Taking Sides - Der Fall Furtwängler: Packendes Justizdrama und psychologisches Porträt des Dirigenten Wilhelm Furtwängler.
Nach seiner bisweilen überambitionierten Generationensaga „Sunshine - Ein Hauch von Sonnenschein“ wendet sich István Szabó wieder dem Thema zu, das ihn bereits in Filmen wie „Mephisto“ und „Hanussen“ beschäftigte: die Verführbarkeit der Kunst von Macht, exemplarisch dargestellt an kulturellen Größen, die sich vor oder während den Tagen des Dritten Reichs mit den Nationalsozialisten arrangierten. Basierend auf dem Theaterstück von Ronald Harwood ist „Taking Sides“, Szabós erster Film ,der nicht nach eigenem Drehbuch entstand, gleichzeitig packendes Justizdrama und psychologisches Porträt, in dessen Mittelpunkt der kontrovers diskutierte Fall des Dirigenten Wilhelm Furtwängler steht - ein aufwühlender, emotional und intellektuell stimulierender Film, der all die richtigen Fragen stellt - und sich Antworten verweigert.
„Taking Sides“, also Stellung beziehen, sich auf eine Seite stellen, das muss in Szabós Film vor allem das Publikum. Der Regisseur - in einer Hollywood-Produktion dieser Größe mittlerweile eigentlich unvorstellbar - bleibt neutral. Jeder der Beteiligten darf in seiner zurückhaltenden, aber ungemein präzisen und nicht zuletzt daher auch sehr eindringlichen Inszenierung seine Argumente präsentieren, so gut er kann. Da ist Wilhelm Furtwängler, der alternde Stardirigent, der auf dem Standpunkt beharrt, dass Kunst und Politik nichts miteinander zu tun haben. Dennoch hat er sich unter der Protektion der Nazi-Oberen erlaubt, sein Orchester mit vor der Deportation bedrohten Juden zu bestücken oder Goebbels den Hitlergruß zu verweigern. Gezielt trat er bestenfalls an Vorabenden wichtiger Ereignisse auf und nicht bei den Festakten selbst. Dem Amerikaner Major Steve Arnold, ein aus Texas stammender Versicherungsvertreter, der Furtwängler den Prozess machen soll, sind diese Gesten stiller Opposition nicht genug. Er hält sie für Schutzbehauptungen eines Opportunisten, der nicht an Widerstand interessiert war, sondern die Augen verschloss vor den Verbrechen der Nazis und damit einen Pakt mit dem Teufel einging. Wie die Ansichten und Philosophien dieser beiden Kontrahenten in langen Szenen aufeinanderprallen und erbittert um Oberwasser kämpfen, das ist das Kernstück der bestechenden Fallstudie. Dass die Verteidigung des müden und sensiblen Furtwänglers der moralischen Überlegenheit und Selbstgerechtigkeit des texanischen Cowboys nicht standhalten kann, wird schnell klar, zumal dieser selbst auch nicht vor brutalen Mitteln zurückschreckt: Alle Mittel sind erlaubt, wenn es um die gerechte Sache geht. Wie Furtwängler schließlich an seiner Eitelkeit zerbricht und als Häuflein Elend zurückbleibt, ist von Stellan Skarsgard mit erschütternder Feinfühligkeit gespielt. Wenn „Taking Sides“ eine Schwäche hat, dann ist es Harvey Keitels Darstellung von Furtwänglers Nemesis: Stets muss er ein Abziehbild bleiben, als müsste sich Furtwängler nicht gegen eine Figur aus Fleisch und Blut verteidigen, sondern gegen ganz Amerika. Also ist Steves Lachen immer zu laut, sind seine Bewegungen immer zu aufdringlich, ist sein Habitus immer bigger than life. Das gestattet spannende Lesarten und beschert dem ohnehin komplexen Stoff weitere subtile Schichten, aber das Duell der beiden Protagonisten leidet ein wenig. Zum Glück führt Szabó noch weitere Figuren ein, einen hohen russischen Offizier (den es im Theaterstück nicht gab) und zwei junge Deutsche, die den Verhören beiwohnen: David (gewohnt gut: Moritz Bleibtreu), der mit seiner jüdischen Familie in die USA ausgewandert war und nun ins Nachkriegsdeutschland zurückkehrt, und Emmi (Entdeckung aus Österreich: Birgit Minichmayr), Steves Sekretärin, deren Vater an einem Attentat gegen Hitler beteiligt war und posthum als Held gefeiert wird. Ihre Beteiligung ist bedeutend, untermauern sie doch, dass es keine einfachen Antworten auf die unzähligen validen Fragen Szabos gibt. Dass sie von der Perspektive und den eigenen Interessen abhängig sind und diese sich wiederum stets aus den eigenen Erfahrungen speisen. Obwohl nicht auf Effekt hin inszeniert, hat „Taking Sides“ zahlreiche erinnerungswürdige Szenen. Teils, weil Ken Adams Produktionsdesign gewohnt bestechend ist, aber vor allem, weil Szabó den Zuschauer in die Pflicht nimmt: Er präsentiert die verschiedenen Ansichten, so gut er kann. Aber die Auseinandersetzung muss jeder selbst bewältigen, und gerade das macht diesen manchmal theaterhaften Diskurs über Verantwortung, Schuld und Aufgabe von Kunst und Kultur alles andere als staubtrocken, sondern aufregend, quicklebendig und sogar modern. ts.