Köln gab sich von seiner jovialen Seite: Eine Blaskapelle schmetterte, die Bundesbahn-Station Deutz vis-à-vis vom Hauptbahnhof auf dem anderen Rheinufer war mit Fahnen geschmückt, Schaulustige klatschten Beifall und Reden wurden geschwungen. Nur Armando Rodrigues de Sá aus der kleinen portugiesischen Stadt Vale de Madeiros wusste nicht so recht, wie ihm geschah.
Nach der fast drei Tage langen Zugfahrt aus seiner Heimat in die Bundesrepublik stand der 38-jährige Vater von zwei Kindern (elf und 15 Jahre) unrasiert, blass und verlegen auf dem Bahnsteig. Etwas misstrauisch blickte er in die vielen Kameras und drehte er seinen breitkrempigen Hut in den Händen.
Am Donnerstag, dem 10. September 1964, waren mit zwei Sonderzügen 1106 meist junge Männer in Deutz eingelaufen, 933 aus Spanien und 173 aus Portugal, wie Armando Rodrigues de Sá. Zu ihrem Empfang gaben sich neben jeder Menge (meist mittlerer) Prominenz aus der rheinischen Wirtschaft auch Vertreter der Botschaften beider Länder in Bonn die Ehre. Denn just mit diesem Transport sollte der einmillionste angeworbene „Gastarbeiter“ ins Wirtschaftswunderland ankommen – so zumindest die offizielle Berechnung.
Per Los war während der Fahrt der Zimmermann aus Portugal als derjenige ausgewählt worden, der symbolisch geehrt werden würde. Doch als auf dem Bahnsteig plötzlich sein Name per Lautsprecher ausgerufen wurde, schwante Rodrigues de Sá zunächst nichts Gutes; jedenfalls versteckte er sich erst einmal. Schließlich wurde er von Bekannten nach vorn geschubst. Mit unbewegtem Gesicht nahm er die Ehrungen entgegen.
Dabei lohnte sich das durchaus: Er bekam ein zweisitziges Moped der Marke Zündapp, Modell „Sport Combinette“, das die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände als Begrüßungsgeschenk gestiftet hatte, dazu eine Ehrenurkunde und zwei Nelkensträuße. Mit dem wertvollen Präsent allerdings konnte Armando wenig anfangen, besaß er doch nicht einmal einen Führerschein. Heute steht das Moped in der Dauerausstellung im Haus der Geschichte.
Der wirtschaftliche Aufschwung in der Bundesrepublik seit Beginn der 1950er-Jahre hatte schon Mitte desselben Jahrzehnts zu absehbarem Arbeitskräftemangel geführt. Hinzu kam die bevorstehende Gründung der Bundeswehr, die zehntausende deutsche Männer dem normalen Arbeitsmarkt entziehen würde. Und gleichzeitig erreichten aus Italien Vorschläge die Bundespolitik, ob nicht Arbeitsmigranten willkommen seien – Ziel war es, die eigene Arbeitslosigkeit zu reduzieren.
In der Bundesrepublik lag die entsprechende Quote 1955 zwar noch bei 5,6 Prozent, sank aber schnell – auf 4,4 Prozent 1956 und 3,7 Prozent 1957. Werte um zwei Prozent bedeuteten in der Praxis Vollbeschäftigung, weniger stand für Arbeitskräftemangel.
Angesichts solcher Entwicklungen schloss die Bundesrepublik Ende 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien, das zuvor bereits entsprechende Verträge mit den Benelux-Ländern, der Schweiz und Großbritannien vereinbart hatte. In der Bevölkerung stieß das Vorhaben von Beginn an auf Ablehnung: Das Institut für Demoskopie in Allensbach ermittelte repräsentativ, dass sich 55 Prozent der Westdeutschen gegen Arbeitsmigranten aus Italien (damals schon dem liebsten Urlaubsziel jener Bundesbürger, die sich einen Auslandsaufenthalt leisten konnten) aussprachen, nur 26 Prozent „dafür“ oder „unter Umständen dafür“.
Doch die brummende Wirtschaft brauchte Arbeitskräfte. Deshalb folgten im März 1960 Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland, Ende Oktober 1961 mit der Türkei, anschließend mit Marokko, Portugal, Tunesien und schließlich 1968 mit Jugoslawien.
Die Regeln waren strikt: In jedem Fall handelte es sich um Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse auf Zeit, die ausdrücklich nicht eine Integration der „Gastarbeiter“ zielte. Wer seinen Arbeitsplatz verlor und nicht binnen kurzem eine neue Anstellung fand, musste ausreisen. Die Arbeit war oft körperlich hart oder schmutzig, zudem gemessen am westdeutschen Gehaltsgefüge schlecht bezahlt.
Armando Rodrigues de Sá hatte damit kein Problem. Er gehörte zu den ersten Portugiesen, die sich bewarben – gegen den Willen seiner Ehefrau übrigens. Er arbeitete 1964 bis 1970 in verschiedenen Baufirmen in Württemberg in seinem angestammten Beruf als Zimmermann; meist reiste er in den Wintermonaten, in denen kaum Bauarbeiten stattfanden, zurück in die Heimat. 1970 verlor er wegen unerlaubter Verlängerung seines Urlaubs seinen Arbeitsplatz, fand aber schnell (trotz beginnender Rezession) einen neuen Job.
Schon im kommenden Jahr musste er für einige Behördengänge nach Portugal reisen. Dort bekam er gesundheitliche Probleme und löste seinen Arbeitsvertrag auf; später stellte sich heraus, dass er an Magenkrebs litt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass er sich das bei seiner Arbeit als Zimmermann zugezogen hatte, auch wenn anlässlich einer Ausstellung der Bundeskunsthalle in Bonn 2023 das Gegenteil behauptet wurde.
In Deutschland wäre er krankenversichert gewesen, was ihm aber wohl nicht klar war. So blieb Rodrigues de Sá in der Heimat und ließ sich seine Rentenansprüche auszahlen, um Medikamente zu kaufen. Nach längerer Qual starb er 1979 im Alter von nur 53 Jahren.
Da war das Kapitel „Gastarbeiter“ schon einige Jahre lang offiziell erledigt. Die sozialliberale Bundesregierung hatte angesichts rasant ansteigender Arbeitslosigkeit Ende November 1973 einen offiziellen Anwerbestopp erlassen. Allerdings war das nicht wirklich durchdacht: Für viele der zu dieser Zeit 2,6 Millionen in der Bundesrepublik lebenden „Gastarbeiter“ bedeutete die Neuregelung, dass sie nur entweder dauerhaft in die Heimat zurückkehren – oder dauerhaft in Deutschland bleiben konnten. Damit setzte ein starker Familiennachzug, der auf dem Arbeitsmarkt und in der nun notwendigen Integration neue Probleme schuf.
Deutscher Bundestag und Haus der Geschichte bitten alle, die persönliche Erinnerungsstücke zum Parlamentarismus in Deutschland besitzen, diese zu fotografieren und ihre eigene Geschichte dazu zu erzählen. Details finden sich im Aufruf: Ihr Parlament. Ihre Erinnerungen.