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Deutschland Flucht aus dem Amt

Horst ... Warum? Seit einem Jahr schweigt Köhler

Horst ... Wer? Als er zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, war Horst Köhler den meisten unbekannt. Sein verstörender Rücktritt heute vor einem Jahr hinterließ viele Fragezeichen.

Der klassizistische Langhans-Saal des Schlosses Bellevue präsentiert sich in behaglich warmem Licht. Zwei Gestecke weißer Rosen schmücken den Raum. Vor der Fensterfront zum Park ist die Standarte des Bundespräsidenten aufgestellt, zudem ein Rednerpult.

Davor, durch eine rote Kordel abgeschirmt, tummeln sich Reporter, Fotografen und Kameraleute auf drei Podien. Viele von ihnen haben den Raum schon oft betreten, stets lädt der Bundespräsident auch hier zum Neujahrsempfang.

Es ist Punkt 14 Uhr am 31. Mai 2010, heute vor einem Jahr, als sich die hintere weiße Flügeltür vom Salon Luise zum Saal hin öffnet. Horst und Eva Luise Köhler schreiten Hand in Hand und ernsten Blickes zum Rednerpult. Beide sind dunkel gekleidet, sie lächeln nicht. Nach ihrem schüchternen Winken, das die Köhlers während der sechs Jahre an der Spitze des Staates in ihr Repertoire übernommen haben, ist ihnen nicht zumute.

Gerade einmal drei Minuten lang zeigt sich das Präsidentenpaar an jenem 31. Mai 2010. Die Länge und die Bedeutung jenes Auftritts, sie passen so gar nicht zusammen.

„Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten – mit sofortiger Wirkung“ , sagt Horst Köhler nach nur wenigen Sekunden.

Während seines knappen Statements blickt er immer wieder auf. Köhler wirkt unsicher. Mit kargen zwölf Worten, mit trauriger Miene abgelesen von einer Karteikarte, verkündet er seinen Rücktritt. In diesem Moment verliert Deutschland sein Staatsoberhaupt. So etwas hat es noch nicht gegeben. Ein Hauch von Staatskrise liegt in der Luft.

Die Frage nach dem Warum

Ein Jahr später aber liegt dieser Rücktritt schon „gefühlt“ viel länger zurück. Die Amtszeit Köhler und ihr plötzliches Ende sind gewissermaßen Zeitgeschichte. Nicht nur, weil Nachfolger Christian Wulff inzwischen im Schloss Bellevue angekommen ist – und von Köhler kaum noch etwas zu hören ist.

Was aber bloß trieb Horst Köhler an diesem 31. Mai 2010? Als gewissenhaft galt er bis dato, als zuverlässig, ein wenig bieder, strebsam und ehrgeizig, nicht zuletzt darauf bedacht, die ansehnlichen Früchte seines erfolgreichen Lebens zu mehren und zu pflegen.

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Nun also ein Horst Köhler, der das noble, höchste Amt im Staate mehr wegschmeißt als niederlegt – und dies, wo er doch unter Eid geschworen hatte, er werde seine Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden“.

Nicht einmal ein Jahr vor dem Rücktritt hatte er unter Anrufung Gottes sein Versprechen erneuert, „meine Pflichten gewissenhaft zu erfüllen“. Bis heute lässt Köhler das Volk im Ungewissen. Die Gründe seines Rücktritts behandelt er als Privatangelegenheit.

In keiner öffentlichen Rede, in keiner Ansprache, in keinem Brief hat er sich dazu geäußert. Seit seinem Abgang ist kein Interview mit Köhler erschienen.

Das ausschlaggebende Interview

Ein Radiointerview war es , das indirekt in den Rücktritt mündete. Im Deutschlandfunk hatte der Bundespräsident auf seiner Rückreise von einem Kurzbesuch in Afghanistan einen ziemlich verunglückten Satz geäußert. Er ließ sich verkürzen auf die krude These, die Bundeswehr sei auch dafür da, deutsche Handelsinteressen zu wahren.

Die Opposition drosch verbal auf Köhler ein, die Regierung gewährte wenig Rückendeckung. Mehrfach erschienen kritische Artikel, gipfelnd in einem „Spiegel“-Text, der überschrieben war mit den bösen Worten: „Horst Lübke“. Über diese Anspielung auf den (zuletzt) glücklosen Präsidenten Heinrich Lübke dürfte sich der recht dünnhäutige Köhler ziemlich geärgert haben. Womöglich im Affekt, mit hoher Wahrscheinlichkeit von seiner Ehefrau unterstützt, entschied sich Köhler zum Rücktritt.

Kein Mitarbeiter, auch nicht der Außenminister oder die Kanzlerin konnten ihn von diesem Schritt abhalten. „Meine Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 22. Mai dieses Jahres sind auf heftige Kritik gestoßen“, leitete Köhler seine Rücktrittserklärung ein. „Ich bedauere, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation wichtigen und schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten. Die Kritik geht aber so weit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären. Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen.“

Rückzug ins Privatleben

Einige Dinge haben sich durch den Rücktritt für Köhler nicht geändert: Protokollgemäß ist es üblich, auch ehemalige deutsche Staatsoberhäupter als „Herr Bundespräsident“ anzureden. Köhler steht lebenslang ein volles Gehalt („Ehrensold“) von 199.000 Euro im Jahr zu, außerdem ein Dienstwagen, Mitarbeiter und Personenschützer.

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Ansonsten aber hat sich der Alltag für Horst und Eva Luise Köhler radikal verändert. Die Zeit der Rund-um-die-Uhr-Termine, die Köhler schon als Staatssekretär, Sparkassenpräsident und Chef des Internationalen Währungsfonds begleiteten, sind passé.

Die Köhlers haben ihre Dienstvilla in Berlin-Dahlem verloren und zogen in eine Eigentumswohnung unweit des Kurfürstendamms. Das Büro in Bellevue tauschte Köhler gegen ein Arbeitszimmer in der Friedrichstraße. Nur noch selten ließ sich Köhler seit dem 31. Mai 2010 in der Öffentlichkeit blicken.

Mitte Juni – der Nachfolger war noch nicht gewählt, die Aufgaben des Präsidenten übernahm damals Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen – wurde Köhler mit einem Großen Zapfenstreich im Park des Schlosses Bellevue verabschiedet.

Vor den Mitarbeitern des Präsidialamtes hielt er eine knappe Ansprache, zu den Gründen des Rückzuges aber schwieg er, sagte nur: „Ich habe die Entscheidung getroffen, die ich für richtig hielt und weiter für richtig halte.“ Das Gegenteil, hier halböffentlich geäußert, hätte sich nach der politischen Bankrotterklärung zuvor wohl als zusätzliche Katastrophe erwiesen.

Sportlich und still

Nur einen Monat nach seinem Rücktritt bewies Köhler aber Durchhaltevermögen: Er absolvierte das goldene Sportabzeichen, hier legte er die 3000 Meter in 16 Minuten und vier Sekunden zurück. Auch bei den Schwimmstrecken blieb der 67-Jährige im Freibad des Berliner Olympiaparks weit unter den Zeiten seiner Altersklasse.

Sportlich interessiert zeigte er sich auch während einer Reise nach Bayern. Kaum war das Konzert in der Basilika in Ottobeuren beendet, erkundigte sich der Altbundespräsident nach dem Stand des Fußball-WM-Spiels Deutschland gegen England.

Als Reporter ihn auf seinen Rücktritt ansprachen, blieb er wortkarg, sagte aber, er sei mit sich „im Reinen“. Und er fügte hinzu, es sei wichtig, die „Kluft zwischen den Bürgern und der Politik“ zu schließen. Das klingt ähnlich wie seine zuweilen politikverdrossenen Einlassungen in seiner Amtszeit – was seiner Reputation in der politischen Klasse durchaus geschadet hatte.

Nach seinem Rücktritt wanderte Köhler mit dem Ehepaar Waigel, seit Staatssekretärs-Tagen enge Freunde, er verbrachte einen Urlaub auf Norderney – und besuchte im September 2010 seinen Nachfolger im Schloss Bellevue. Christian Wulff hatte den Präsidenten von Malawi zu Gast; Afrikas Zukunft ist Horst Köhler seit jeher ein Anliegen.

Zurück zu den Wurzeln

In seiner Eigenschaft als Präsident der G 20 berief Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy Köhler schließlich im Herbst 2010 als Berater für Finanz- und Währungsfragen. Köhler, so ist zu vernehmen, legt indes Wert darauf, Sarkozy nicht ad personam zu beraten. Zurück zu den eigenen Wurzeln kehrte der Schwabe Köhler, als er im Januar eine Vorlesung an der Universität Tübingen hielt, wo er einst studierte und promoviert worden war.

Der Altbundespräsident sprach über die Finanzkrise und das Währungssystem, über die ihm bestens vertrauten Themen also. Die Zuhörer waren angetan. Erst jüngst besuchte Köhler seinen (heute polnischen) Geburtsort Skierbieszów. Dort begegnete er einer alten Dame, die ihm als Kind nach einem Sturz das Leben gerettet hatte.

„Ich habe meine Entscheidung nie bereut“, sagte der inzwischen 68-Jährige dann kürzlich. Über die Gründe des Rückzugs aus der Politik schweigt er weiter. Vielleicht weiß Horst Köhler selbst nicht, warum er am Mittag des 31. Mai 2010 zurückgetreten ist.

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