Thilo Sarrazin: „Fortschritt hängt von dem ab, was die Klügsten leisten“

Thilo Sarrazin: „Fortschritt hängt von dem ab, was die Klügsten leisten“

Der frühere Berliner Finanzsenator und umstrittene Sachbuchautor im Gespräch mit der Berliner Zeitung über Eliten, Islam und Intelligenz. 

Er sagt, er würde in die SPD von heute nicht mehr eintreten: Thilo Sarrazin.
Er sagt, er würde in die SPD von heute nicht mehr eintreten: Thilo Sarrazin.Emmanuele Contini

Thilo Sarrazin empfängt die Berliner Zeitung zum Interview in seiner Wohnung im Westen der Stadt. Auf dem Tisch liegt ein Buch zur englischen Geschichte der Katastrophen, das er zur Zeit liest. Um die Seite zu markieren, auf der sich gerade befindet, hat er sie an der oberen Ecke umgeknickt. Thilo Sarrazin und Eselsohren, das passt gar nicht so richtig zusammen. Die englische Geschichte will er vielleicht in einem neuen Buch verwenden, über das er aber noch nicht sprechen will. Über sein aktuelles dafür umso lieber. 

Sie haben Ihr neues Buch zusammen mit Uwe Tellkamp vorgestellt, der dabei sehr vehement mit der Politik abgerechnet hat, um es zurückhaltend auszudrücken. Ist er nicht einer der Feinde der Vernunft, wie Sie sie in Ihrem Buch beschreiben?

Er hat einen bestimmten Vernunftbegriff. In seinen Büchern können Sie das wunderbar sehen. In „Der Turm“ sind die Protagonisten teilweise Systemfeinde, teilweise Systemfreunde und in der Mehrheit Opportunisten, die irgendwie so durchkommen. Er zeigt darin sehr schön, wie in der DDR die Notwendigkeit zur taktischen Anpassung bis hin zur Lüge das eigene Leben bestimmte und verformte. Wie am Ende die ganze Gesellschaft leidet. In seinem aktuellen Buch „Der Schlaf in den Uhren“ zeigt er, wie auch in einer Demokratie der Opportunismus und der Mangel an Wahrhaftigkeit jede Gesellschaft vergiften können. Ich finde, das hat er sehr gut herausgearbeitet, ohne dass man jetzt jeder einzelnen seiner Analysen folgen muss.

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Emmanuele Contini
Thilo Sarrazin
ist – was die Auflagenzahlen betrifft – der erfolgreichste deutsche Sachbuchautor der letzten Jahrzehnte. Er ist allerdings auch einer der umstrittensten. Seine Bücher „Deutschland schafft sich ab“ und „Feindliche Übernahme“ haben wegen ihrer Thesen zur Einwanderung für viel Empörung gesorgt. Der Vorwurf: Sarrazin argumentiere fremden- und islamfeindlich. Letztlich hat dies auch zu seinem Ausschluss aus der SPD im Jahr 2019 geführt. Sarrazin wirft seinen Kritikern vor, nicht fair mit ihm zu diskutieren. 

Was ist Vernunft für Sie?

Vernunft ist das Bemühen, sich mit den Mitteln der eigenen Erkenntnis und Hilfsmitteln wie Büchern, dem eigenen Nachdenken und Kommunizieren einem Thema bestmöglich zu nähern. Die Vernunft hat nicht automatisch ein bestimmtes Ergebnis. Wenn Sie einen anderen Ausgangspunkt haben, einen anderen Lebensort, dann können Sie bei demselben Sachverhalt zu ganz anderen Resultaten kommen. Da wir aber alle in derselben Gesellschaft zusammenleben, müssen wir uns am Ende irgendwie einigen. Und wir einigen uns am besten, wenn wir alle versuchen, möglichst faktenorientiert vorzugehen. Und wenn wir gleichzeitig auch die Legitimität ganz anderer Standpunkte erkennen und inhaltlich akzeptieren. Und das geht in unserer Gesellschaft unter.

Wie meinen Sie das?

Um ein Beispiel zu nennen: Als Angela Merkel sagte, dass mein Buch „Deutschland schafft sich ab“ nicht hilfreich sei, sagte sie eigentlich etwas anderes. Sie sagte, Sarrazins Standort ist seiner Natur nach illegitim und ist für mich näherer Betrachtung nicht wert. Und damit hat sie den Dialog abgelehnt. Und was das bedeutet, wenn man zum Thema Integration und Einwanderung und auch Islam den Dialog ablehnt, sehen wir aktuell in Schweden. Dort haben die Rechten jetzt mehr als 20 Prozent der Stimmen und werden wahrscheinlich in der nächsten Regierung ein wesentliches Wort mitreden. Ich werfe niemandem seine Meinungen vor, sondern die Art, wie ein Gespräch verweigert wird.

Könnte es nicht auch daran liegen, dass Sie sich mit den Muslimen und dem Islamismus einseitig auf eine Gruppe versteifen?

In meinem Buch „Feindliche Übernahme“ unterscheide ich klar zwischen den Aussagen des Korans und dem, was die Mehrheit der Muslime glaubt, und dem politischen Islam, dem Islamismus, der die eigentliche Gefahr ist. Und da bin ich keineswegs allein. Bundesinnenministerin Faeser hat jüngst die Expertenkommission Politischer Islamismus aufgelöst.

Das kritisieren Sie natürlich?

Das kritisieren auch so unverdächtige Experten wie die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter oder der Soziologe Ruud Koopmans, die ich auch alle in meinen Büchern zitiere. Seyran Ates twitterte vor zwei Tagen, dass das Ergebnis der Wahl in Schweden auch die Folge dessen sei, dass bei uns diese Gefahren im öffentlichen Diskurs unterdrückt werden. Ich will mich in diesem Punkt aber gar nicht verkämpfen. In meinem neuen Buch kommt das Thema Islam natürlich immer wieder vor, so wie auch andere Quellen von Ideologie vorkommen, zum Beispiel Sozialismus, Kommunismus, Postkolonialismus und unterschiedliche religiöse Strömungen, die ins Fundamentalistische abgleiten wie die Evangelikalen. Jede Religion, die sich selbst absolut setzt, läuft Gefahr, zu einer politischen Ideologie zu werden.

Thilo Sarrazin im Interview mit der Berliner Zeitung.
Thilo Sarrazin im Interview mit der Berliner Zeitung.Emmanuele Contini

Sie haben eine Frage bei der Buchvorstellung nicht beantwortet. Eine Kollegin fragte, wie man sich selbst als ideologiefrei bezeichnen kann. Kann man das denn?

Die Frage war ein bisschen aggressiv gestellt. Ich hatte mir, während die Kollegin redete, schon die Antwort zurechtgelegt. Dann kam mir aber Uwe Tellkamp zuvor und hat sie mit schwerstem moralischem und verbalem Artilleriefeuer belegt. Und da habe ich gedacht, ich würde mir jetzt hier im Saal Sympathie verscherzen, würde ich noch eine Salve hinterherschicken.

Wollen Sie jetzt?

Denken geht immer von einem subjektiven Standpunkt aus, aber erst durch das Anlegen geistiger Scheuklappen gleitet es ab in Ideologie. Ich habe deswegen in dem Buch meinen persönlichen intellektuellen Werdegang beschrieben. Neben dem, was einem mitgegeben wurde, spielt ja auch die Familie eine große Rolle, der Ort, wo man aufwächst und auch die Zeit, in der man aufwächst. Ich bin als Nachkriegskind einer aus dem Osten vertriebenen Familie im zerstörten Ruhrgebiet aufgewachsen. Das hat mich geprägt und teilweise auch meinen Ausblick auf die Welt. Viele sagen ja, bei Sarrazin spielt immer der Leistungsgedanke eine Rolle.

Wie erklären Sie das?

Wir kamen ja aus dem Nichts. Wo wir wohnten, waren 1951, als wir dorthin zogen, 90 Prozent aller Häuser zerstört. Als wir dort aber vier Jahre später wegzogen, war die Straße im Wesentlichen aufgebaut. Wir zogen in ein Haus, das meine Eltern gebaut hatten, mit günstigen Krediten. Ich weiß eben, was es heißt, wenn die Menschen zupacken und wenn man etwas leistet, wenn man stolz darauf ist. Wie das in vieler Hinsicht hilft, nicht nur nicht nur materiell, sondern eben auch moralisch und vom Selbstbewusstsein her. Auch in der heutigen Welt hängt vieles daran, was die Leute leisten können.

Kritisieren Sie deshalb vor allem das Berliner Bildungswesen immer wieder so scharf?

Ein Bildungssystem, in dem nach amtlichen Ermittlungen bis zu 70 Prozent der Schüler im achten Schuljahr nicht die Mindeststandards erreichen, ist kritikwürdig. Aber die Vernunft gebietet natürlich, dass ein System bezahlbar bleiben muss. Berlin kann ja nicht nur für die Bildung sein Geld ausgeben. Die Vernunft gebietet, dass man die Lehrer gut ausbildet und ausreichend attraktiv bezahlt. Die Vernunft gebietet, dass man Kindern, welche schlicht und ergreifend langsamer sind als andere, auch den Raum gibt für diese Langsamkeit.

Was heißt das konkret?

Die Vernunft gebietet in gewissem Umfang auch getrennte Bildungswege, weil man nicht allen Beteiligten gerecht werden kann. Das sind alles Dinge, die man unterschiedlich kombinieren kann. Unvernünftig wäre es, wenn ich sage, es gibt nur fünf Prozent wirkliche Begabungen in der Gesellschaft, also dürfen auch nur fünf Prozent aufs Gymnasium. Unvernünftig ist alles, was ideologisch verengt. Unvernünftig ist aber auch ein Bild, wie man es ja in Berlin mit der Einheitsschule propagiert hatte, dass alle Kinder vom geistig behinderten bis zum Überflieger jeden Tag zusammen unterrichtet werden. Es gehört auch zur Vernunft, dass man sich um die richtige Erkenntnis bemüht und gleichzeitig dabei die Möglichkeit des eigenen Irrtums immer im Hinterkopf hat.

Was war denn Ihr letzter großer Irrtum?

Einen Irrtum teile ich sicherlich mit den meisten Deutschen. Ich hätte bis zum 24. Februar nicht gedacht, dass Russland einen Krieg anfangen würde. Das war ein großer Fehler. Ein anderer Fehler ist, dass ich immer wieder voll Optimismus in Diskussionen gehe und sage, wenn man jetzt richtig darüber redet, müsste doch jeder kapieren, wo das Problem ist. Und dann stoße ich auf eine gesellschaftliche Debattenlage, wo die eine Hälfte nicht zuhört und die andere Hälfte nicht verstehen will, selbst wenn sie es könnte – weil es ihr nicht in den Kram passt. So wie es gerade unser sonst sehr sympathischer Wirtschaftsminister praktiziert.

Er sagt, er sei streitbar. Seine Gegner sagen, er sei unbelehrbar: Thilo Sarrazin.
Er sagt, er sei streitbar. Seine Gegner sagen, er sei unbelehrbar: Thilo Sarrazin.Emmanuele Contini

Das müssen Sie erklären.

Wir verlangen von Frankreich, dass es uns notfalls in der Dunkelflaute im Januar mit Atomstrom aushilft. Das ist der Kern von europäischer Solidarität. Aber unsere drei Kernkraftwerke stellen wir natürlich ab, denn deren Atomstrom hat ja mit dem Mangel nichts zu tun. Und da sehen Sie, wie eine Mischung aus Ideologie, Opportunismus und verfehltem Gruppendenken auch einen sonst ganz vernünftigen Menschen wie unseren gegenwärtigen Wirtschaftsminister ins Eck manövrieren kann. Ich kann da nur hoffen, dass er aus der Ecke wieder rauskommt.

Sie sagen, jeder müsste begreifen, wo das Problem liegt und dass man dann darüber reden kann. Aber ist es nicht einfach auch so, dass nicht jeder das Problem da sieht, wo Sie es sehen? Etwa, wenn Sie das Phänomen des Whiteshift beschreiben, also dass Weiße lieber unter Weißen leben und überhaupt die Leute lieber unter sich bleiben. Das würden viele rundheraus bestreiten. Warum sollten sie es also als ihr Problem ansehen?

Der Begriff Whiteshift stammt aus dem gleichnamigen Buch des von mir zitierten kanadischen Politikwissenschaftlers und Migrationsforschers Eric Kaufmann. Er schreibt von der Gesellschaft in Kanada, in den USA und in England, nicht von uns. Er stellt fest, dass ein großer Teil der unterschiedlichen Ethnien am liebsten unter seinesgleichen lebt. Und er setzt sich mit der Zukunft einer ethnisch gemischten Gesellschaft auseinander. Mit den sozialen Spannungen, die sich daraus ergeben. Das heißt, wenn man über Einwanderung und über Demografie redet, muss man darüber reden: Wer wandert ein? In welchen Zahlen wandern die ein? Und wie passt das am Ende der kulturell zusammen?

Was immer wieder echte Aggressionen hervorruft, ist, dass Sie schreiben, Intelligenz sei vor allem erblich. Im neuen Buch ist die Rede davon, sie sei es zu 50 Prozent. Sind Sie zu neuen Einsichten gelangt?

Ich berichte in dem Buch über den aktuellen Stand der DNA-Forschung. Da wird der Anteil dessen, was im individuellen Persönlichkeitsprofil bei unterschiedlichen Eigenschaften, auch der Intelligenz, genetisch determiniert ist, fortlaufend erhöht. Ich war für meine Aussagen 2010, die den damaligen Stand der Wissenschaft reflektierten, scharf angegriffen worden. Aber die Forschung identifiziert seitdem immer mehr Gene, die über Eigenschaften bestimmen.

Trotzdem ist die Intelligenz nach aktuellem Forschungsstand in gleichem Maße umweltabhängig wie erblich.

Wie ich schon sagte, gewinnt die DNA-Forschung fortlaufend neue Erkenntnisse, die den Einfluss der Gene weiter erhöhen. Gesellschaftspolitisch ist entscheidend: Man muss die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptieren, auch in ihren unterschiedlichen intellektuellen Gaben, und man muss die vorhandenen Gaben maximal fördern. Denn wovon hängt unser gesellschaftlicher Fortschritt ab? Unser gesellschaftlicher Fortschritt hängt von dem ab, was die Klügsten leisten. Und darum muss man die Bedingungen schaffen, dass die Klügsten möglichst viel leisten können. Das ist der Fortschritt.

Ist das nicht ein Fortschritt, bei dem nicht alle mithalten können?

Nein. Der Lebensstandard der breiten Schichten, die sich ja um solche Dinge gar nicht kümmern müssen, hängt ja davon ab, dass die Klügsten die Erfindungen machen, an deren Früchten dann alle in der Breite partizipieren können. Die Gesellschaft lebt davon, dass man das so organisiert, dass sie das können. Niemand muss ein Smartphone in der Tiefe verstehen, um es richtig zu nutzen. Es geht am Ende in der gesellschaftlichen Debatte immer um eine Balance. Natürlich muss die Gesellschaft dafür sorgen, dass alle ihre Chancen, so wie wir sie von Geburt an haben, optimal nutzen können.

Die SPD ist zu einer Partei geworden, in der nicht mehr offen diskutiert wird

Thilo Sarrazin

Wie sieht das dann für die aus, die keine guten Startchancen haben?

Da muss man die gesellschaftlichen Bedingungen so schaffen, damit auch sie die Chancen nutzen können. Aber dann muss ich die Menschen auch laufen lassen, damit sie ihr jeweiliges Leistungspotenzial auch wirklich voll ausschöpfen können. Und da haben weite Teile unserer Gesellschaft eine eingebaute Ladehemmung. Die wollen nämlich in der Tendenz mehr Gleichheit, was immer ein positives Ziel ist. Aber dadurch werden häufig die Anforderungen gesenkt, was fatal für den Fortschritt ist.

Ist ihr Buch auch ein bisschen an die SPD gerichtet, die Partei, in der Sie so lange Mitglied waren und die Sie dann ausgeschlossen hat?

Die SPD ist zu einer Partei geworden, in der nicht mehr offen diskutiert wird. Sie sehen das ja im Augenblick an der völlig verqueren Haltung gegenüber den Waffenlieferungen an die Ukraine. Frieden schaffen ohne Waffen – man glaubte, dass da die Zukunft liegt. Wenn man sich in diesem Standpunkt ideologisch ausreichend tief eingegraben hat, dann geht die Wirklichkeit so lange an einem vorbei, bis man aus diesem Loch selber nicht wieder herauskommt.

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass es bei den größten Extravaganzen, die sich die menschliche Zivilisation leistet, immer wieder die Rückkehr zur Normalität gibt. Was ist denn Normalität?

Ich weiß gar nicht, wo ich das geschrieben habe, aber das war ein sehr guter Gedanke.