Zusammenhalt kennenlernt. Doch als das Leben für jede*n von ihnen anders verläuft, als sie es erwartet hatten, drohen die Familienbande schon bald zu zerreißen.

Der Lektüre von Ann Napolitanos Roman Hallo, du Schöne – ins Deutsche übersetzt von Werner Löcher-Lawrence – eilen hohe Erwartungen voraus: von Oprah und Barack Obama empfohlen, von vielen Leser*innen bereits ins Herz geschlossen – und das zurecht. Die Handlung, die William und die Padavano-Familie von den 1960er- bis in die 2000er-Jahre begleitet und immer wieder Bezug auf Alcotts Little Women nimmt, entwickelt von Beginn an einen regelrechten Sog. So vorbestimmt und ähnlich ihre Lebenswege zunächst zu sein scheinen, folgen die Figuren ihnen in ganz unterschiedliche Richtungen und agieren dabei mal bewusst kalkuliert, mal Hals über Kopf und mal nur mit großem Widerwillen.

„Sie versuchten, voneinander wegzukommen, und waren zum Scheitern verurteilt“

Zwar bietet die multiperspektivisch aufgebaute Erzählung die Möglichkeit, Einblicke in die Gefühlswelten der Handelnden zu erhalten, jedoch bleiben die unterschiedlichen Charaktere stets bis zu einem gewissen Grad undurchsichtig. Liest man ein paar der kritischeren Rezensionen, sorgt dieser Aspekt bei manchen Leser*innen dafür, dass sie sich den Figuren nicht nahe genug fühlen, um die Geschichte weiterverfolgen zu wollen. Doch für mich persönlich war genau dies eine große Stärke des Werks. Gerade weil die Protagonist*innen nicht immer klaren Linien folgen, ihre Überzeugungen teils über Bord werfen, man ihre Beweggründe nicht immer nachvollziehen oder gar gutheißen kann und wohl keine*r der Charaktere stets das Richtige tut, entwickelt der Plot eine solch mitreißende Tiefe.

„Und alle am Tisch […] spürten die Schönheit der Liebe – und ihren Preis“

Napolitano legt mit Hallo, du Schöne einen großen amerikanischen Familienroman vor, der einer wahren Achterbahnfahrt gleicht und von unbändiger Freude bis hin zu furchtbar traurigen und tragischen Momenten wohl das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen befährt. Wie eindrücklich sie dabei von unerfüllten Hoffnungen, sich ändernden Lebenswegen und der großen Frage, wer wir sein wollen, erzählt, bleibt im Gedächtnis und ist unbedingt lesenswert.

von Alicia Fuchs

Ann Napolitano
Hallo, du Schöne
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
DuMont 2024
520 Seiten
25,00 Euro

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