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Panorama Erfahrungsbericht

Mein Leben für die Sekte Scientology

Scientology erneut vom Verfassungsschutz beobachtet Scientology erneut vom Verfassungsschutz beobachtet
Die Scientology-Zentrale in Berlin
Quelle: DPA
Jeannette Schweitzer war drei Jahre in der Psycho-Sekte. Das hat sie bis an den Rand des Selbstmordes gebracht. Ein Bericht aus dem Inneren der Organisation. Über Straflager, Manipulation und die ständige Angst davor, etwas Falsche zu sagen.

Jeannette Schweitzer ist eine Ausnahme. Eigentlich reden Menschen wie sie nämlich nicht. Eigentlich sind Menschen wie sie eingeschüchtert, wollen vergessen, haben Angst. Bei Jeannette Schweitzer ist das anders, sie redet.

Schweitzer war von 1989 bis 1992 Scientologin. Dann stieg sie aus. Heute ist sie eine anerkannte Expertin für die Sekte, die sich selbst als Kirche sieht und in Berlin gerade eine Hauptstadtrepräsentanz eröffnet hat. Wenn Schweitzer über Scientology spricht, zwingt sie sich zur Sachlichkeit. Das hilft. Man könnte die Kühle in ihrer Stimme, die Härte als Gefühlskälte deuten. Doch so ist es nicht. Die Distanz macht es ihr nur leichter.

Das "Rehabilitationsprojekt"

Jeannette Schweitzer berichtet von anonymen Anrufen: „Das Wasser wird sich mit deinem Blut mischen, wenn du über Scientology sprichst.“ Natürlich hat auch sie Angst. Aber sie redet dennoch. Über gefährliche Psychotechniken, über innere Zwänge und die englische Scientology-Zentrale Saint Hill – jenen Ort, den Kritiker der Sekte als Straflager bezeichnen.

Bis heute leben dort die scientologischen Hardliner, die sogenannte Sea-Org. Laut Sabine Weber, der Vizepräsidentin von Scientology Deutschland, ist Saint Hill eine Lehreinrichtung, die Kurse für Scientologen anbietet. Sie bestätigt, dass es dort auch ein „Rehabilitationsprojekt“ für Sea-Org-Mitglieder gibt, die die Richtlinien von Scientology verletzt haben. Das könne Gartenarbeit sein, sagt Weber. Schweitzer beschreibt es anders:

„Die Sträflinge der Sea-Org leisten stundenlang harte körperliche Arbeit. Ich sah, wie sie Gräben ausschaufelten – schweigend, zwölf Stunden am Tag. Abends mussten sie noch fünf Stunden Bücher von Scientology-Gründer L. Ron Hubbard studieren. Die Sträflinge tragen mausgraue Overalls, sie gelten als wertlos. Am Arm haben sie ein Band, an dessen Farbe der Strafzustand abzulesen ist. Diejenigen, die ein graues Band tragen, darf man nicht anschauen oder gar ansprechen. Man soll nicht einmal an sie denken. Ein gelbes Bändchen heißt: weniger kritisch gegenüber Scientology, mehr Pausen bei der Strafarbeit.“

"Ich fühlte mich sofort wohl"

Seit über zehn Jahren berät Jeannette Schweitzer nun Polizisten, Lehrer, Sektenbeauftragte und Politiker. Sie gilt als Expertin. Ihr Wissen um Hintergründe, Strukturen und Ziele der Organisation ist für die staatlichen Stellen von unschätzbarem Wert. Jeannette Schweitzer kam 1989 zu Scientology. Damals arbeitete sie im Management einer saarländischen Baufirma. Sie buchte ein Scientology-Seminar für Führungskräfte, das ihr eine Bekannte empfohlen hatte.

„Die Leute waren sehr nett, ohne Vorbehalte. Ich fühlte mich sofort wohl. Skeptisch wurde ich jedoch bei einer Übung, bei der ich einer Teilnehmerin regungslos in die Augen schauen musste. Ich sah keinen Sinn darin. Doch alle anderen Teilnehmer – darunter Manager bekannter Unternehmen – waren offenbar begeistert. Da schluckte ich meine Kritik hinunter. Was ich erst viel später erfuhr: Die meisten waren längst Scientologen und besuchten das Seminar nur mit dem Ziel, für gute Stimmung zu sorgen. Später riefen sie mich immer wieder an, bis wir uns zu einem Aufbaukurs verabredeten. Ich buchte Seminare, besuchte die regelmäßigen Treffen, gehörte dazu. Ich habe sogar Kollegen, Bekannte und Freunde zu Scientology gebracht.“

„Mach Geld, mach mehr Geld"

In den 80er-Jahren konnten nur wenige Menschen etwas mit Scientology anfangen. Für viele war das nur ein wissenschaftlich klingender Name. Auch für Jeannette Schweitzer. Sie gab ihren alten Arbeitsplatz auf und wechselte in eine Stahl8baufirma, die zu „Wise“ gehörte, dem Verband scientologisch geführter Unternehmen.

„Mach Geld, mach mehr Geld, mach, dass andere mehr Geld machen“, lautet ein Gebot des Scientologygründers L. Ron Hubbard. Die Stahlbaufirma setzte alles daran, um dem Anspruch gerecht zu werden. Viele Angestellte arbeiteten jeden Tag 18 Stunden. Doch die Geschäftszahlen stagnierten. Der Firmenchef beschäftigte illegale Arbeiter, um den Gewinn zu erhöhen.

Der schwere Fehler

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Da beging Schweitzer aus Sicht ihres damaligen Scientology-Chefs einen schweren Fehler: Sie weigerte sich, Schwarzgelder zu verbuchen. Am nächsten Morgen fand sie einen Zettel auf ihrem Schreibtisch: „Kommen Sie sofort nach Saint Hill“, stand darauf. Sie dachte, es ginge um die illegalen Geschäfte in der Firma.

„Ich wurde in eine Zelle gesteckt, eineinhalb Meter lang, genauso breit. Ein Tisch stand drin und ein Stuhl. Ich musste aufschreiben, was sich in der Firma zugetragen hatte. Damit ging ich zu einem der Dutzend Offiziere in marineblauer Uniform. Er sollte den Bericht unterschreiben, dann wäre die Sache beendet gewesen. Aber er tat es nicht. Ich erkannte keine Fehler, fragte nach, bekam keine Antwort, schrieb wieder und wieder auf, was passiert war, stundenlang.

Von allen Offizieren musste ich mir eine Unterschrift holen, doch ich bekam diese Absolution nicht. Im Gegenteil: Mir wurde gesagt, ich müsse ‚meine Ethik in Ordnung bringen‘. Das hieß nichts anderes als Strafe: bis in die Nacht Hubbard-Bücher lesen, Werbebriefe falten. Einmal sollte ich 10.000 Mark für eine Wagenladung russischsprachiger Scientology-Bücher von meinem Ersparten bezahlen. Ich tat es. Nachts durfte ich oft nicht mehr als vier Stunden schlafen, am nächsten Tag die gleiche Prozedur.

Ich war übermüdet, verzweifelt, machtlos. Manchmal war ich nur übers Wochenende in Saint Hill, manchmal länger. Jeden Tag wurde es schlimmer. Und nicht nur für mich. Ich habe dort bekannte Manager kennengelernt, Architekten, Künstler, Immobilienmakler, Ingenieure. Ich habe Männer auf Knien betteln gesehen. Sie haben um Absolution gefleht, geweint wie Kinder. Keiner von ihnen kann mir heute in die Augen sehen. “

Wie ein Sportverein?

Jeannette Schweitzer war nicht hinter Gittern. Sie hätte abreisen, sich verweigern oder einfach nicht mehr wiederkommen können. Doch sie tat es nicht – weil sie es nicht konnte, wie sie heute sagt. Es fällt ihr schwer, über diese Zeit zu reden. Sie schafft es nur, indem sie sich zur Sachlichkeit zwingt. Immer noch spricht sie nicht lange von ihrer Zeit bei Scientology. Eine Stunde oder zwei, dann braucht sie eine Pause.

Sabine Weber von Scientology sagt, dass man bei ihnen ein- und austreten könne wie in einen Sportverein. Hans-Werner Carlhoff, Scientology-Experte des Landes Baden-Württemberg, entgegnet: „Wer länger Mitglied ist, kann nicht einfach wieder gehen. Dafür ist der psychische Druck viel zu groß.“

600 Mark und das "E-Meter"

Für Jeannette Schweitzer war der Druck besonders in den „Auditings“ groß. Das sind Einzelgespräche mit einem ranghöheren Scientologen, der mit einer Art Lügendetektor arbeitet, dem „E-Meter“. Rund 600 Mark zahlte Jeannette Schweitzer für jede Stunde. Die Auditoren sind darauf gedrillt, alles aus einem Menschen rauszuholen. Ihr starrer Blick, ihr monotones Fragen versetzten mich in eine Art hypnotischen Zustand. Ich wurde gefragt, mit wie vielen Männern ich geschlafen habe, ob ich jemals gestohlen oder abgetrieben habe, als Kind geschlagen oder missbraucht wurde – und ich antwortete wahrheitsgemäß. Nach jedem Auditing blieb ein Gefühl von Schuld und Versagen, das wieder ein neues Auditing forderte. Ein Teufelskreis.“

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Der Druck wuchs. Jeannette Schweitzer ließ sich stundenlang von einem anderen Scientologen demütigen. „Du Schwein, du wertloses Biest“, schrie er. Sie durfte nicht reagieren, nicht wegschauen.

„So begann ich meine Gefühle zu ignorieren, nicht mehr zu widersprechen – bis man mich schließlich zu Strafmaßnahmen nach Saint Hill schicken konnte, und ich es noch selbst zahlte.“

160.000 Mark innerhalb kurzer Zeit

Innerhalb von eineinhalb Jahren zahlte Jeannette Schweitzer 160.000 Mark an Scientology. Sie opferte ihr Erspartes, nahm einen Kredit auf. Irgendwann hatte sie selbst das Gefühl, nichts mehr wert zu sein. Sie brach zusammen, wollte sich umbringen. Hans-Werner Carlhoff sagt, dass es etliche Menschen gebe, denen es ähnlich ergangen sei.

Der kanadische Soziologieprofessor Stephen Kent hat die Erfahrungen von Scientology-Aussteigern aus aller Welt gesammelt. In einem amerikanischen Lager sollen widerborstige Scientologen unter Wüstenbedingungen stundenlang um einen Baum oder Pfahl haben laufen müssen. Zudem soll es so wenig zu essen gegeben haben, dass Sträflinge sehr anfällig für Krankheiten wurden.

"Ich erhielt Morddrohungen"

Schweitzer selbst spricht nicht über die Erfahrungen anderer Scientology-Aussteiger. Sie bleibt bei dem, was sie selbst erlebt hat. Sie hat gelernt, ihre Gefühle im Griff zu haben, weil sie darauf achten muss, nichts Falsches zu sagen, nicht zu übertreiben. Auch, wenn sie von ihrem Ausstieg spricht.

„Ich war körperlich am Ende, wollte eigentlich nur ein paar Tage Ruhe bei meinen Eltern. Und die haben das Beste getan, was sie hätten tun können. Sie haben zugehört, wenn ich reden wollte, fragten nicht nach, machten mir keine Vorwürfe.

Nach und nach begriff ich, wo ich hineingeraten war – bis ich schließlich alle Kontakte zu Scientology abbrach. Aber dann ging der Terror erst los. Ich erhielt anonyme Morddrohungen und gehe davon aus, dass es Scientologen waren. Jedenfalls waren sie es, die meine Nachbarn anriefen und ihnen erzählten, was sie mir in meinen Seelenbeichten abgezwungen hatten. Ich fühlte mich nackt und leer.“

"Lebensqualität, die ich an die Sekte verloren hatte"

Immer wieder würden Scientologen versuchen, mit fragwürdigen Methoden, ihre Kritiker mundtot zu machen, sagt Scientology-Experte Hans-Werner Carlhoff. Er hat es selbst erlebt. „Scientologen verleumden mich beispielsweise öffentlich, ein Menschenrechtsverletzer zu sein. Auch Journalisten, die über Scientology schreiben, werden von der Organisation massiv kritisiert und der Unfähigkeit bezichtigt.“ Jeannette Schweitzer fand schließlich trotzdem in ein normales Leben zurück.

„Ich lernte zu meiner Geschichte zu stehen – auch zu meinen Schwächen, zu meiner Zeit bei Scientology. Nur so fand ich innere Ruhe und habe nicht mehr der Zeit, dem Geld und der Lebensqualität nachgetrauert, die ich an die Sekte verloren hatte.“

Globalisierung einer Sekte

1993 gründete Jeannette Schweitzer die Organisation Vitem, die Scientology-Mitgliedern hilft, aus der Sekte auszusteigen. Mehreren Hundert Scientologen konnte sie seither helfen, auch denen, die sie selbst geworben hat. Weil sie weiß, wie Scientology mit seinen Mitgliedern umgeht, sieht sie die neue Offensive der Psychosekte mit wachsender Sorge. Seit Kurzem beobachtet auch der Berliner Verfassungsschutz die Gemeinschaft wieder.

„Bei vielen Menschen hat die öffentliche Aufklärung zwar bereits gefruchtet. Doch längst nicht bei allen. Es gibt immer noch zu viele, die auf Scientology reinfallen.“

In München sucht Scientology zurzeit ein großes Grundstück für ihre neue Bayern-Zentrale. Neue Scientology-Zentren

eröffneten jüngst in London, Madrid und Brüssel. In vielen deutschen Städten machen Mitglieder aktiver denn je Werbung in eigener Sache. Bundesweit verschicken sie Propagandabroschüren und DVDs an Schulleiter und Lehrer, um Einfluss auf den Unterricht zu nehmen. In Berlin sorgt derzeit der Schauspieler und Scientologe Tom Cruise, der in einem Kinofilm den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg spielen soll, für Debatten. Dagegen hat sich unter anderen Stauffenbergs Sohn ausgesprochen.

Kontakt zu Vitem, Verein für die Interessen terrorisierter Mitmenschen: 06894/87.04.52

Epos über den Scientology-Gründer - „The Master“

Der vielfach ausgezeichnete Regisseur P.T. Anderson meldet sich zurück. In „The Master“ verführt Philip Seymour Hoffman als Scientology-ähnlicher Sektengründer den Kriegsheimkehrer Joaquin Phoenix.

Quelle: Senator Filmverleih

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